Es kann nicht immer Butter sein

32 Cent kostet 1kg Mehl, das Päckchen Zucker liegt bei 69 Cent. 99 Cent sind übrig. Würde es für einen kleinen Guglhupf reichen?
Es war reiner Zufall, dass sie auf ihrem täglichen Morgenspaziergang die 8 Pfandflaschen gefunden hatte. Nie verließ sie ohne ihren alten, lädierten Trolley die Wohnung. Die langen Gummihandschuhe, die sie beim Pfandsammeln überzog, ließen sich darin gut verbergen. Eine Pfandbeute ebenfalls.
Ihr Arzt hatte ihr schon Monate zuvor Krankengymnastik für die Hüftarthrose verschrieben. Die Zuzahlungen hierzu konnte sie sich nicht leisten. Also nahm sie seinen Rat an und schmierte ihre Knochen durch tägliche Morgenspaziergänge, wann immer sie sich ohne zu große Schmerzen bewegen konnte.
99 Cent:
Zu wenig für 250g Butter. In einen Guglhupf gehörte Butter. Nein, es ging nicht. Sie benötigte, wenn sie sich dieses Jahr einen Kuchen außer der Reihe gönnen wollte, noch Eier. Zu gerne würde sie welche von glücklichen Hühnern kaufen. Es ging nicht.
Zaudernd stand sie weiterhin vor dem Kühlregal.
Ein Pfund Pflanzenmargarine: Dafür würde es reichen.
Zwei lose Eier dazu, die sie mit etwas Milch strecken würde: Ja, so würde es gehen. Vanillinzucker würde ihr ein Nachbar borgen müssen, ein kleiner, alter Rest Backpulver würde schon genügen. Wenn sie den Guglhupf gut aufbewahren würde und einige Scheiben in dem kleinen Gefrierfach einfrieren würde, hätte sie im Januar auch noch etwas von dem Kuchen.
Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann es begonnen hatte. Als ihr Mann noch lebte konnten sie, trotz seiner kleinen Rente, Lebensmittel kaufen wenn sie sie benötigten. Auch gab es regelmäßig sonntags einen Braten oder zu Weihnachten eine kleine Nordmanntanne. Kleidung und Schuhe konnten erneuert werden. Einmal im Jahr gingen sie ins Theater. Selten ins Kino.
Vor 5 Jahren verstarb er an seiner Staublunge, die ihn seit dem 30. Lebensjahr plagte und dazu führte, dass er bereits mit 41 Jahren in Rente gehen musste.
Der Übergang zu der jetzigen Situation kam schleichend. Die Miete stieg stark von Jahr zu Jahr an. Die Heizkosten ebenfalls. Ihre jungen Nachbarn, die vor einigen Jahren als Studenten nebenan eingezogen waren, sprachen von „Gentrifizierung“. Was immer es bedeuten mochte, es hörte sich nicht gut an.
Sie packte die Einkäufe in ihren Trolley und lief langsam nach Hause zu ihrer kalten Wohnung. Nicht nur Lebensmittel waren in der letzten Zeit knapp gewesen, auch an der Heizung sparte sie. Die Kosten konnte sie kaum noch aufbringen. So heizte sie meist nur die Küche ein wenig, zog sich dicke Pullover an und ließ häufig das Licht aus. Radio konnte sie auch im Dunklen hören. An kalten Tagen schaltete sie gelegentlich den Kühlschrank aus und lagerte die wenigen Lebensmittel auf dem kalten Balkon.
Heiligabend:
In der kleinen Küche duftete es nach Kuchen. Der Guglhupf stand auf einer schönen Kuchenplatte, der Tisch war mit einer Spitzendecke gedeckt und die Heizung hatte sie zur Feier des Tages für einige Stunden weit aufgedreht. So saß sie in einem Kleid, welches ihr Mann ihr vor vielen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, auf der Eckbank in der Küche. Die Nachbarn borgten ihr gestern nicht nur ein Päckchen Vanillinzucker, sondern legten noch ein paar frische Tannenzweige und eine dicke rote Stumpfkerze dazu. Nun roch es in der Küche nach Weihnachten und Kuchen. Heimelig.
Im Radio lauschte sie, wie in jedem Jahr, dem Weihnachtsoratorium von Bach. Es würde ein langer Abend werden, den sie sehr genießen würde.
Bei „Ehre sei Dir, Gott gesungen“ legte sie den noch geschlossenen Brief der Hausverwaltung, der gestern per Einwurfeinschreiben in ihrem Briefkasten lag, unter die Tischdecke.