Weihnachtsgeschichte 2024: Und der Mond schaut zu

Es war erst ein paar Stunden her, da saß Wilhelm noch auf seinem Lieblingsplatz: Auf der Theke neben der Kasse im Tante-Emma-Laden von Oma Gertrud. Neben dem Adventskranz, der inzwischen die meisten Nadeln verloren hatte. Dort hatte er noch der Frau Mayer, mit „ay“ ein Kompliment zu ihren frisch ondulierten Haaren gemacht. Ein Kompliment, welches sie nach jedem Friseurbesuch von ihm zu hören bekam. Ihn freute es, dass sie sich darüber freute. Ihn erfreute auch die darauffolgende Tüte mit Süßkram: „Gertrud, pack dem Jungen für 50 Pfennig Süßkram in die Tüte.“
Er mochte diese Routine.
Die Wangen mit Bonbons vollgestopft, verabschiedete er eine andere Kundin: „Tschüss, Frau Erkelenz.“
„Junge, das heißt „Auf Wiedersehen“. Tschüss sacht man nicht.“
„Oma, die Marta sagt aber immer tschüss.“
„Seit wann nennst Du Fräulein Busche Marta?“
„Oma, sie hat gesagt, ich bin jetzt groß genug, um sie Marta zu nennen. Und zum nächsten Tanzabend wird sie mich mitnehmen.“
„Junge, Du kannst doch nicht einmal tanzen. Und überhaupt, was willst Du denn anziehen?“
„Dein schönes Unterkleid oder Opas Anzug.“
Als sich Oma Berta kopfschüttelnd umdrehte, dabei murmelte: „Woher kennt der Junge mein Unterkleid?“, wechselte Wilhelm das Thema.
„Oma, soll ich noch eine Flasche Eierlikör für nachher mitnehmen?“
„Wenn eine reicht? Wenn nicht, musst Du nachher noch mal rüber laufen.“

Jetzt saß er im Lieblingssessel von Opa Albert. Die Kerzen am Weihnachtsbaum wackelten, da Oma Gertrud mit ihrem Albert zu ihrem Lieblingslied tanzte.
Sie hielt es wie die Holländer. Keine einzige Gardine hing in den Fenstern, so dass Nachbar Anton und der Mond ihre sicheren Tanzschritte sehen und vermutlich ihren Gesang hören konnten.
Trug sie hinter der Kasse in ihrem Tante-Emma-Laden immer einen geblümten Kittel, dazu ihre neuen bequemen Birkenstock Schuhe, die sie am liebsten nicht mehr ausziehen wollte, so hatte sie sich nun in Schale geschmissen. Die Pantoffeln gegen Spangenschuhe mit einer schicken Schleife vorne getauscht und ein wunderschönes, schwingendes rot gepunktetes Kleid angezogen. Es fehlte nur noch der kleine Hut, den sie sonst auf Beerdigungen trug, den Wilhelm allerliebst fand. Damit sah sie aus wie eine Prinzessin. Eine ältere Prinzessin.
Wie es mit der üblichen Schiesser Feinripp Unterhose aussah, konnte nur vermutet werden.
Noch war ihr Gesang nicht so schräg, dass der Mond sich hätte riesige Kopfhörer aufsetzen wollen.

Feierschichten, Rußlungen, rußgefärbte Häuser, der Smog oder die Forderung Willy Brandts, der den Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau haben wollte: All das war für den Moment vergessen, wenn Oma Gertrud in Opa Alberts Arm zum Mond von Wanne-Eickel tanzte und dem Plattenspieler schwindelig wurde, vom wieder und wieder aufsetzen der Nadel auf die Platte.

Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai (hmmm).
Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.

Diese Zeilen sang Oma Gertrud immer wieder mit. Hörte man genau zu, konnte man leises Fernweh erahnen? Wünschte sie sich manchmal weit weg von ihrem Tante-Emma-Laden, der ihr ein und alles war und dennoch einzwängte?

Wilhelm suchte die gute Flasche Eierlikör raus, nach diesem Sport würde Oma ein Likörchen brauchen. Oder auch zwei. Wenn es drei wurden, bot sie ihm meist das dritte Pinnchen zum Ausschlecken an.
Für Opa Albert holte er die Flasche Asbach aus dem Wohnzimmerschrank. Er kannte den Opa gut. Um in den Genuss einer Tanzpause, oder Hörpause, zu kommen, würde er nicht nein zu einem Gläschen sagen.

Inzwischen war es dunkel. Zeit Schnittchen für die gleich eintreffende Sippe zu machen. Doch ein Tanz musste noch sein.

Der Mond von, ja von wo, schaute zu. Sowie die Nachbarn.

Heiligabend 2024:
Getrud Becker
1905 – 1986
steht auf dem Grabstein

„Prost, Oma Gertrud.“

Wilhelm, der inzwischen auch Opa ist, stellt ein Glas Eierlikör auf ihrem Grabstein ab, während er seins auf Ex leert.

Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai (hmmm).
Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.

Ich kenn’ die ganze Welt von Rio bis Port Said,
ich war zu Gast im Zelt beim Ölscheich von Kuwait.
Ich kenn’ die Cote d’Azur, die Rosen von Athen,
Mallorca, wo am Kai Germanen Schlange steh’n.

Und jeder staunt ganz ungemein,
doch ich sag’ nein, nein, nein, nein, nein – ich sage nein!

Nichts ist so schön….

Frau Adelgunde Schmidt, die schwärmte jedes Jahr,
wenn sie aus Spanien kam, wie schön der Mondschein war.
Denn sie hat nachts am Strand bei Vollmond noch entdeckt,
dass jeder Kuss direkt nach Tarragona schmeckt.

Und jeder staunt ganz ungemein,
doch ich sag’ nein, nein, nein, nein, nein – ich sage nein!

Nichts ist so schön….

„Read what I see“: Früh am Sonntag im Café

„Die Maschine iss kaputt. Deshalb können wir das nich machen. Deshalb hat die Maschine unten auch noch das Loch drinne.“
„Sie wollen mir damit sagen, dass Sie mir heute keinen frisch gepressten Orangensaft machen können?“
„Genau, die Maschine iss kaputt.“
„Von Hand pressen?“
„Des kenn ich nich.“
Ich muss den Blick nicht heben, um altbekannte Gesichter im Café hinter der Kuchentheke und als Gast im Café zu sehen. Menschen, die ich bereits hier beschrieb. http://schreiben-von-innen.de/read-what-i-see-sonntagmorgen/ 
„Des kenn ich nich“ kommt aus dem Mund der Mitarbeiterin, der ich weiterhin unterstelle ihre Arbeitskraft besser als Magd auf einem Bauernhof einzusetzen. Nur nicht im direkten Kundenkontakt. Bei uns im Dorf hätte man sie früher als Trampel bezeichnet.
„Weisse, ich mach´ das hier nur nebenbei,“ klärt sie den Auszubildenden auf. „Die Woche unter schaff´ ich auf dem Rathaus.“ Meine Fantasie reicht nicht aus, um sie mir als Mitarbeiterin einer Behörde vorzustellen. Oder doch? Hat sie Kundenkontakt und jeder zweite Satz, den sie ausspricht lautet: „Von den gelben Säcken gibbet aber nur einen.“

Peng, peng. Was ist das? Erschrocken fahre ich aus meinem gemütlichen Sessel hoch. Kein Pistolenschuss, sondern ein großer Besen, der von der besagten Mitarbeiterin durch die hintere Backstube geführt wird. Anscheinend sieht sie ihre Aufgabe darin jede Ecke und jede Kante mit dem Besenstiel zu schlagen? Zu erschlagen? Peng, peng geht es weiter. Nicht nur ihr Stimmorgan ist sehr laut, auch die Besenführung. Mit dem Besen fegt sie hinter der Kuchentheke weiter und ich befürchte schon, dass die ersten Scheiben in der Theke zerbersten. Peng, peng, peng.
Ich habe mich meinem Buch gewidmet und werde abgelenkt.
„Brötchen warm kann ich nich belegen,“ höre ich. „Nich, dass die Wurst schlecht wird.“
Ich schaue auf.
„Dann nehme ich halt eines mit Salami,“ kommt es aus Richtung eines jungen Mannes.
„Ach, das gehet ja. Salami wird auf der Pizza ja auch immer warm und man wird davon nicht krank.“
Der Kunde, ein vom Fußball spielen einkehrender junger Mann, schaut mich an, verdreht die Augen und kann sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Mir ergeht es ebenso.
Ich trinke meine zweite Latte, als mich ein lauter Schwall an Sätzen aus meinem Lesegenuss reißt.
„Wir hab´n nix mehr. Die wollten heute Morgen schon alle Brötchen.“
Wer sind alle? Ja, es ist Sinn einer Bäckerei Brötchen zu verkaufen, oder?
„Ich hab´ da schon angerufen. Ob wir noch was kriegen, weiß ich doch nich.
Komm´ se nachher mal wieder.“

Nicht nur ein Kunde verlässt kopfschüttelnd das Café mit angeschlossener Bäckerei. Als sie schreit: „Kaufen Sie statt 8 Weckle doch 8 Stück Kuchen, schmeckt doch auch,“ ist es für mich an der Zeit meine Ohren auf Durchzug zu stellen. Diese Frau ist die Umsatzbremse und Kundenverscheucherin schlechthin. Wurde sie eventuell von der Konkurrenz eingeschleust? Mein Detektivsinn ist erwacht. Parallel kreist im Kopf weiterhin der Gedanke als was sie im Rathaus tätig sein könnte.
Auf der Terrasse bekomme ich Gesprächsfetzen von Kunden mit, die sich am kleinen Brunnen vor dem Café gesammelt haben.
„Kuchen statt Weckle, auf welchen Schmarrn die kommt.“
„Hier kannst Du sonntags keinen Kaffee trinken gehen, wenn sie arbeitet. All´ die Interna, die sie laut raus brüllt, das will ich doch nicht hören. Eigentlich müsste man mal in der Zentrale anrufen und dort Bescheid geben. Sie würden uns sicher einen Brezelorden verleihen.“
„Ich gehe hier sonntags eigentlich nicht mehr hin. Die lebendige Betriebs-Läster-Zeitung auf zwei Beinen muss ich mir nicht geben. Man will doch nur einen Kaffee trinken gehen oder ein paar Weckle holen, aber nicht mit Ohropax ein Café betreten müssen.“
Ohne Weckle, ohne Kuchen ziehen alle von dannen.
Ich fühle mich mit meinen Empfindungen nicht alleine.