Thomas Melle: Die Welt im Rücken
Klappentext:
Auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016
«Wenn Sie bipolar sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Und Sie wissen nicht mehr, wer Sie waren. Was sonst vielleicht als Gedanke kurz aufleuchtet, um sofort verworfen zu werden, wird im manischen Kurzschluss zur Tat. Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in welchen er bisweilen einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch diesen Abgrund, und was Sie jahrelang von sich wussten, wird innerhalb kürzester Zeit ungültig. Sie fangen nicht bei null an, nein, Sie rutschen ins Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf verlässliche Weise verbunden.»
Thomas Melle leidet seit vielen Jahren an der manisch-depressiven Erkrankung, auch bipolare Störung genannt. Nun erzählt er davon, erzählt von persönlichen Dramen und langsamer Besserung – und gibt einen außergewöhnlichen Einblick in das, was in einem Erkrankten so vorgeht. Die fesselnde Chronik eines zerrissenen Lebens, ein autobiografisch radikales Werk von höchster literarischer Kraft.
Von Thomas Melle las ich vor einiger Zeit „3000 Euro“, welches ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert war und fand das Buch vollkommen überbewertet. Sowohl inhaltlich als auch sprachlich.
Als er nun mit „Die Welt im Rücken“ wieder auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, machte mich das Buch nicht neugierig. Zu dem Zeitpunkt hatte ich es noch nicht in den Händen gehalten. Als ich verstand, dass er über seine manisch-depressive Erkrankung schrieb, wurde ich nur ein klitzeklein wenig neugierig. Vor einigen Jahren war ich händeringend auf der Suche nach Büchern zu diesem Thema, um festzustellen:
- Es gibt nur wenige Bücher zu dem Thema
- Diese wurden meist von der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störung heraus gegeben und waren ein Sammelsurium schlechter Texte
- Wenn es Bücher gab, erschienen sie als BoD und waren schlecht geschrieben
- „Matze, Dein Papa hat ´ne Meise“ war OK, weckte aber nicht mein Bedürfnis wirklich mehr über das Thema lesen zu wollen.
Dann kam der Tag, an dem ich eine Leseprobe von „Die Welt im Rücken“ erhielt. Gleich der Prolog mit der Beschreibung der verlorenen Bibliothek und dem Sex mit Madonna faszinierten mich. Inhalt, angedeuteter Humor und die Sprache: Ich musste das Buch schnell haben. Das Buch über „Manie & Depression. Vom Krieg zweier Ungeheuer“
Ungeduldig las ich es quer und „peng, peng“ erwischten mich die sprachgewaltigen Sätze. Deren Energien erschlugen mich beinahe und sogen mich in den Bann. Den obigen Satz werde ich in ähnlicher Form folgend noch häufiger nutzen.
Endlich begann ich das Buch von Seite 1 an zu lesen. Und war wieder von der Schonungslosigkeit und der Energie gepackt. Ich konnte es nicht an einem Stück lesen. Zu oft schweiften meine Gedanken in Erinnerungen ab und ich reflektierte. Dieser Prozess benötigte einige Wochen. Reflektieren, ohne in Selbstmitleid zu zerfallen, kostet Zeit und verbraucht Kraft. Da ich selber manisch-depressiv bin (der Göttin sei Dank habe ich keine Psychosen) ging die Kraft des Buches, die Kraft des Themas einfach nicht an mir vorbei.
Nun war diese Phase beendet und ich konnte das Buch endlich so lesen, wie ich ein Buch lese. Von Seite 1 bis zur letzten Seite.
Die Faszination wurde nicht weniger. Wie soll ich in Worte fassen, was diese Sprachgewalt von Thomas Melle hier ausmacht? Das Buch liegt weiterhin bei mir auf dem Schreibtisch. Gespickt mit vielen verschiedenen farbigen Post Its. Wäre es mein eigenes Buch, hätte ich Notizen über Notizen hinein geschrieben. Da es nur ausgeliehen ist, behalf ich mir mit diesen Mitteln. Auch beim dritten lesen bekam ich wieder das Gefühl: „Peng, dieser Satz knallt mir ins Gehirn.“ „Peng, dieser Satz brennt sich ein. „Peng, peng, dieser Satz strotzt vor Virtuosität“
Lese ich Sätze, in denen er die Depression mit dem Kampf gegen den Selbstmord beschreibt, so ziehe ich den Hut. Zwei Absätze, die alles beschreiben. Wofür andere ein halbes Buch benötigen würden. Kann man ihm böse sein, wenn er schreibt „die Psychiatrie ist ein Sammelsurium von Fehlexemplaren, die….“? Nein, denn er beschreibt es treffend.
Hier schreibt jemand über eine Erkrankung, die irgendwo nicht greifbar ist. Auch nach lesen des Buches versteht man sie und das Handeln eines Manisch-Depressiven als solchen nicht besser.
Melle schreibt über sich: „Wenn Sie manisch-depressiv sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr.“ Über diese nicht vorhandene Kontinuität schreibt er halt. Das könnten sicherlich einige. Doch wie macht er es, dass dieses Buch mich so in den Bann gezogen hatte. Und hat?
Zum einen, indem er nichts beschönigt und radikal offen schreibt. Er beschreibt die Abgründe genauso, wie die absurden Momente. Man kann sich darüber streiten, ob es nicht ausgereicht hätte, über eine manisch-depressive Phase zu schreiben, da sich theoretisch alles wiederholt.
Nein, es hätte nicht gereicht. Wenn er über seine Leben schreibt, welches durch die Erkrankung geprägt ist, gehören für mich alle seine drei Phasen dazu. Genauso gehört für mich dazu, dass er auch ein wenig über seine Kindheit schreibt.
Mich fasziniert seine Schonungslosigkeit, wie er über sein Leben, welches inzwischen durch die Erkrankung geprägt ist, schreibt und dieses analysiert.
Natürlich bin ich auch fasziniert, weil Thomas Melle einfach schreiben kann und mich mit den „Peng, peng Momenten“ packt. Bei mir entsteht der Eindruck, dass er nicht monatelang über Sätze und Worte gebrütet hat, sondern einfach geschrieben hat.
Er kann schreiben. In einer Qualität, die der Hammer ist. Die mich beeindruckt und mich zweifeln ließ jemals selber wieder etwas zu schreiben.
Hätte er den Deutschen Buchpreis bekommen, ich hätte es mehr als O.K. gefunden.
Stattdessen scheint er der Leonardo di Caprio des Deutschen Buchpreises zu werden.
Ist es große Literatur? Ich weiß es nicht, da ich mir ein Urteil darüber nicht zutraue. Ich weiß, dass mich dieses Buch auch gepackt und fasziniert hätte, wenn ich nicht selber manisch-depressiv wäre. Im Gegenteil. Das wurde mir ja erst wieder beim ersten vollständigen Lesen richtig bewusst.
Für mich ist es leichter, schlechte Bücher zu beschreiben. Hier finde ich Ansatzpunkte. Doch wie ein, in meinen Augen, grandioses Buch beschreiben, ohne in Floskeln zu ergehen?
Ich habe es mit den obigen Zeilen versucht.
Auszug der letzten Seite aus „Die Welt im Rücken“:
„Die Welt im Rücken werde ich nicht aufgeben. Die Hoffnung heißt: nie wieder manisch werden. Aber es mag mich noch einmal umhauen und hinaustragen, dann als quallig knochenloses Etwas heranspülen. Ich werde mir die Knochen wieder erarbeiten.“
Dieser Absatz gibt Hoffnung.
„Read what I see“: Sollen wir heute den Hund grillen?
Ich bin ein Spanner. Korrekt gesagt eine Spannerin. Eine, die im Caféhaus nicht die Ohren verschließen kann und deren Augen vieles aufmerksam betrachten. Häufig registriere ich diese Beobachtungen erst später richtig.
Ich kann nicht anders.
So auch heute. Eine Frau um die 70 Jahre, mit dicken aufgespritzten Lippen, sitzt in meiner Nähe. Ich sehe sie nicht zum ersten Mal. Ihr rechtes Handgelenk ist stets mit breiten Goldarmbändern behangen, die ich üblicherweise nur als Halsschmuck bei Rappern kenne. Links trägt sie eine sehr große himmelblaue Armbanduhr aus Plastik. Ihren Mittelfinger ziert ein sehr klobriger Ring. Das rosa T-Shirt sitzt eng, die darüber getragene rote Kapuzenjacke beißt sich farblich mit dem T-Shirt. Die Haare sind silberfarben gefärbt und glänzen an manchen Stellen in einem leichten lila Ton. Die Brille passt sich der Haarfarbe an, die Sneakers der Uhr.
Ihr Gegenüber sitzt ein älterer Mann, der kaum auffällt. Fast unscheinbar wirkt. Nur wenn er redet, wirkt er lebendig. Ich vermute in ihm ihren Ehemann.
Betreten beide das Café, so setzt sie sich an einen Platz, während er das Frühstück und den Milchkaffee für beide holt. In der Zeit greift sie zu ihrem Smartphone und tippt etwas hinein. Etwas? Dieser Vorgang ist nicht zu überhören. Zum einen klappern die dicken Goldarmbänder, zum anderen klappert jede Buchstabeneingabe unerträglich laut. Sie hat den Ton am Smartphone bei der Ziffern- oder Buchstabeneingabe nicht deaktiviert. So selig, wie sie beim Tippen lächelt, vermute ich dass dieser Ton in ihr irgendwelche erogenen Zonen aktiviert? Anders kann ich es mir nicht erklären, wie sie ohne Pause minutenlang irgendetwas eingibt, während ich schier verrückt werde. Mich törnt dieser Ton in dieser Frequenz und in dieser Häufigkeit überhaupt nicht an. Im Gegenteil. Ich werde unruhig und möchte ihr das Smartphone entwenden und versehentlich in den Gulli fallen lassen. Ihr Mann tritt an den Tisch, verteilt das Frühstück und für einen kurzen Moment kehrt Ruhe ein.
Stille.
Weihnachtsgeschichte 2024: Und der Mond schaut zu
Es war erst ein paar Stunden her, da saß Wilhelm noch auf seinem Lieblingsplatz: Auf der Theke neben der Kasse im Tante-Emma-Laden von Oma Gertrud. Neben dem Adventskranz, der inzwischen die meisten Nadeln verloren hatte. Dort hatte er noch der Frau Mayer, mit „ay“ ein Kompliment zu ihren frisch ondulierten Haaren gemacht. Ein Kompliment, welches sie nach jedem Friseurbesuch von ihm zu hören bekam. Ihn freute es, dass sie sich darüber freute. Ihn erfreute auch die darauffolgende Tüte mit Süßkram: „Gertrud, pack dem Jungen für 50 Pfennig Süßkram in die Tüte.“
Er mochte diese Routine.
Die Wangen mit Bonbons vollgestopft, verabschiedete er eine andere Kundin: „Tschüss, Frau Erkelenz.“
„Junge, das heißt „Auf Wiedersehen“. Tschüss sacht man nicht.“
„Oma, die Marta sagt aber immer tschüss.“
„Seit wann nennst Du Fräulein Busche Marta?“
„Oma, sie hat gesagt, ich bin jetzt groß genug, um sie Marta zu nennen. Und zum nächsten Tanzabend wird sie mich mitnehmen.“
„Junge, Du kannst doch nicht einmal tanzen. Und überhaupt, was willst Du denn anziehen?“
„Dein schönes Unterkleid oder Opas Anzug.“
Als sich Oma Berta kopfschüttelnd umdrehte, dabei murmelte: „Woher kennt der Junge mein Unterkleid?“, wechselte Wilhelm das Thema.
„Oma, soll ich noch eine Flasche Eierlikör für nachher mitnehmen?“
„Wenn eine reicht? Wenn nicht, musst Du nachher noch mal rüber laufen.“
Jetzt saß er im Lieblingssessel von Opa Albert. Die Kerzen am Weihnachtsbaum wackelten, da Oma Gertrud mit ihrem Albert zu ihrem Lieblingslied tanzte.
Sie hielt es wie die Holländer. Keine einzige Gardine hing in den Fenstern, so dass Nachbar Anton und der Mond ihre sicheren Tanzschritte sehen und vermutlich ihren Gesang hören konnten.
Trug sie hinter der Kasse in ihrem Tante-Emma-Laden immer einen geblümten Kittel, dazu ihre neuen bequemen Birkenstock Schuhe, die sie am liebsten nicht mehr ausziehen wollte, so hatte sie sich nun in Schale geschmissen. Die Pantoffeln gegen Spangenschuhe mit einer schicken Schleife vorne getauscht und ein wunderschönes, schwingendes rot gepunktetes Kleid angezogen. Es fehlte nur noch der kleine Hut, den sie sonst auf Beerdigungen trug, den Wilhelm allerliebst fand. Damit sah sie aus wie eine Prinzessin. Eine ältere Prinzessin.
Wie es mit der üblichen Schiesser Feinripp Unterhose aussah, konnte nur vermutet werden.
Noch war ihr Gesang nicht so schräg, dass der Mond sich hätte riesige Kopfhörer aufsetzen wollen.
Feierschichten, Rußlungen, rußgefärbte Häuser, der Smog oder die Forderung Willy Brandts, der den Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau haben wollte: All das war für den Moment vergessen, wenn Oma Gertrud in Opa Alberts Arm zum Mond von Wanne-Eickel tanzte und dem Plattenspieler schwindelig wurde, vom wieder und wieder aufsetzen der Nadel auf die Platte.
Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai (hmmm).
Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.
Diese Zeilen sang Oma Gertrud immer wieder mit. Hörte man genau zu, konnte man leises Fernweh erahnen? Wünschte sie sich manchmal weit weg von ihrem Tante-Emma-Laden, der ihr ein und alles war und dennoch einzwängte?
Wilhelm suchte die gute Flasche Eierlikör raus, nach diesem Sport würde Oma ein Likörchen brauchen. Oder auch zwei. Wenn es drei wurden, bot sie ihm meist das dritte Pinnchen zum Ausschlecken an.
Für Opa Albert holte er die Flasche Asbach aus dem Wohnzimmerschrank. Er kannte den Opa gut. Um in den Genuss einer Tanzpause, oder Hörpause, zu kommen, würde er nicht nein zu einem Gläschen sagen.
Inzwischen war es dunkel. Zeit Schnittchen für die gleich eintreffende Sippe zu machen. Doch ein Tanz musste noch sein.
Der Mond von, ja von wo, schaute zu. Sowie die Nachbarn.
Heiligabend 2024:
Getrud Becker
1905 – 1986
steht auf dem Grabstein
„Prost, Oma Gertrud.“
Wilhelm, der inzwischen auch Opa ist, stellt ein Glas Eierlikör auf ihrem Grabstein ab, während er seins auf Ex leert.
Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai (hmmm).
Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.
Ich kenn’ die ganze Welt von Rio bis Port Said,
ich war zu Gast im Zelt beim Ölscheich von Kuwait.
Ich kenn’ die Cote d’Azur, die Rosen von Athen,
Mallorca, wo am Kai Germanen Schlange steh’n.
Und jeder staunt ganz ungemein,
doch ich sag’ nein, nein, nein, nein, nein – ich sage nein!
Nichts ist so schön….
Frau Adelgunde Schmidt, die schwärmte jedes Jahr,
wenn sie aus Spanien kam, wie schön der Mondschein war.
Denn sie hat nachts am Strand bei Vollmond noch entdeckt,
dass jeder Kuss direkt nach Tarragona schmeckt.
Und jeder staunt ganz ungemein,
doch ich sag’ nein, nein, nein, nein, nein – ich sage nein!
Nichts ist so schön….







