Es geschah zu jener Zeit – Barbara
Es geschah zu jener Zeit
Sinnlich betrachtete Peppone sein Küchenmesser, bevor er die Sardellen von Kopf und Schwanz befreite. Die ordinäre Hausfrau oder eine alte Mama würden hierfür eine Küchenschere verwenden. Doch Peppone, um seine favorisierten Stiche ins Herz gebracht, bevorzugte den Einsatz seines Messers, dessen handgearbeitete Klinge 21 Zentimeter maß. Im Alter von 13 Jahren wurde es ihm von seinem Capo in einer Zeremonie überreicht als er seinen Weg als Sgarrista begann.
Ein wenig Training reichte bei ihm, um bereits am Montag darauf zum ersten Mal zu töten. Aus dem Handgelenk heraus gelang ihm der sichere Stich ins Herz. Schmerzloser als es seine Auftraggeber häufig wünschten.
Wie oft er sein Handgelenk seitdem schwang ist nur dem aktuellen Capo Di Tuttu I Capi bekannt. Der ein oder andere Betonklotz, ein Säurefass oder Lupara kamen ebenfalls zum Einsatz, doch sein Liebling blieb „Barbara“. Sein Messer.
Er benötigte eine kurze Pause, um sein Acciughe Ripiene Al Forno im Kopf zu sortieren. So sehr ihn sein Kurzzeitgedächtnis verließ, so konnte er sich auf sein Langzeitgedächtnis verlassen. Eine kleine Pause im Schaukelstuhl und ein Glas Barolo Frankia von Giacomo Conterno würden ihm helfen. Der 2016er wurde ihm nach seinem letzten Auftrag vom aktuellen Capo geschenkt. Peppino genoss regelmäßig ein Glas, nicht nur zu besonderen Anlässen wie dem heutigen Familientreffen. Er ebnete ihm den Weg in das gelebte und geliebte Gestern. Ein tiefer Schluck und Mariella erschien vor seinem Auge. Ein weiterer tiefer Schluck und er roch ihr langes Haar, ihr Parfum, spürte ihre Haut an seiner Hand und hörte ihr herzliches lachen. Warum nur ließ er es zu, dass sie 1980 ihre Cousine in Avellino besuchte? Mit ihr verlor er bei dem Erdbeben ihr ungeborenes Kind. Tränen liefen über seine Wangen.
Am ersten Weihnachtstag 1978 verlobten sie sich im Haus ihrer Eltern, die nichts von seinen Fähigkeiten mit Barbara wussten. Seine Anstellung in der Kfz-Werkstatt, und der spätere Erwerb dieser, boten ihm eine perfekte Tarnung. Und dem Cappo einige Möglichkeiten der Geldwäsche, nachdem er sie später um den Handel mit hochwertigen Alfa Romeos ergänzte. Einen alten, roten Spider fuhr er heute noch. Sofern ihm sein Neffe nicht die Autoschlüssel versteckte.
Am ersten Weihnachtstag 1979 kochte er zum ersten Mal sein Sechs-Gänge-Menü für Mariella. So sehr er zur alten Garde gehörte und damals auch seine Frau am liebsten in der Küche und der Kirche sah, so sehr tauschte er am ersten Weihnachtstag die Rollen und kochte für sie.
Zuppa DI Fagiano Al Porto, Camoscio in Salami und als Vorspeise Acciughe Ripiene Al Forno waren seit damals die festne Bestandteile des Menüs. Sein Neffe bezeichnete letzteres als profanes Sardellen Sandwich. Eine angeheiratete Großnichte einer Patchworkfamilie, diese Familienform schien leider modern zu sein, gar als „Stulle mit Fischgeschmack“, nachdem sie zum ersten Mal von Sardellen Sandwiches hörte und nicht wusste, was sich dahinter verbarg.
Es geschah zu jener Zeit, dass er diese Tradition etablierte. In Erinnerung an Mariella und ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest als Ehemann und Ehefrau. Sie träumten von den vielen Bambinis, die sie schaffen wollten. Spaß an der vorbereitenden Arbeit hatten sie.
Eine weitere Träne lief über seine Wange. Im Lager seiner ehemaligen Werkstatt stand immer noch die Wiege, die er in seinen Pausen geschnitzt hatte. Seit 1980 wurde sie regelmäßig entstaubt, doch er brachte es immer noch nicht über sein Herz sie an ein Mitglied der nächsten Generationen weiterzugeben.
Kurz fand sein erster Cappo den Weg in seine Erinnerung. Dank ihm wurde er mit 13 Jahren zum Mann und ernährte fortan seine vier Schwestern und seine Mutter. Nicht lange darauf konnte er ihnen und ihm den Umzug in eine trockene Wohnung mit Badezimmer ermöglichen. Sein Vater starb Jahre zuvor bei einem Arbeitsunfall und die kleine Witwenrente stürzte seine Familie in bittere Armut. Einmal nahm seine Mutter ihn in die Arme, schaute ihm tief in die Augen und sprach: „Ein Mann muss tun, was er tun muss.“
Erteilte sie ihm damit ihren Segen? Sie sprachen nie wieder darüber.
Das Klingeln riss ihn fort von Mariella. Er öffnete seinem Neffen die Haustür und ging zurück in die Küche, um vorsichtig mit seinen Daumen das Rückgrat der Sardellen aus dem Fleisch zu lösen, so dass die beiden Filets von der äußeren Haut zusammengehalten wurden. Das Backblech fettete er mit etwas Öl ein und legte zwölf Sardellen mit der Haut nach unten dicht nebeneinander darauf. Jede Sardelle bestreute er mit etwas Kräutermischung, Pinienkernen, Salz und Pfeffer und beträufelte sie mit etwas Zitronensaft. Darauf legte er eine weitere Sardelle mit der Haut nach oben, so dass sich ein Sandwich ergab. Die halbe Scheibe Weißbrot schnitt er in Würfel und streute sie drüber. Das restliche Olivenöl goss er in einem feinen Strahl darüber.
Der Anfang war geschafft.
Foto: Pixabay.com Amoraio
Klack, klack
Ich liebe meine High Heels. Im Schneegestöber auf dem Brückengeländer zu der Musik zu tanzen, die sich nur im meinem Kopf befindet. Gloria Gaynors „I will survive“ hört sich nur laut in meinem Kopf gut an. Ich singe laut mit und höre dennoch das magische klack klack der Heels auf dem Geländer. „I“ – klack- „will“- klack „survive“-klack.
Nach dem halben Song ist das Ende der Brücke erreicht. Ein aufstampfen, klack klack. Eine Umdrehung. Mein rotes Kleid dreht sich mit, mein Mantel dreht sich mit. Weiter geht es.  Weiterlesen
Weihnachten in der Fremde – Rudolf
Es war noch nicht so lange her, da ging er aus dem Haus, um sich Zigaretten zu holen. Die Tage zuvor schimpfte sie noch mit ihm, weil er im Alter diesem Laster wieder neu frönen musste.
Im Sandkasten lernten sie sich damals kennen, in den Kriegstagen wuchsen sie auf und verloren sich nie aus den Augen.
Nun, mit über 80 Jahren, nahm er manchmal ihr Gesicht in die Hände, schaute sie an und flüsterte zärtlich: „Was dem Helmut seine Loki, das bist Du für mich.“
Mehr als 60 Jahre waren sie miteinander verheiratet. Sie wünschten sich Kinder, doch die Natur hatte es nicht gewollt. Letztendlich waren sie sich beide genug. Sie sahen vieles von der Welt und ihr Haus war ein offenes Haus. Freunde hatten sie reichlich, sofern sie noch lebten.
Von dem letzten Zigarettengang kam er nicht zurück. „Herzinfarkt. Er wird keine Schmerzen gespürt haben.“ So erklärte man es ihr später.
Ihr Rudolf war nicht mehr bei ihr. Sie war nicht mehr seine Loki.
Ihre Sprache hatte sie in den vergangenen Wochen, schon vor dem Umzug in dieses schöne Seniorenstift, verloren. Das letzte Wort sagte sie bei seiner Beerdigung. Der Kopf so klar, ihre Gefühle so klar, doch der Mund weigerte sich einen Ton von sich zu geben.
Ihre Freunde besuchten sie gelegentlich, doch der ausgesprochene Trost erreichte sie nicht. Sie spürte, wie ihre Freunde mit ihrer Sprachlosigkeit nicht umgehen konnten.
Trauer kann so schmerzen. Sie möchte schreien und konnte wieder nur den Mund tonlos öffnen.
Sie ging zum Schallplattenspieler und legte den Tonträger auf die LP von „Mario Lanza“. Seit vielen Jahren hörten sie ihn an Heiligabend gemeinsam. Ein kleines Ritual, bevor die Geschenke ausgepackt wurden. Ja, auch nach allen gemeinsamen Jahren hatten sie immer noch Ideen für Geschenke, mit denen sie den anderen überraschten.
Beide waren gesundheitlich auf der Höhe. Es ziepte ein wenig hier und da, aber  es reichte  immer noch, um auf dem Spielplatz in der Nähe eine Runde zu schaukeln und sich die Welt von oben anzuschauen. Keiner rechnete damit, vor dem anderen zu gehen.
Sie erinnerte sich noch gut an Ostern. Mit Rudolf besuchte sie das neue thailändische Restaurant. Das Curry mit der Erdnusssauce schmeckte ihr hervorragend. Bis sie vom Stuhl fiel und erst in der Notaufnahme aufwachte. „Lebensgefährlicher anaphylaktischer Schock.“ sagte ihr der Notarzt später. Dass sie noch einmal richtig Glück gehabt hätte. Seitdem führte sie immer ein Notfallset mit der Adrenalinspritze und den Medikamenten mit sich. Eines bewahrte sie in ihrer Handtasche, eines im Wohnzimmerschrank auf.
Heute Morgen nahm sie ihre beiden Notfallsets, legte sie auf den Boden und zertrat sie mit ihren Schuhen. Die zerstörten Reste lagen nun im Abfalleimer.
Sie setzte sich auf das alte, rote Sofa. Wie oft saß sie mit ihrem Rudolf darauf? Sie unterhielten sich, schauten einander an, tranken ihren Tee und waren sich selber genug.
Ein altes Sofa in einer Wohnung im Seniorenstift ergab kein neues zu Hause. Auch der frisch zubereitete Tee oder der Blick auf ihre Weihnachtsdekoration ergaben kein Gefühl von daheim sein. Das einzige Gefühl, welches sie spürte war, die Sehnsucht nach Rudolf.
Das hier war nicht ihr zu Hause. Nichts war ihr zu Hause ohne Rudolf.
Sie legte den Tonträger erneut auf, holte das kleine Pillendöschen aus der Handtasche und setzte sich wieder auf das Sofa. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, neben Rudolf zu sitzen. Jetzt spürte ihre linke Hand seine Hand. Mit den Falten und den Altersflecken, die sie alle einzeln kannte. Ihr Zeigefinger erspürte seinen Ehering. Wie gerne würde sie diese Hand noch einmal an ihrem Gesicht spüren, wie gerne würde sie noch einmal seine Worte hören.
Sie saß dort weiterhin mit geschlossenen Augen und hörte Mario Lanza zu. Als das letzte Lied erklang, hielt sie fest die Hand von Rudolf und öffnete mit der rechten Hand ihre kleine Pillendose.
Sie musste nicht hinein schauen, um zu wissen, dass die Erdnuss noch in ihr lag.
Foto:pixabay.com PICNIC-Foto







