„Appes Bein“ (Dornröschen)

Wieder einmal saß Elfriede Machewsky auf der alten Bank im verrotteten Freizeitpark in Bottrop. Sie mochte die morbide Atmosphäre dieses Parks. Grünzeug überwucherte die verrosteten Geräte, die Wurzeln auf den ehemaligen Gehwegen brachten sie zum Stolpern. Die große, dornige, Hecke ließ ihre Gedanken abschweifen.
Schloss sie die Augen, zu fühlte sie sich wie Dornröschen. Kein wunderbares Schloss erträumte sie sich, eher ein kleines Hexenhäuschen. Gelegentlich träumte sie von einem Prinzen auf dem weißen Ross.
Vor einiger Zeit fiel sie in die Dornenhecke, die Wurzeln auf dem Gehweg waren einfach zu heimtückisch und brachten sie zu Fall. Kein Prinz befand sich in der Nähe, der den Stachel aus ihrem rechten Oberschenkel heraus zog. Ihr Prinz, Gerd Schmolke, war daheim und übersah ihn als sie zurückkam. Später ärgerte sich der Prinz, dass er nicht zur Stelle war, als der böse Stachel seine Elfriede so quälte.
Allmählich führte der Stachel zu einer Blutvergiftung. Viel zu spät suchte sie die Notaufnahme auf. Der liebe Chefarzt in der Notaufnahme sprach nur: „Schnell. Amputieren bis zum Oberschenkel.“
Dornröschen hörte es nicht. Das letzte was sie sah, war „Edward mit den Scherenhänden“. Als sie aufwachte wusste sie, Edward hatte sich um ihr Bein gekümmert und eine schicke Narbe genäht, die dem Dr. Mang vom Bodensee alle Ehre machen würde.
Elfriede gewöhnte sich an ihr appes Bein. Ja, die Elfriede hatte keine AOK Prothese, die jedem das Eigenleben zeigte. Nein, dem Dornröschen gebührte eine Vollprothese. Schick verkleidet und dem bleichen linken Bein in nichts nachstehend.
Ihr schicker Erwin halt.
Wenn sie so auf ihrer Bank im ehemaligen Freizeitpark saß, hielt sie schon mal Zwiegespräche mit ihrem Erwin. Fragte ihn auch wie denn der schöne rote Chanel Nagellack besser auf den Zehen halten könnte.
Ihr Gerd nuckelte gerne an ihren Zehen. Noch beklagte er sich nicht darüber, dass ihm ihr linker Fuß weiterhin besser mundete, als der Plastikgeschmack ihres Erwins. Sie fand aber, dass es ziemlich blöde aussah, wenn sich nach seiner Nuckelei rote Nagellackreste zwischen seinen gebleichten Zähnen befanden. Es erinnerte sie an ältere Frauen, deren Lippenstift allzu oft den Weg von den Lippen auf die Zähne fand.
Küssen mochte sie Gerd Schmolke anschließend nicht mehr.

Was ihr appes Bein gar nicht mochte, war, wenn Elfriede wieder einmal Schmetterlinge im Bauch hatte. Die Schmetterlinge blieben einfach nicht im Bauch. Sie flogen rum und schwupps kribbelte es in der Hüfte. Zu viel kribbeln führte dazu, dass das Bein abfiel.
Sah Elfriede einen gut trainierten Bauarbeiter mit einem verschmitzten Lächeln, war es um sie geschehen. Es kribbelte, sie verlor ihren Erwin und schwupps lag sie auf dem Gehweg.
Gerd Schmolke fand das gar nicht gut. Musste er Elfriede vom Gehweg auflesen, war ihm klar, dass wieder die Schmetterlinge im Spiel gewesen waren.
In seiner Gesellschaft hatte sie ihren Erwin zuletzt vor 8 Wochen verloren. Es geschah in dem Moment als er vor ihr kniete, ihren linken Fuß leicht im Mund, und sie mit einem Blick betrachtete, der sagte: „Du mein Dornröschen, bist die schönste, liebenswerteste Frau der Welt.“
Der Blick änderte sich auch nicht, als er eine Zehe von Erwin in den Mund nahm. Spätestens da wurde ihr bewusst, dass sie keinen Prinz auf dem weißen Ross benötigen würde. Sie hatte ihren Prinzen. Ihr Hexenhäuschen war die 3 Zimmer Wohnung in Bottrop, ihr Prinz der Gerd.

Ihr Erwin eine Art Stallknecht, der dafür sorgte, dass sie weiterhin gut zu Ross, äh Fuß, war.

 

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Das Geschenk

Es begab sich zu einer Zeit, als Donald noch die Amerikaner und den Rest der Welt ärgerte, da saß Herr Broickenhuis an seinem Schreibtisch und tätigte für diesen Tag seine letzte Überweisung. Er seufzte laut und nahm einen ersten Schluck aus seinem bereit gestellten Whisky. Keine sechs Monate war es her, dass seine Firma kurz vor der Insolvenz stand. Es gab zu wenig Aufträge für zu viele Firmen, die sich auf die Entsorgung von verseuchter Erde spezialisiert hatten. Mit Freude schaute er nun die Umsätze an. Die Angst, die Gehälter nicht bezahlen zu können gehörte der Vergangenheit an. Der eine Dauerauftrag, den er als das größte Geschenk für alle bezeichnete, erreichte ihn im Juni. Schuld war sein Enkel.
Wie kann ein kleiner Enkel schuldig sein? Wie kann ein kleines Wunder geschehen?

Wo soll ich beginnen? Es begab sich zu einer Zeit, dass ein kleiner Fußballverein im hohen Norden ein besonderes Duschgel auf den Markt brachte. Gedacht war es als Geschenk an die Fans. Niemand ahnte, dass es angenehme Nebenwirkungen hatte – je nachdem aus welcher Sicht man es betrachtete. Obwohl besagter Enkel, der auf den Namen Ben hörte und mit seinen fünf Jahren wirklich unschuldig war, wie es ein Lausbub` nur sein konnte, lieferte er den Anstoß für … Anstoß für was? Ben war ein großer Fan des kleinen Fußballvereins im hohen Norden und ein großer Fan seiner neuen, sehr sehr großen Wasserpistole. Eine Wasserpistole, die einem Wassergewehr ähnelte. Nur mit Wasser aus dem Wassergewehr auf den Rasen zu sprühen, war ihm zu langweilig. Viel lieber würde er den deutschen Schäferhund des Nachbarn, der immer so laut bellte und versuchte Ben durch das eine Loch im Zaun zu fassen, richtig nass machen. Oma Broickenhuis hätte etwas dagegen. Auch sie fürchtete den Schäferhund und schimpfte oft über den Nachbarn, wenn sie glaubte er würde es nicht hören.
Heimlich ging er in das Badezimmer und füllte etwas von dem Duschgel und viel Wasser in sein Wassergewehr.
Bis oben hin.
Draußen drückte er einmal am Hebel und eine kleine Schaumladung kam aus der großen Öffnung. Das machte Spaß.
Mit dem Wassergewehr ging er in den Garten. Plötzlich wurde es laut: „Sitz!“ „Platz Bruno.“ „Fass Bruno.“ Damit ließ der Nachbar, namens André, den Schäferhund los, der in Richtung Zaun sprintete und versuchte sein Maul durch das Loch zu bekommen. Er hatte Appetit auf den kleinen Ben. Ben fiel vor Schreck auf den Boden, sah das sabbernde Maul, die Springerstiefel vom Nachbarn, schrie nach Oma Broickenhuis und drückte auf den Hebel seines Wassergewehrs. Spritzte Bruno nass, spritzte Björn und seine Springerstiefel nass, nachdem Bruno zurück Richtung Haus ging. Immer und immer wieder zielte er auf André, der komischerweise nicht von der Stelle wich. „Oma, Oma.“ schrie er aus Leibeskräften. „Der Köter will mich fressen.“
Als Oma Broickenhuis zum Zaun ging, staunte sie nicht schlecht. Die Springerstiefel waren ausgezogen, auch die Uniform die André gerne im Garten trug. Nackt, wie Gott ihn schuf stand er da und aus all´ seinen Körperöffnungen und – poren kam braunes Wasser. Der Köter kam zurück und sah nicht weniger braun aus. Braune Brühe tropfte aus seinem Fell. André schaute an sich herunter, griente Oma Broickenhuis an, hob die Hand zum Gruß und wünschte Oma einen schönen Tag, bevor er die Stiefel und Uniform in der Mülltonne entsorgte und ins Haus ging.
Oma nahm Ben mit in ihr Haus, rief Opa an, der sofort kam und sprach hinter geschlossenen Türen mit Opa. Zuvor kochte sie Ben eine heiße Schokolade und wollte wissen, mit was genau er sein Wassergewehr gefüllt hatte.

Die nächsten Tage waren anders. Oma, die Mitglied bei den strickenden Omas war, bekam viel Besuch. Ben wollte an der Tür lauschen, doch wurde er in den Garten geschickt. Einmal nahm sie ihn und Oma Berta von den strickenden Omas mit in eine andere Ecke der Stadt. Er sollte heimlich, also aus Versehen, einen Mann mit Kurzhaarschnitt und Springerstiefeln bekleidet, von oben bis unten mit seinem Wassergewehr nass spritzen. Ben machte es Spaß und er verstand nicht, warum Oma meinte, nun müsse man sich noch um die braune Pfütze kümmern.
Opa Broickenhuis sah er nachts in Nachbars Garten Erde abtragen, neue aufschütten und zufrieden grinsend ins Bett gehen.

Der Nachbar trug nun gerne Latzhosen, ließ seine Haare wachsen und schickte Bruno nie wieder ohne Maulkorb auf die Straße.

Oma bekam weiterhin viel Besuch. Nicht nur von den strickenden Omas, sondern auch von jungen Frauen, Männern und Kindern. Jeder und jede, die das Haus verließ bekam ein großes Wassergewehr geschenkt.
Ben verstand mit seinen fünf Jahren nicht, was um ihn geschah. Einmal schaffte er es doch zu lauschen: „Die setzen Fake News in die Welt, wir werden jetzt eine Fake Veranstaltung in die Welt setzen.“
Fäääik? Was kann das nur sein, dachte der kleine Ben.
Während der kleine Fußballverein im hohen Norden ein sehr wichtiges Spiel gewann, ging der kleine Ben mit Oma und Opa Broickenhuis zu einer Schaumparty, wie die Oma es nannte. Sie packten ihre Wassergewehre ein und fuhren zu einem Fußballstadion. Der kleine Ben verstand noch nicht, dass es kein Fußballspiel geben würde. Stattdessen standen sie auf der Rasenfläche in einem nicht so großen Stadion. In der Mitte war eine Bühne aufgebaut, über der ein riesiges Banner „Angie muss weg“ hing. Auf der Bühne stand niemand. Das Stadion war gefüllt mit Menschen, die laut sprachen, nicht mehr ganz nüchtern waren, Deutschlandfahnen, und Deutschlandmützen trugen. Es hörte sich komisch an und sah nicht weniger komisch aus. Besonders die Männer, die ihren Arm so merkwürdig streckten, sahen doof aus. Ob sie in der Nase bohren wollten, es sich nicht trauten und es damit verhindern wollten? Das geht einfacher dachte Benno. Benno drehte sich um und sah viele Menschen, die nicht komisch aussahen. Er sah die strickenden Omi und die Menschen, die in den letzten Wochen zu Besuch kamen und viele mehr. Alle trugen ein großes, gefülltes Wassergewehr unter dem Arm. Ihre Füße steckten in Gummistiefeln. Als sich ein alter Mann auf die Bühne stellte und brüllte: „Mutti muss weg. Angie muss weg. AKK muss weg.“, kam Bewegung in die Menge, die sich verteilte.

Strickende Omis
Männer mit Bierbäuchen
Männer mit doppelt Bierbäuchen
Junge, alte Menschen
Frauen in Latzhosen und Babytragetuch
Kinder
Männer mit Waschbrettbauch
Männer und Frauen mit Migrationshintergrund
Männer und Frauen ohne Migrationshintergrund

sie alle legten auf ein lautes Signal ihre Wassergewehre an und spritzen jede, jeder einen brüllenden Menschen an, bis das das Gewehr leer geschossen, also gespritzt war. Der alte Mann auf der Bühne wurde sicherheitshalber zweimal bespritzt.
Die braune Brühe fand auch hier ihren Weg aus den Körpern des braunen Packs und die Strickenden Omis; Männer mit Bierbäuchen; Männer mit doppelt Bierbäuchen; junge, alte Menschen; Frauen in Latzhosen und Babytragetuch; Kinder; Männer mit Waschbrettbauch; Männer und Frauen mit Migrationshintergrund; Männer und Frauen ohne Migrationshintergrund standen mit ihren Gummistiefeln fast kniehoch in der braunen Brühe. Die meisten von ihnen verließen wie verabredet das Stadion, während einige wenige den Erfolg ihrer Spritzaktion beobachteten. Es war wie immer: Grüßend verließen die zuvor dummes Zeug brüllenden Menschen das Stadion.Oma und Opa Broickenhuis lagen daheim schlafend im Bett als das Telefon klingelte: „Hier A.M.. Der Rasen im Stadion ist verseucht. Sorgen Sie dafür, dass der Boden gründlich abgetragen wird, neu eingesät und die Brühe fachgerecht entsorgt wird. Die Auftragsbestätigung für dieses Stadion und über zukünftige Entsorgungsarbeiten wurde in ihr Büro gefaxt.“

Opa Broickenhuis lagerte weiterhin in einer Halle seiner Firma einen Großposten an Wassergewehren und erklärte jedem Nutzer eindringlich, dass die richtige Wassermischung für eine Schaumparty aus einem Verhältnis 1/10 Duschgel des kleinen Fußballvereins im hohen Norden und 9/10 Leitungswasser besteht, um wirklich die ganze braune Brühe aus einem Körper zu bekommen.

Oma Broickenhuis organisierte weiter Fake Veranstaltungen, von denen der kleine Ben nie verstand, was sie bedeuteten. Er freute sich, wenn Oma sagte: „Gummistiefel an und Wassergewehr raus. Marsch, wir gehen auf eine Schaumparty.“ Das machte ihm Spaß und er spritzte immer nur einen Fußballfan im Stadion nass, wie Oma und Opa es ihm eingeimpft hatten.
So kam es, dass Opa Broickenhuis viel mehr Mitarbeiter einstellen musste, da immer mehr Stadien und andere Flächen gereinigt und ihre Oberflächen abgetragen werden mussten. Aus der ersten Schaumparty im Juni entstand eine große Bewegung, die in Europa aktiv ist. Erst gestern lieferte Opa Broickenhuis einen Container Wassergewehre und Duschgel nach Italien. Am Montag einen Container nach Ungarn.

Nur hier, hier in Deutschland werden immer weniger Wassergewehre benötigt. „Das ist gut so“, erklärt er seinem Enkel Ben. „Wenn Du nicht gewesen wärst, würde ich nicht so viel braune Brühe entsorgen können.“
Wie immer antwortet Ben: „Und wenn der kleine Fußballverein im hohen Norden nicht gewesen wäre“.
Sooft er seinen Opa nach der Entsorgung und Verbleib der braunen Brühe fragte, tätschelet ihm Opa Broickenhuis den Kopf, schauet ihm in die Augen – und schwieg.

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Erklärungen zu den „subtil“ verwendeten Anspielungen:
Donald: Donald Trump
Kleiner Fußballverein im hohen Norden:
FC St. Pauli aus Hamburg, der sich gegen Rassismus und gegen Rechts einsetzt. Er brachte kürzlich ein „Anti Fa“ Duschgel für den starken Mann auf der Straße und Creme auf den Markt. Über den Fanshop und einer Drogeriemarktkette zu beziehen. Inzwischen ist es ausverkauft. Die Einnahmen gehen an den Verein „Laut gegen Nazis“. Die AfD lief Sturm gegen die Produkte.
Oma und Opa Broickenhuis:
Einfach so, hört sich nett an
Ben:
Laut google ein typischer Vorname aus dem Norden. Fietje sagte mir nicht so zu
André:
André Poggenburg, ehemaliges Mitglied der AfD. Fraktionsloses Mitglied im sächsischen Landtag. Trat im Januar 2019 aus der AfD aus und gründete die Partei Aufbruch deutscher Patrioten. Beim politischen Aschermittwoch im Jahr 2018 hielt er eine Hetzrede, die ihm etliche Anzeigen wegen Volksverhetzung einbrachten. Auch ich stellte mit gut 100 anderen eine Strafanzeige. Leider stellte die Staatsanwaltschaft Dresden das Verfahren ein. Das Schreiben mit der Begründung liegt auf meinem Gäste WC. Wer es lesen möchte ist herzlichst eingeladen.
Bruno der Schäferhund:
Der heißt einfach so.
Alter Mann auf der Bühne = Alexander Gauland. Einer von zwei Fraktionsvorsitzenden der AfD
Strickende Omas = Omas gegen rechts
A.M.: Angela Merkel
Whisky ohne e: Um Verwirrung zu stiften
Bewegung im Juni: Seebrücke

 

 

Ich mag Stinker

 

Irgendwann begann ich mich zu langweilen.
Die Vorlesungen in der Uni unterforderten mich. Meine Mitstudenten empfand ich als Menschenmenge, die sich dem intellektuellen Einheitsbrei ergaben. Ich konnte sie nicht mehr ertragen.
Statt in den Hörsälen über Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Jean-Paul Sartre belehrt zu werden, besuchte ich, für mich anfangs fremde, Haushalte. Ich war ein heißbegehrter Besuch. Wenn ich ging, gab es keine Staubflecken mehr, keine mit gelben Rändern versehenen Toilettenbecken, keine mit klebrigen Flecken versehene Kühlschränke. Ich mochte es, wenn ich in den Katzentoiletten das Streu peinlich genau durchsieben konnte oder stundenlang Staub saugen konnte.
Kehrwochen übernahm ich nicht. Ich mochte es nicht, wenn Nachbarn aus ihren Haustüren strömten und mir ihren neuesten Klatsch unterbreiten wollten. Ich wollte alleine sein, wenn ich mich über eine Wohnung oder ein Haus hermachte. Für mich war es ein Hermachen. Ich entfernte Schmutz und saugte die Bewohner mit ihren Gegenständen und Geschichten in mir auf.

Ich bin anders. Anders als die anderen? Warum macht es mir so viel Spaß, den Schmutz anderer Menschen zu entfernen?

Später langweilte ich mich auch in den Häusern. Die geschnorrten und aufgesogenen Geschichten erreichten mich nicht mehr. Ich spürte, wie so oft, nichts mehr.

Ich benötigte eine Steigerung und fand sie nach einer Weiterbildung.

Jetzt kümmere ich mich um die Entfernung von Blutlachen oder Körperflüssigkeiten. Ich bin vorübergehend in Wohnungen unterwegs, in denen ich von Fliegenplagen begrüßt werde. Komme ich nach Haus, so habe ich oft noch den Leichengestank in der Nase.
Mein Auto ist nun ein Caddy, vollbepackt mit den verschiedensten Reinigungsmitteln in Kanistern. Der größte Kanister enthält unter anderem Eisenionen. Damit bekomme ich noch den schwierigsten Blutfleck entfernt.
Vernebelungsmaschine, Plastikoveralls, Plastikschuhe, Atemmasken und viele Handschuhe stapeln sich nun auf meinem Rücksitz.
Als ich damals in die Firma kam und beim Inhaber nach einer Arbeitsstelle nachfragte, stellte er mir nur zwei Fragen:
„Haben Sie einen guten Magen, der auch bei Stress nicht kapituliert?“
„Ja.“
„Sind sie psychisch und physisch extrem belastbar.“
„Ja.“
Er testete mich sofort und nahm mich mit zu einem sogenannten Stinker. Nachdem wir unsere Schutzbekleidung, inklusive der Vollschutzgesichtsmaske, angezogen hatten und die Wohnungstür öffneten, erwartete uns Ungeziefer in allen Variationen. Die meisten befanden sich um den komischen Schleimfleck herum.
Mit viel Phantasie stellte dieser Fleck die aufgeweichten Umrandungen eines menschlichen Körpers vor dem Wohnzimmerkamin dar. Die dickliche hellgelbe Flüssigkeit war durchsetzt mit Fliegen, Maden und anderen Tieren mit Flügeln.
Mein Chef schaute mich an: „Er lag eine lange Zeit unentdeckt in der Wohnung. Je nach Innen- oder Außentemperatur entwickelt sich der Körper in diese Richtung.“
Ob der Körper weiblich oder männlich gewesen war, erklärte er mir damit nicht. Mich interessierte es weniger.
Eine lange Zeit reinigten wir gemeinsam die Wohnung. Sammelten das Ungeziefer ein, schrubbten, desinfizierten und reinigten mit einem großen Kraftaufwand.
Zwischendurch bemerkte ich immer wieder einen langen Blick von meinem Chef.
Es störte mich nicht.
Als wir Mittagspause machten und ich in eines meiner Mettbrötchen biss, während er eine Gabel nach der anderen seines westfälischen Kartoffelsalates zu sich führte, stellte er mit einem leicht verwunderten Unterton in der Stimme fest:
„Einen guten Magen hast Du auf jeden Fall. So oft ich auch schaute, Du bekamst nicht den Hauch eines Grüntons in Dein Gesicht.“
„Warum auch? Ich mag den Dreck der besonderen Art!“
Irgendwann waren wir fertig und er zeigte mir, wo und wie ich den Biomüll entsorgen musste.
Müde und mit neuen Eindrücken fuhr ich fröhlich heim.

Endlich habe ich wieder Spaß und spüre mich. Ich bin in meinem Element und sauge nun Geschichten der ganz anderen Art auf. Abends komme ich nun beschwingt und gesättigt heim, nachdem ich den Biomüll fachgerecht entsorgt habe. Mein Hunger nach besonderen Geschichten wird endlich gesättigt. Bevorzugt nehme ich die Aufträge an, die meine Kollegen ablehnen. Wichtig war und ist mir, dass keine Menschen um mich herum sind. Angehörige oder neugierige Nachbarn bestrafe ich mit eisigem Schweigen. Überhaupt habe ich es mir abgewöhnt zu reden. Viel lieber konzentriere ich mich auf die Gerüche, das Blut in den verschiedenen Variationen, die reichhaltigen Fliegen oder auf Knochensplitter.
Gelegentlich muss ich an einen Tatort, wenn sich jemand mittels Schusswaffe von seinem Kopf getrennt hat. Oder versuchte sich davon zu trennen. Meist benötige ich die große Leiter, um die Gehirnfragmente und die Knochensplitter von der Decke zu entfernen. Wer sich das Gewehr in den Mund schiebt, denkt vermutlich nicht daran, wie weit und hoch sein Kopfinhalt fliegen kann.
Mir macht es nichts aus. Ich zupfe die Splitter aus den Wänden und reinige, was das Zeug hält. Schrotflintenbenutzer stellen mich einerseits vor eine wirkliche Herausforderung, andererseits bin ich anschließend auf eine Art befriedigt, die sehr speziell ist.

Leider hatte ich seit genau 6 Wochen keinen Schrotflintenkopfschuss mehr.
Mir fehlt etwas. Mir fehlt wirklich etwas.

Ich bin Tatortreinigerin.
Keine Tatortmacherin.

 

Utopia

Mein Utopia ist in mir. Es ist mein inneres Utopia. Ich spüre es bei einer geführten schamanischen Reise. Nur dort erlebe ich es. Es ist kein Ort in der Fremde oder eine Gesellschaftsform, sondern eine Reise in die Anderswelt.
Wie beginne ich die Reise in die Anderswelt?
Während der Schamane, oder die Schamanin trommelt, beginne ich meine schamanische Reise. Ich spüre den Zugang zu dem wunderbaren Wasserfall und betrete die Anderswelt, indem ich unter ihm entlang gehe und das Wasser auf mich regnen lasse. Manchmal erscheint dahinter eine grüne Wiese auf der ich gefühlte Stunden barfuß spazieren gehe. Wenn ich den Wasserfall durchschritten habe, treffe ich meist bereits dort auf mein Krafttier, meinen Seelengefährten. Es begleitet mich auf den Reisen in diese Welt, beschützt mich, führt mich und gibt Heilungsimpulse. Nie habe ich es gesucht. Es war einfach da.
Bei meinen ersten schamanischen Reisen war mein Krafttier ein Frosch. In seiner ganzen Körpergröße ging er mir bis zum Knie. Meist gingen wir nur spazieren, während er mich anlächelte. Oder ich setzte ihn auf meine Schultern und hüpfte mit ihm durch die Gegend und strich seine Beine, die herunter hingen. Aus diesen Begegnungen ging ich sehr gestärkt, aber auch mit einem großen Gefühl an Geborgenheit hervor. Dies hält lange über die jeweilige schamanische Reise hinaus an.
Später wurde er von einem Bären abgelöst. Einem großen, braunen Bären, der mir meist auf seinen Hinterpfoten entgegentrat und mich mit seiner Größe überragte. Er trug eine verkehrtherum getragene, rote, Baseballmütze auf seinem Kopf. Bei unserer ersten Begegnung fand ich diese Mütze merkwürdig, doch scheint sie irgendwie zu ihm zu gehören. Er stellte sich als „Shaggy“ vor. Bei diesem Namen blieb es.
Selten stellte ich ihm Fragen, meist bekam ich ungefragt Antworten oder Umarmungen.
Nach einer solchen Reise mit „Shaggy“ fühle ich mich ebenfalls gestärkt, entspannter, nachdenklicher und meine Seele wurde intensiv berührt. Ja, hier wird meine Seele berührt.
Auf einer meiner ersten schamanischen Reisen, die ich während einer Phase körperlicher und psychischer Erschöpfung machte, bekam ich den Impuls endlich eine berufliche Entscheidung zu treffen. Nachdem ich den Wasserfall passierte, holte mein Bär mich ab und wir gingen schweigend gemeinsam im Wald spazieren.
Immer wieder schaute er mich an und umarmte mich zwischendurch lange. Schlussendlich nahm er mich an die Hand und führte mich aus dem Wald heraus.
Wir schauten auf einen großen Firmenpark mit vielen großen und wenigen kleinen Bürotürmen. Ich schluckte, die Luft zum Atmen wurde mir für einen kurzen Moment knapp und dann weinte ich. Weinte und ließ endlich los.
Auch den Rückweg verbrachten wir schweigend. Als ich nach dieser schamanischen Reise aufwachte, fühlte ich mich nicht mehr so erschöpft. Spürte mich endlich wieder und von beruflichen Ängsten befreit. Ich traf nicht sofort eine Entscheidung. Doch die Saat wurde erfolgreich gelegt und ging zum richtigen Zeitpunkt auf.
Nach dieser kleinen Einführung möchte ich nun über meine letzte schamanische Reise erzählen. Sie war eine besondere Reise, die ich nie vergessen werde.
Es war ein Tag im Herbst, als wir uns im Wald trafen, um gemeinsam in einer Gruppe zu reisen. Ich mochte diesen Treffpunkt, der in der Nähe eines kleinen Baches lag. Zuvor ging ich zu dem Bach um innezuhalten, meine Füße einzutauchen und ein Dankesritual abzuhalten. Von dort lief ich zu der Gruppe, die damals aus 5 Personen bestand. Nach der Begrüßung breiteten  wir unsere mitgebrachten Decken aus auf die wir uns legten. Die Schamanin nahm ihre selbst hergestellte Trommel in die Hand und begann langsam und leise zu trommeln. Bereits mit den ersten Tönen entspannte ich mich und ließ los. Die erreichte Frequenz bewirkt bei manchen Schläfrigkeit. Mir helfen die tiefen und lauten Töne in Trance zu gelangen und meine geistige Reise zu beginnen. Als sich das Tempo steigerte, erreichte ich bereits meinen Eingang zur Anderswelt. Den Eingang zur unteren Welt. Meine Reise begann. Ich sah den rauschenden und hohen Wasserfall, der aus einer langen Bergwand floss. Unten sammelte er sich in einem kleinen, fußtiefen Teich. Neben dem Teich blühten viele Blumen, ähnlich denen, die man in Bauerngärten findet. Schaute ich nach oben, sah ich einen strahlendblauen Himmel, in dem viele Falken ihre Runden drehten. Ich durchschritt den Teich und stellte mich unter den Wasserfall. Blieb zuerst auf der Stelle stehen, um mich dann mit ausgebreiteten Armen lange um die eigene Achse zu drehen. Ich genoss den Wasserstrahl von oben, den Duft der Blumen neben mir und wollte den Wasserfall am liebsten nicht mehr verlassen. Einige Momente später durchschritt ich ihn und kam in einen Wald. Es war ein heller Wald mit vielen Bäumen, die sehr hoch und breit vom Umfang waren. Trotzdem ließen ihre Kronen viel Licht durch. Ich lehnte mich an einen der Bäume und wartete auf mein Krafttier, den Bären. Oft verbrachten wir unsere Begegnungen indem er mich gefühlte Stunden in den Armen hielt und mir über den Kopf strich, während ich ihn kraulte. Dabei schwiegen wir meist, es sei denn er stellte mir Fragen. Die Antworten auf diese fand ich selten sofort. Oft stellten sie sich erst Tage oder Wochen später ein. Er beschäftigte mich über die schamanischen Reisen hinaus und gab mir wertvolle Impulse. An diesem Tag war er lange nicht zu sehen. Ich blieb alleine im Wald, ging spazieren und berührte viele Bäume. Bei manchen verweilte ich länger, bei einigen weniger lange. Nach einiger Zeit kam Shaggy um die Ecke, stellte sich erst zu seiner vollen Höhe auf und umarmte mich lange. Dann drückte er mich, um folgend zu sagen: „Ich kann nicht bleiben, ich muss zu Anna.“ Er ließ mich los, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Die Trommel schlug schneller und holte mich aus der Anderswelt zurück. Ich setzte mich auf und dachte an Anna. Eine Freundin, die damals schwer erkrankt war. Den Zeitpunkt und Dauer dieser schamanischen Reise musste ich mir nicht notieren. Er blieb in meinem Kopf. Wir besprachen die Erfahrungen, die wir während dieser Reise gemacht hatten, doch verließ ich die Gruppe früher. Unruhe hatte mich gepackt. Vergeblich versuchte ich den Ehemann von Anna telefonisch zu erreichen. Im Krankenhaus vor Ort erhielt ich keine weitere Auskünfte, außer: „Wir haben die Angehörigen verständigt, es dürfen nur noch ihre Angehörigen zu ihr.“ Ich wusste, ihr Ehemann würde mich jetzt nicht zu ihr lassen.
Anna hatte zum zweiten Mal Leukämie bekommen. Beim ersten Mal wurde sie erfolgreich mit einer Chemotherapie behandelt. Doch wenige Jahre später kam die Leukämie zurück. Dieses Mal bekam sie Stammzellen transplantiert. Die Behandlung als Vorbereitung zur Transplantation zuvor war nicht ungefährlich und die Zerstörung des Immunsystems stellte ein immenses Risiko dar. Die Stammzellentransplantation lag nun eine Woche zurück. Einmal konnte ich sie besuchen und in einem kurzen wachen Moment mit ihr sprechen. Sie war ein kleines Häufchen Mensch, welches durch Schläuche an eine ganze Wand voller Geräte angeschlossen war. Es summte, piepte, rauschte in fast jeder Sekunde aus einem von ihnen. Ihr Mann blockte Besuch von Freunden zu dem Zeitpunkt meist ab und gab auch mir nur widerwillig Auskünfte über ihren Zustand. Drei Tage nach der Information „Es dürfen nur noch Angehörige zu ihr“ durfte ich sie kurz besuchen. Sie war intubiert, aber sie lebte. Von nun an ging es ihr langsam besser. Im Laufe der Wochen und Monate wurde sie nicht mehr intubiert und die Geräte an der Wand, die sie versorgten, wurden stets weniger. Sie kämpfte weiterhin mit den Nebenwirkungen der zuvor erhaltenen Chemotherapie und der jetzt eingesetzten Medikamente. Manchmal saß ich stundenlang an ihrem Bett und strickte, während sie schlief. Zu dem Zeitpunkt befürchtete sie, dass sie nicht mehr aufwachen würde, wenn sie tagsüber schlief und niemand neben ihr sitzen würde. Irgendwann erzählte sie mir, dass es eine Abstoßungsreaktion der Stammzellen gegeben hätte und sie daran fast gestorben wäre. In der letzten Sekunde konnten die Ärzte es in den Griff bekommen. Bei einem meiner späteren Besuche, als es ihr deutlich besser ging, plauderte sie ganz locker darüber, welch tolles Schmerzmittel Morphium wäre. Allerdings würde es ihr merkwürdige Träume bescheren. Kichernd erzählte sie mir von dem folgenden:
„Hi hi, einmal träumte ich sogar von einem großen Bären mit einer roten Baseballmütze, der mich ganz lange in den Arm nahm und dann mit mir Ewigkeiten tanzte. Ein tanzender Bär. Ich kann doch gar nicht tanzen. Aber es tat so gut, dass er mich in den Arm genommen hat.“
Ich schluckte und fragte mit leiser Stimme: „ Weißt Du noch, wann das gewesen ist?“
„Der Tag an dem ich fast gestorben wäre.“
Im Laufe unseres Gespräches tastete ich mich vorsichtig an die Details heran. An dem Tag meiner letzten schamanischen Reise verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand mittags dramatisch.
Während ich im Wald auf meiner Decke lag, der Trommel lauschte, kämpfte sie um ihr Leben.
Während ich mich in der Anderswelt aufhielt ging Shaggy, unser Krafttier, zu ihr.
Was an diesem Nachmittag im Oktober geschah: Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Shaggy war bei ihr.

 

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Anne

Anne saß in ihrem großen, roten Ohrensessel in ihrer Wohnküche. Mit ihren weit über 80 Jahren fror sie immer, so dass der Kachelofen auch im Sommer brannte. Der Holzhändler freute sich darüber, wenn er ihr wieder eine große Fuhre Kleinholz anlieferte. Ihr war es egal. Eine kleine Marotte durfte sie sich in ihrem Alter doch leisten. Ihre Wohnküche mutierte zu ihrem Lebensmittelpunkt. Die Haustür war nie verschlossen, so dass ein jeder der wollte sie besuchen konnte ohne dass sie die Tür öffnen musste.
Sie mochte ihr betagtes, kleines Haus. Das Wohnzimmer wurde höchstens noch an Weihnachten benutzt, ihr Schlafzimmer nur noch zum Umkleiden. Ihr reichte die alte Küchencouch zum Schlafen. Tagsüber machte sie, auch wenn die halbe Verwandtschaft um sie herum schwirrte, ein Nickerchen in ihrem Ohrensessel. Manchmal wurden es auch zwei Nickerchen. Sie hörte den Unterhaltungen um sie herum, und gelegentlichen Streitereien, in denen es häufig um Kinkerlitzchen ging, nicht zu. Es interessierte sie nicht. Anne interessierten die Menschen, nicht ihre Verstrickungen untereinander.
Das letzte Nickerchen war heute nicht so erholsam. Sie träumte, dass Eimerweise Flugsand über sie geschüttet und sie ersticken würde. Als sie wach wurde, merkte sie, dass ihre Katze es sich auf ihrem Kopf gemütlich gemacht hatte und ihr dicker Schwanz Anne die Nase verstopfte. Blödes Viech. Sie so zu erschrecken und aus dem Schlaf zu reißen. Anne unterstellte ihr schon eine gewisse Absicht. Die Katze lief ihr vor einigen Wochen zu und mochte es nicht, dass Anne sie auf den Namen „Eisbär“ taufte. Bei dem weißen Fell eine logische Entscheidung, dachte sich Anne. Eisbär boykottierte die Entscheidung, indem sie mit keck aufgerichtetem Schwanz nur kam, wenn frisches Futter bereitgestellt wurde. Auf alle weiteren Rufe reagierte sie nicht.
Während Anne in ihrem Ohrensessel an einer Decke, bestehend aus Granny Squares, häkelte, dachte sie an die gestrige Unterhaltung mit ihrer Tochter. Anna hatte wieder einmal einen Kontrolltermin bei ihrem Hausarzt vergessen. Was heißt vergessen? Es ziepte nirgends in ihrem Körper und ihr Verstand war mopsfidel (wie sollte sie sich auch anders die schwierigen Häkelmuster ausdenken und ohne Notizen gemacht zu haben, los häkeln können?).
Daher sah sie nicht ein, den Landarzt aufzusuchen.
Ihre Tochter schimpfte und nahm gleich das böse Wort Demenz in den Mund. Ach, soll sie doch schimpfen und Modeworte verwenden. Letztens sprach ihre Tochter sogar davon, dass sie bald auf einen Burn Out zusteuern würde, wenn sie ihren Stresslevel nicht endlich senken würde. Anne war auf diesem Ohr taub und wechselte das Thema.
Nein, Anne hatte ihre Zeit viel sinnvoller verbracht. Über den Sommer weilte der Vater des netten Nachbarn beim Sohn und sie ging viel lieber mit ihm an den Rapsfeldern entlang spazieren, als in einer vollen Arztpraxis Stunden warten zu müssen.
Während dieser Spaziergänge fror sie auch nie. Vielleicht lag es daran, dass er sie immer keck anlächelte, wenn er in ihre Küche kam, um sie abzuholen?

Schreibübung zu den folgenden vorgegebenen 8 Wörter:
Kinkerlitzchen, Weihnachten, Flugsand, häkeln, keck, Eisbär, eimerweise, mopsfidel

Seifenblase

Sie hört ein leises Schluchzen. „Kind, so wach doch endlich auf“ und erkennt die Stimme ihrer Mutter. Sehen kann sie sie nicht. Ihre Augen sind geschlossen. Sprechen kann sie ebenfalls nicht. Der Schlauch würde stören.
Sie möchte nicht aufwachen.

Sie befindet sich im Krankenhaus. An einem sicheren Ort.
Zuhause ist kein sicherer Ort mehr. Er ist kein sicherer Mann mehr. Als sie ihn zuletzt sah, kam sie vom Einkaufen zurück. Sie packte gerade die Lebensmittel in den Kühlschrank, als er aus dem Wohnzimmer kam. Irgendetwas schien ihm nicht zu passen. Vieles schien ihm in letzter Zeit nicht zu passen. Er schaute sie an, schrie etwas Unverständliches und schlug ihr ins Gesicht. Instinktiv drehte sie den Kopf weg, doch nicht schnell genug. Er erwischte ihr Auge. Ein kurzer heftiger Schmerz.
Es folgte der nächste Schlag. Sie versuchte Richtung Haustür zu flüchten, doch machte ihn das nur wütender. Sie kannte seine Wut, die daraus entstehende Kraft und auch die Fantasie, ihr auf verschiedene Arten Schmerz zuzufügen. Er rannte ihr hinterher, erwischte sie an ihren langen Haaren, zog ihr Gesicht zu seinem Gesicht und schlug ihren Kopf gegen die Wand. Immer und immer wieder. Sie spürte, wie Blut aus ihrem Ohr heraus lief, hörte knacksende Geräusche, versuchte seinen Händen zu entkommen, ihn zu treten. Dann spürte sie nur noch die kalten Fliesen unter ihrem Rücken. Wenige Minuten später nichts mehr.
Sie hört eine fremde Stimme, die ihrer Mutter erklärt: „Sie müsste langsam aufwachen. Wir mussten sie ins künstliche Koma versetzen, damit sie die Schmerzen durch die Knochenbrüche nicht spürt und damit das Gehirn nach dem Schädel-Hirn-Trauma in einen stabileren Zustand versetzt wird. Wir leiten die Narkose langsam aus.“
Sie will nicht aufwachen. Keine Schmerzen spüren. Sie will von ihm nicht mehr geschlagen werden. Niemand kennt seine Gewalttätigkeit. Anfangs war er sehr darauf bedacht, keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen. In dieser Zeit schlug er sie mit feuchten Handtüchern, während er sie ans Bett fesselte. Später nutzte er seine starken Hände und Gegenstände, war aber darauf bedacht ihr Gesicht zu schonen. Wie hieß es: So etwas kommt in den besten Familien vor.
Sie waren keine Familie: Nur er und sie. Heimlich nahm sie die Pille, den ehemaligen Kinderwunsch hatte sie aufgegeben. Ihren Beruf auch. Ihr Lächeln ebenfalls.
Sie versinkt in einen kurzen Schlaf. Als sie aufwacht, denkt sie an ihre Hochzeit vor 5 Jahren zurück. „Eine gute Partie“ meinten ihre Eltern. Ein Banker, der mehrere Filialen leitete. „Ein sicherer Beruf, denn Geld wird immer benötigt.“ Die Hochzeit war eine Märchenhochzeit, von der ihre Mutter heute noch schwärmt. Der Bräutigam im Frack, sie in einem langen Spitzenkleid. Bis in den frühen Morgen tanzten sie. Noch heute befindet sich ein Rest der Hochzeitstorte in ihrer Tiefkühltruhe. Hätte sie damals bereits etwas ahnen können? Als sie mit ihrem alten Schulfreund Heino nach Mitternacht tanzte, den Kopf etwas müde auf seine Schulter gelegt, unterbrach er den Tanz, zog sie heftig zu sich und nahm sie in einen eisernen Griff. Seine blauen Augen glühten. Sahen schwarz aus. Schwarz vor Wut? Heute würde sie es bejahen.
Sie spürt die Hand ihrer Mutter, die ihr über den Verband auf dem Kopf streichelt. „Ach Kind, Deine schönen Haare. Nicht schlimm, sie werden nachwachsen. Warum hast Du uns denn nie etwas erzählt? Papa und ich hätten Dir doch geholfen.“
Wie hätten sie helfen können? Wer hätte ihr geglaubt? Hätte sie sich selber geglaubt, dass ihre Ehe keine Ehe war? Dass ihr Mann gewalttätig war? Der Mann, den sie immer noch liebte. In den Tagen und Stunden, in denen er nicht Hand an sie legte. Der Mann mit dem sie stundenlang am Strand sitzen konnte und seinen beruflichen Plänen zuhören konnte. Der ihr von den Kindern erzählte, die er mit ihr haben wollte, wie er diese fördern und ausbilden wollte. Der sie nach einem falschen Satz mit dem Kopf unter Wasser tauchte und erst kurz vor der Bewusstlosigkeit wieder an die Oberfläche holte. Um ihr wenige Minuten später zu sagen, wie sehr er sie liebt.
Sie hatte Angst, dass er ihren Eltern gegenüber ebenfalls gewalttätig werden könnte und schwieg.
Kurz nach Weihnachten brach er ihr mehrere Rippen und verbot ihr einen Arzt aufzusuchen. Während er auf einem Seminar war, packte sie eine kleine Reisetasche und fuhr ins Frauenhaus. Sie wollte leben, nicht nur überleben. Das Frauenhaus war überfüllt. Man gab ihr den Rat in ein Hotel zu gehen. Die finanziellen Mittel hätte sie ja.
Sie fuhr wieder nach Hause, packte die Reisetasche aus und hoffte darauf, dass die Rippen schnell heilen würden. Ihren Eltern und ihren Freunden erzählte sie, sie wäre vom Pferd gefallen und hätte sich die Rippen nur geprellt.
Die folgenden Wochen empfand sie, trotz seiner Schläge, als nicht so schlimm. Ihr Schmerzempfinden reduzierte sich. Die Angst, manchmal Todesangst, blieb. Wieder sprach er von gemeinsamen Kindern und wollte sie zu einer Fruchtbarkeitsuntersuchung zwingen, da sie nicht schwanger wurde.
Sie schlief ein. Träumte von einem Ritt mit ihrem Pferd am Strand. Ihre langen Haare wehten im Wind, während ihr der Sand ins Gesicht flog. Sie lachte und fühlte sich frei. So frei.
Sie wacht auf. Die Hand, die die ihre hält ist kräftig und rau. Ihr Vater sitzt an ihrem Bett. „Papa, mache Dir keine Sorgen um mich.“ möchte sie ihm sagen. Ganz laut sagt sie es in Gedanken, damit er vielleicht den Hauch ihrer Stimme hören kann.
„Kind, er kann Dir nicht mehr wehtun. Er ist in Haft. Bitte wache doch endlich auf.“
Während er es sagt, drückt er fest ihre Hände zusammen. Innerlich sagt sie „Autsch, Papa.“
Sie möchte noch nicht aufwachen. Möchte von Ritten am Strand oder im Wald träumen. Möchte lachen. Möchte keine Schmerzen spüren. Möchte keine Angst haben.

Möchte noch eine Zeit in ihrer sicheren Seifenblase verbringen.

Ich – und …..

meine neue Herrin (Weihnachten zartbitter)
Großvater hatte mich schon früh in unseren Unterhaltungen darüber vorbereitet, dass dieser Tag nahen könnte. Seine Skoliose machte ihn für Förster und zukünftige Käufer uninteressant, so dass er sein Gnadenbrot weiterhin im Sweetforrest erhielt. Stolz überblickte seine 3 Meter hohe Spitze die Kinder- und Enkelschar. Im Schatten seiner dichten Zweige erzählte er mir abends Gute-Nacht-Geschichten oder bereitete mich auf meine Bestimmung vor.
Der Platz links von ihm war nun leer. Anstatt meiner befand sich dort nur noch ein Loch. Unter der Aufsicht des Försters buddelte mich ein Studententrupp aus. Ich gönnte ihnen ihren Weihnachtslohn, hätte mir aber gewünscht, dass sie mich erst in ein paar Jahren markieren und ausgraben würden.
Nun stehe ich, meine Füße eingezwängt in einen schwarzen Plastiktopf, auf dem Parkplatz des Billig-Baumarktes und fühle mich alleine. Niemand spricht mit mir und der Wind pfeift mir durch die Nadeln.
Ich vermisse Großvater. Die schweigsamen Bäumchen neben mir können mir gestohlen bleiben. Wie die teilweise ausschauen: Die Spitze nackt und schief, bei einigen lichtet sich bereits das Fell. Also das Grün.
Ich schäme mich für sie mit.
Noch stehe ich gerade in meinem Plastiktopf, doch wie lange noch? Ein Mann sagt zu seinen Kindern: „Wir müssen uns heute beeilen. Nicht, dass der angekündigte Sturm die Bäume weg wehen wird.“
Ich will nicht verweht werden. Bevor das geschehen würde, würde ich den schnellen Tod in einem Kamin bevorzugen. Meine Nadeln würden sicherlich einen angenehmen Geruch verbreiten.
Plötzlich höre ich ein lautes klacken. Ein Geräusch, welches ich im Wald noch nie gehört habe. Der Ursprung ist schnell gefunden: Eine Frau in Stiefeln mit hohen Absätzen läuft zielgerichtet auf mich zu. „Du bist es. Du wirst der meine.“
Was bin ich? Wessen bin ich?
Mühselig hebt sie mich in ihren Einkaufswagen und noch viel mühseliger in den Kofferraum ihres Wagens. Ich glaube, einen leisen Fluch zu hören.
Es muss lustig ausgesehen haben: Eine 2 Meter Tanne, die in einen Mini gesteckt wurde.
Ich spüre meine Knochen. Also Zweige.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich dachte, mir brechen gleich alle Zweige ab, ruckelt es an mir und mit Schwung zieht sie mich aus dem Auto und trägt mich in ein Haus.
Auf einer großen, roten Decke stellt sie mich ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und schaut mich skeptisch an.
Mit einem Fuß fixiert sie den Plastiktopf und gibt mir mit der rechten Hand eine schallende Backpfeife an die Stelle einen halben Meter unterhalb der Spitze.
Autsch!
Hier soll ich meine Weihnachtsbaumzeit verbringen?
Von solchen Herrinnen habe ich ja schon gehört. Doch fügen sie nicht eher den Menschen gerne den Schmerz zu und nicht den unschuldigen Weihnachtsbäumen?
Großvater hätte mir vorher sagen können, dass es auch so zur Sache könnte.
Erlebt man das zur Einstimmung?
Angst macht sich in mir breit.
Ich mache mir nicht in die Hose. Hätte ich vor Angst eine schlimme Dünnpfiffattacke, so würde sich diese in spontanem Nadelabwurf bemerkbar machen.
„Ha, jetzt stehst Du endlich gerade mein hübsches Bäumchen.“
Höre ich Lob aus ihrer Stimme? Ich gebe mir Mühe und recke mich noch einen Zentimeter in die Höhe.
Wenige Minuten später geht es bereits los. „Last Christmas“, gefolgt von vielen Weihnachtsliedern des Rat Pack erklingen über Stunden aus einer großen Lautsprecherbox neben mir. So hört es sich also an, wenn sich Menschen in Weihnachtsstimmung bringen? Mit roten und weißen Kugeln werde ich behangen.  Glitzernde Strohsterne schmücken später meine Tannenenden, eine Engelsfigur meine Spitze, eine lange Lichterkette meine Äste und zum Schluss wirft sie ganz viel rotes Lametta über mich.
Ich sehe aus wie ein Mädchen. Ich bin ein Mann, ein Weihnachtsbaum und kein Tännchen, das nun einem Einhorn ähnelt.
So vergehen die Tage. Abends schaltet sie die Lichterkette an und manchmal höre ich ein leises: „Ach, wie schön Du bist“ von ihr.
Kurz nachdem sie an einem runden Ding, welches nach abgehackten Abfallprodukten von mir ausschaut, eine dicke rote Kerze anzündete, sah ich sie zum ersten Mal: Sie trägt auch Kugeln. Keine in rot oder weiß. Ohne Anhänger dran, um sie irgendwo zu befestigen. Nein, sie sind in einem dezentem beige. Nicht an Ästen aufgehängt, sondern etwas unterhalb der Stelle, aus der ihre Stimme kommt.
Mei sind die groß.Ein wenig glänzen sie. Ich kann mich nicht satt sehen.
Noch einmal möchte ich von ihr hören: „Ach, wie schön Du bist.“ Um ihr zu imponieren und um den Verlust meiner Nadeln zu verhindern, kneife ich täglich mehrmals meine Pobacken zusammen, also ich recke mich und dehne meine Äste. Alles muss frisch und kräftig bleiben, um die Zeit über Weihnachten hinaus zu überstehen. Großvater hatte mir den Rat gegeben, mich intensiv um meinen Body zu kümmern und den Haar- also Nadelverlust auf das nötigste zu minimieren. Das würde Herrinnen beeindrucken und eine gute Überlebenschance für die Zeit nach den Heiligen Drei Könige bieten.
Inzwischen ist es Heiligabend. Ich habe kaum Nadeln verloren und doch beschäftigen mich zartbittere Gedanken. Wird sie mich in den Garten umpflanzen oder mit der guten Nagelschere säuberlich zerkleinert der Biotonne zuführen?
Ich schließe die Augen und träume. Von einem Platz neben ihrem kleinen Pool rechts von der Terrasse und dem Anblick ihrer Kugeln in der Sommerzeit.

Sonntagabend

Sonntagabend. Statt meinem Ritual zu folgen und mich mit meiner Kuscheldecke auf dem Sofa zu verkriechen und den „Tatort“ zu schauen, vergnüge ich mich mit meiner Vorgesetzten bei einem kurzfristig angesetzten Essen in einem schwäbischen Restaurant. Wie langweilig ist doch das langsam dahin siechende Gespräch. Nein, außer einer Fußballabneigung besitzen wir beide keine Gemeinsamkeiten. Sie liebt Schweinebraten in fetter Sauce mit  Klößen und Rotkohl. Ich eher ein blutig gebratenes Steak mit Pommes und selbstgemachter Kräuterbutter.

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