Zum Teufel mit Weihnachten
So stand er nun in voller Pracht und schaute auf die Menge herab. Mit seinen knapp zwei Metern, die an allen Stellen durchtrainiert waren und einen wohldefinierten Körper zeigten, malte er sich Chancen für einen Platz auf dem Siegertreppchen aus.
Hans, der neben ihm positioniert wurde, war mit seinen ein Meter siebzig, und den teilweise kahlen Stellen, keine Konkurrenz für ihn. Oder Fritz
den Traummaßen, der beim Interview seine geistige Beschränktheit bewies, welche dem Moderator währenddessen ein Zucken um die Mundwinkel bescherte. Sven wiederum meisterte sein Interview sehr gut, da er hier seine Eloquenz und Cleverness unter Beweis stellen konnte.
Der pummelige Andreas überzeugte ebenfalls den Moderator und das Publikum, vor allem das weibliche. Sein starkes lispeln wirkte herzallerliebst auf die Zuschauer, seine Kleinmädchenstimme weckte bei manch einem Burschen den Beschützerinstinkt. Der smarte Sven witterte einen starken Konkurrenten in ihm.
Bernd, der von seinen Mitbewerbern nur „W.W.“, die Abkürzung für wabbelnder Wackelpeter, genannt wurde, würde sicherlich nicht auf eines der Siegertreppchen kommen.
Emil, Kevin und Marcel saßen mit Hans in einem Boot. Mit jeweils ein Meter sechzig waren sie zu klein, um zu gewinnen. Zukünftige Werbepartner würden auf ihnen zu wenig Fläche zur Verfügung haben, die sie schmücken könnten.
Ein kleiner, dicker Junge aus dem Publikum schaute ihn intensiv an. Seine stämmigen Beine lugten aus der Lederkniebundhose hervor. Seine Pausbacken waren ein knappes Pfund zu viel für einen 10-jährigen Bub. Eine Ähnlichkeit zu Franz Josef Strauß ließ sich nicht verleugnen. Genauso wenig verleugnen wie das Wissen, das in diesem Tal gerne miteinander und untereinander in den Familien – ja was schon – geschah. Offene Geheimnisse, die nicht einmal die BILD Zeitung mehr interessierten.
„Meins, meins, Opa“ rief er in Richtung seines Opas.
Der Opa schaute ihn an und nickte mit dem Kopf. „Pssssst.“
Dieser Junge war ein Kind zum Kneifen. Zumindest hätte seine Mutter ihn so bezeichnet.
Sven, der nicht umsonst der smarte Sven genannt wurde, schaute wütend zurück. Er zog die Nadelbehandlung der Kneifbehandlung vor. Der Betroffene hatte länger etwas davon. Und Sven ebenfalls. Langsam, Stück für Stück, würde er die Nadeln in die Waden stecken. Leider war der Kontakt zum Publikum verboten und führte zur sofortigen Disqualifikation.
Manchmal überkamen ihn böse Gedanken. Bevorzugt in der stressigen Advents- und Weihnachtszeit, wenn viele Menschen kurz vor´m durchdrehen waren.
Um sich abzulenken, schaute er zu Ludmilla hinüber, die mit ihren Traummassen den Miss Wettbewerb gewonnen hatte. Ihre rote Schärpe aus Seide betonte ihre Kurven nur noch mehr. In Höhe der ersten Reihe stand sie kerzengerade mittig im Gang.
Er wackelte mit seinen unteren Extremitäten und hatte die Worte seiner Ex im Ohr: „Was wackelst Du denn immer da unten rum? Willst Du wieder eine andere anmachen?“
Ja, die schöne Ludmilla benebelte seinen Verstand gehörig.
Erneut hörte er den Jungen wieder „Meins, meins“ sagen und dieses Mal auf Ludmilla zeigen. Mensch, konnte der Bengel nicht einmal in ganzen Sätzen sprechen!
Der Opa stand auf. Mit der Geldbörse in der Hand ging er Richtung Kasse.
Erschrocken schaute sich Sven nach Ludmilla um, die in seine Richtung nickte.
Den Satz: „Der Gewinner der Mr. Tannenbaum Wahl 2019 ist der smarte Sven“ hörte er kaum noch. Als ihm daraufhin die goldfarbene Schärpe angelegt wurde, lief er los. Der ersehnte Wahlsieg interessierte ihn nicht mehr. Behände sprang er von der Bühne, schnappte sich Ludmilla, verknotete ihrer beider Schärpen und verließ mit wehenden Ästen und Ludmilla auf den Ästen den Veranstaltungsort. Nicht umsonst wurde er zusätzlich auch der schnelle Sven genannt.
Zum Teufel mit Weihnachten! Er würde heute Nacht und an vielen weiteren Nächten, mit Ludmilla für Nachwuchs für den nächsten Kinderwettbewerb sorgen.
In diesem Sinne: Frohe Weihnachten
Drei Männer im Schnee
Gegenseitig Arm in Arm untergehakt, heimkommend von einer Veranstaltung, liefen sie in ihren Nikolauskostümen zum Professor heim. Der kein Wässerchen trübende Professor Jörg, der hagere Björn und der immer mürrisch wirkende, seine Tränensäcke nicht verstecken könnende, Alexander. Ihr Nikolauskostüm kaschierte ihre wahre Natur. Ihre faszinierende Sprachgewandtheit, führte dazu, dass zu viele Menschen an ihren Lippen hingen.
Zuvor hatten sie am Nikolauszug teilgenommen und bei dem sich anschließenden Nikolausfeuer sprach der Björn einige Worte, die schnell in eine lange Rede überging. Die Buhrufe störten ihn nicht, er konzentrierte sich auf die vielen Zuschauer, die ihm laut und teilweise gröhlend, zustimmten.
Das Nikolausfeuer war erloschen und frierend liefen sie zum Haus des Professors. Der Halbmond leuchtete ihnen, neben der einzig funktionierenden Straßenlaterne, den Weg über die Neckarbrücke.
Recht verfroren und berauscht von ihrer Rede kamen sie an. Sie fühlten sich in ihren Nikolauskostümen und der sich daran befindlichen Rute so wohl, dass sie sich nicht umzogen.
Alexander ließ sich plumpsend in den dicken Ohrensessel fallen, der Björn bevorzugte den harten Strohstuhl. Jörg holte eine Flasche Asbach Uralt aus dem Schrank und schenkte jedem großzügig ein. Aufwärmen von innen war nun angesagt. Den guten Jenssen Arcana Cognac hatte er bereits zuvor gut versteckt. Es wäre ein Sakrileg gewesen ihn an diese Banausen auszuschenken.
Während er zwischen ihnen auf einem Sitzpuff aus Pelz Platz nahm (ja, der Professor hielt seinen Hintern gerne warm), schenkte er eine Runde nach der anderen aus.
Um 20 Uhr schien es, dass der Björn nicht nur von innen gut aufgewärmt war. Sein Kopf glühte ebenfalls. Das war sicherlich keinem Hormonschub geschuldet.
Wer die Idee zum „Rückwärts den Kamin hochklettern“ Wettbewerb hatte, ließ sich im Nachhinein nicht mehr feststellen.
Björn legte seine Rute ab und kaum verschwand er in der offenen Kaminstelle, so wurde er auch nicht mehr gesehen. Beinahe stießen Jörg und Alexander mit ihren Köpfen zusammen, als sie den Schacht hochblickten. Da, da waren tatsächlich die dunklen Schuhsohlen von unten zu sehen. Der Björn konnte also nicht nur gut reden, sondern auch gut klettern. Lernt man so etwas als Lehrer auf dem Gymnasium? Oder auf einer Klassenfahrt? Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da kam er, nur leicht verschmutzt, unten wieder an.
Grinste siegessicher.
Der Alex, der Alex: Der wollte sich wirklich weigern. „Ich habe Rücken.“ „Ich habe Höhenangst.“
Es half alles nichts. Der Gastgeber bestand darauf, dass auch er am Wettbewerb teilnahm. Eine Runde Asbach Uralt, eine weitere Runde davon und mit Hilfe vom Björn verschwand auch er im Schacht, in dem es recht still wurde. Plötzlich wurde laut geflucht und in Sekundenschnelle war der Alex wieder unten. Insgesamt langsamer als der Björn, dafür mit einem angeknickten Fuß versehen.
Ein weiterer Asbach sollte den Schmerz lindern.
Jörg machte kein Aufheben um den Kamineinstieg. Ein großer Asbach auf Ex und schwupps verschwand er singend im Kamin. Unten am Kaminschacht glaubten Jörg und Björn ein schiefes „What shall we do with a drunken sailor“ zu hören oder war es ein schiefes „Hoch auf dem gelben Wagen?“
Nach gefühlten 10 Minuten erschien er unbeschadet. Glücklich lächelnd hatte er oben auf dem Dach den Mond und die Nachbarn angesungen.
Björn wurde einstimmig zum Sieger des „Rückwärts den Kamin hochklettern“ Wettbewerb ausgerufen. Dokumentiert wurde es mit einigen Selfies, die sofort an die Alice geschickt wurden. Sie wünschten ihr einen schönen Nikolausabend.
Die erste Flasche war schon lange geleert, die zweite nicht weit davon entfernt. Im angetrunkenen Kopf wollten sie Strippoker spielen. Den Björn begeisterte die Idee, der Alexander war strikt dagegen. Wollte er seinen Rettungsring nicht zeigen oder gab es andere Dinge zu verstecken? Hatte er vielleicht Haare auf den Rücken?
Stattdessen spielten sie Flaschendrehen. Drei Männer können dabei in dieser kleinen Runde viel Spaß haben. Die Frage: „Bist Du schon einmal ohne Slip aus dem Haus gegangen?“ wurde noch wahrheitsgemäß beantwortet. Bei der Frage: „Kannst Du Dir vorstellen mit Maske in einem Porno mitzuspielen?“ wurde das Spiel beendet.
Zu viel Alkoholgenuss macht meist hungrig. So erging es am Nikolausabend auch den dreien. Die Mägen knurrten, die Köpfe glühten, die Koordination der Beine war anders als am frühen Morgen oder noch am Nikolausfeuer.
Also wollten sie in der Altstadt beim Udo Snack eine große, leckere Currywurst Pommes essen. Mit viel Mayo.
Sie nahmen den gleichen Weg wie vom Nikolausfeuer. Dieses Mal in die andere Richtung.
Tja, wenn die letzte Straßenlaterne nicht defekt gewesen wäre, der Halbmond nicht hinter einer großen Wolke verdeckt gewesen wäre, hätten sie das große Loch in der Holzbrücke gesehen und wären nicht in den Neckar geplumpst.
Rettungsringe gab es keine, die eigenen, an den Bäuchen vorhandenen, halfen ihnen auch nicht.
An Sylvester fand man sie am Stauwehr. Arm in Arm, aufgebläht auf dem Rücken schwimmend, die Ruten im Gitter verhakt. Manch einer schwor: Sie schauten selig in die untergehende Sonne.
Oder waren es die Gaffer, die selig schauten?
Foto:pixabay.com
Es kann nicht immer Butter sein
32 Cent kostet 1kg Mehl, das Päckchen Zucker liegt bei 69 Cent. 99 Cent sind übrig. Würde es für einen kleinen Guglhupf reichen?
Es war reiner Zufall, dass sie auf ihrem täglichen Morgenspaziergang die 8 Pfandflaschen gefunden hatte. Nie verließ sie ohne ihren alten, lädierten Trolley die Wohnung. Die langen Gummihandschuhe, die sie beim Pfandsammeln überzog, ließen sich darin gut verbergen. Eine Pfandbeute ebenfalls.
Ihr Arzt hatte ihr schon Monate zuvor Krankengymnastik für die Hüftarthrose verschrieben. Die Zuzahlungen hierzu konnte sie sich nicht leisten. Also nahm sie seinen Rat an und schmierte ihre Knochen durch tägliche Morgenspaziergänge, wann immer sie sich ohne zu große Schmerzen bewegen konnte.
99 Cent:
Zu wenig für 250g Butter. In einen Guglhupf gehörte Butter. Nein, es ging nicht. Sie benötigte, wenn sie sich dieses Jahr einen Kuchen außer der Reihe gönnen wollte, noch Eier. Zu gerne würde sie welche von glücklichen Hühnern kaufen. Es ging nicht.
Zaudernd stand sie weiterhin vor dem Kühlregal.
Ein Pfund Pflanzenmargarine: Dafür würde es reichen.
Zwei lose Eier dazu, die sie mit etwas Milch strecken würde: Ja, so würde es gehen. Vanillinzucker würde ihr ein Nachbar borgen müssen, ein kleiner, alter Rest Backpulver würde schon genügen. Wenn sie den Guglhupf gut aufbewahren würde und einige Scheiben in dem kleinen Gefrierfach einfrieren würde, hätte sie im Januar auch noch etwas von dem Kuchen.
Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann es begonnen hatte. Als ihr Mann noch lebte konnten sie, trotz seiner kleinen Rente, Lebensmittel kaufen wenn sie sie benötigten. Auch gab es regelmäßig sonntags einen Braten oder zu Weihnachten eine kleine Nordmanntanne. Kleidung und Schuhe konnten erneuert werden. Einmal im Jahr gingen sie ins Theater. Selten ins Kino.
Vor 5 Jahren verstarb er an seiner Staublunge, die ihn seit dem 30. Lebensjahr plagte und dazu führte, dass er bereits mit 41 Jahren in Rente gehen musste.
Der Übergang zu der jetzigen Situation kam schleichend. Die Miete stieg stark von Jahr zu Jahr an. Die Heizkosten ebenfalls. Ihre jungen Nachbarn, die vor einigen Jahren als Studenten nebenan eingezogen waren, sprachen von „Gentrifizierung“. Was immer es bedeuten mochte, es hörte sich nicht gut an.
Sie packte die Einkäufe in ihren Trolley und lief langsam nach Hause zu ihrer kalten Wohnung. Nicht nur Lebensmittel waren in der letzten Zeit knapp gewesen, auch an der Heizung sparte sie. Die Kosten konnte sie kaum noch aufbringen. So heizte sie meist nur die Küche ein wenig, zog sich dicke Pullover an und ließ häufig das Licht aus. Radio konnte sie auch im Dunklen hören. An kalten Tagen schaltete sie gelegentlich den Kühlschrank aus und lagerte die wenigen Lebensmittel auf dem kalten Balkon.
Heiligabend:
In der kleinen Küche duftete es nach Kuchen. Der Guglhupf stand auf einer schönen Kuchenplatte, der Tisch war mit einer Spitzendecke gedeckt und die Heizung hatte sie zur Feier des Tages für einige Stunden weit aufgedreht. So saß sie in einem Kleid, welches ihr Mann ihr vor vielen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, auf der Eckbank in der Küche. Die Nachbarn borgten ihr gestern nicht nur ein Päckchen Vanillinzucker, sondern legten noch ein paar frische Tannenzweige und eine dicke rote Stumpfkerze dazu. Nun roch es in der Küche nach Weihnachten und Kuchen. Heimelig.
Im Radio lauschte sie, wie in jedem Jahr, dem Weihnachtsoratorium von Bach. Es würde ein langer Abend werden, den sie sehr genießen würde.
Bei „Ehre sei Dir, Gott gesungen“ legte sie den noch geschlossenen Brief der Hausverwaltung, der gestern per Einwurfeinschreiben in ihrem Briefkasten lag, unter die Tischdecke.







