Das pralle Leben
Titten, Titten, Titten war das letzte was der Weihnachtsmann laut vor sich hinmurmelte, bevor er im Kamin stecken blieb. Dass ihm dies ausgerec hnet an seinem 40. Dienstjubiläum bei „Chez Susi“ passieren würde, brachte seinen ganzen Dienstplan durcheinander. Ach, die Susi. Der zweite Teil des „Chez Susi“ hatte einfach ein zu köstliches Buffet aufgebaut. Seit 1981 betrieb sie ihren Swinger Club, dessen Namensgebung bereits in den 80er Jahren von schlechtem Geschmack zeugte und im Jahr 2021 Assoziationen an Hairstylistinnen und Mantafahrerinnen weckte.
An der Einrichtung hatte sie in all´ den Jahren nicht gespart. Nach jedem Besuch einer Sexmesse oder speziellen Einrichtungshäusern fanden sich neue Gegenstände in den Räumlichkeiten wieder. In ihrem geerbten 1200m² Domizil gab es neben den großen Liegewiesen und den vielen Betten auch spezielle Zimmer. Der erste Blick in eines dieser ließ den Weihnachtsmann damals etwas erröten. Viel erröten. Als er danach auf dem Schlitten Platz nahm, vermuteten die Rentiere, dass sein rotes Gesicht der Hektik des heiligen Abends in 1991 geschuldet war. Damals fand er es schade, sich mit ihnen nicht darüber austauschen zu können. Dank dem WWW, welches bei ihm nur zwischen Weihnachten und Sylvester zu nutzen war, konnte er nun die Kreuze, die Ketten, Peitschen und Nadeln zuordnen. Die verschiedenen Sybian Maschinen entlockten ihm inzwischen nur noch ein müdes Lächeln. Grinsen musste er, wenn er das Quietschen des großen Bauernbettes in der Bauernstube hörte. Zwischen rotkarierter Bettwäsche räkelten und bewegten sich immer ausreichend Körper beider Geschlechter. Es schien seit Jahrzehnten eines der beliebtesten Zimmer zu sein. Irgendwie rechnete der Weihnachtsmann bei seinen Terminen im Club, dass Susi ein Zimmer stylisch in eine Scheune umwandeln würde und er wildes treiben im Heu beobachten könnte, während Jürgen Drews aus den Lautsprechern dröhnen würde.
Der Zeitplan des Weihnachtsmanns war schon immer eng getaktet. Er kannte es kaum anders als: Rauf auf den Schlitten, runter vom Schlitten, Weihnachtsgeschenke schleppen, zurück zum Schlitten zu hecheln und die Rentiere zu Geschwindigkeitsübertretungen zu überreden. Mit „Work Life Balance“ hatte der Heiligabend schon lange nichts mehr zu tun. Manchmal versuchten die Rentiere ihn ein wenig zu entschleunigen und sangen laut „Last Christmas“. Den CD Spieler und die Lautsprecher hatte er bereits in den 90ern konfisziert, so dass nun ihre schrägen Stimmen den Song schmettern. Es hörte sich so gruselig an, so dass er meist laut lachen musste, um dann mit seinem Bariton einzustimmen.
Diese enge Taktung führte dazu, dass er sich eigentlich im Club nicht umschauen konnte. Oder umschauen sollte. Doch konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Beim Buffet blieb er immer hängen. Während er dem aktuellen Golden Retriever 2kg frisch Faschiertes in den Napf legte, machte sich bereits Vorfreude in seinem Bauch bemerkbar. Die Susi war eine Köchin der alten Schule. So sehr sie darauf achtete, den Club zeitgemäß einzurichten, sich selber optisch immer auf dem neuesten Stand brachte oder an hohen Feiertagen die nackig spielende Coverband „The Dreamboys and Dreamgirls“ zu buchen, so blieb sie ihrem Buffetstil seit der Eröffnung treu. Während die Dreamboys und Dreamgirls inzwischen mit den Zeichen der Zeit zu kämpfen hatten, wie Körperteile, die sich der Erdanziehungskraft hingeben mussten oder Körperhaare, die jedem Färbemittel trotzten oder Falten, die sich trotz teurer Hyaluronbehandlungen immer tiefer in die Haut gruben und sogar Botox an ihnen verzweifelte, so sah Susis Mettigel an jedem Heiligabend gleich aus. Es gab Dinge, die würden sich nie ändern. Nie würde sie auf einen Golden Retriever an ihrer Seite verzichten, nie würde sie ihr Gebot „Never fuck in the same company“ brechen, nie würde es neumodischen Schnickschnack auf ihrem Buffet geben. Und solange sie einen Hund an ihrer Seite hatte, würde der Weihnachtsmann diesem 2kg Faschiertes als Geschenk vorbeibringen. Und nie würde er vergessen sich das Buffet anzuschauen. Wenn es doch nur beim Anschauen bleiben würde. Ganz unbewusst legte er seine Tour so, dass er immer dann bei „Chez Susi“ aufschlug, nachdem sie gerade die Speisen aufgebaut hatte und bevor die ersten Gäste eintrudelten. Meterweise Köstlichkeiten gab es zu sehen: Mettigel in großer Auswahl, Tomaten-Mozarella-Spieße mit Basilikum, Spargelstangen aus dem Glas mit Kochschinken umwickelt und in Mayonnaise ertrinkend, Schichtsalat, Käse-Lauch-Suppe, Käsespieße. Soleier, Frikadellen, Krabbencocktail, Eiersalat, Russisch Ei, Vanillepudding und Rote Grütze.
Das liebevoll gestaltete Buffet anzuschauen, zu riechen und nicht davon zu naschen, schafft nur ein Masochist auf Diät. Diäten verpönte der Weihnachtsmann und ein Masochist war er auch nicht. Ausnahme: Der Gesang der Rentiere.
Während Susi die letzte Runde mit ihrem Golden Retriever absolvierte, nahm sich der Weihnachtsmann einen Teller und füllte ihn mit Köstlichkeient. Vorsichtig darauf bedacht, keine Spuren und leere Stellen auf den Platten zu hinterlassen. Die langsam gerinnende Mayonnaise im Eiersalat ignorierte er. Die Haut auf dem Vanillepudding ebenfalls. Voller Genuss verputzte er die Schlemmereien. Fast vergaß er die Zeit und sein Sättigungsgefühl. Die ersten Gäste trafen ein und er musste sich sputen, um nicht gesehen zu werden. Schnell stellte er seinen Teller mit dem Besteck unter das Bauernbett, rannte zum Kamin und stieg von dort nach oben. Denkste. Sein Aufstieg geriet ins Stocken. „Verdammte Laktoseintoleranz“ fluchte er in seinen Bart. Zu viel Vanillepudding, zu viel Mozarella, zu viele Käsespieße verursachten ihm ein unangenehmes Völlegefühl und einen exorbitanten Blähbauch, der ihn nun zwischen den Wänden des Schornsteins fixierte. Sarkastisch dachte er daran, dass er keine Ketten benötigte, um nicht von der Stelle zu kommen.
Wann würde er heute den Schornstein passieren können? Wie könnte er es beschleunigen, seine Luft so schnell wie möglich aus seinem Bauch zu bekommen?
Oh, heute musste er eine Erschwerniszulage beim Chef beantragen. Die Playlist stockte und WHAM sang zum vierten Mal in Folge über Last Christmas. Gut, dass die Rentiere es nicht hören konnten.
Berieselt von Weihnachtsmusik versuchte er anhand seines Verzehrs auszurechnen, wie viele Pupse er noch ablassen müsste, um die Luft in seinem Bauch deutlich zu verringern. Parallel spielten sich vor seinen Augen die Szenen ab, die er heute ungewollt in den verschiedenen Zimmern zu sehen bekam. Körper über Körper. Unmengen an original verpackten Kondomen lagen in den Ecken und Schalen herum, daneben leere Mülleimer ohne benutzte Kondome als Inhalt, kein vorzeigen des gelben Heftleins am Eingang und vögelnde Menschen als gäbe es kein Morgen mehr.
Heute konnte er ihnen noch fröhliche Weihnachten wünschen. An Sylvester würde er einigen von ihnen fröhliches sterben wünschen müssen.
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