„Read what I see“: Es duftet

 „Das ist guuuuut. Das ist schööööööön!“
Nein, dieser Satz wird nicht von einer Patientin auf einer Massageliege gestöhnt.
Dieser Satz wird von einer in „4711“ getunkten, mit riesigem Perlenschmuck behangenen, älteren Dame in den Raum gestoßen. Automatisch frage ich mich, wie so viel Schmuck auf so wenig Frau Platz finden kann. Weitere Gedankengänge sind erst einmal unterbrochen, denn meine Gehirnsynapsen werden durch eine Überforderung meiner sich in der Mundhöhle befindlichen Synapsen gestört.
Der durchdringende Geruch von „4711“ breitet sich über den ganzen Raum aus und erreicht meine Zunge wie eine überdimensionierte Feinstoffwolke.
Der nächste Schluck meines entkoffeinierten Espresso verursacht ein Chaos in meinem Mund und hinterlässt einen Geschmack nach alter, mit Asphalt angereicherter Spüllauge.
Ich möchte ein Schluck Wasser zum nachspülen trinken, doch die „4711“ Wolke legt sich überall nieder. Ich befürchte, dass sie sich einen Weg unter die mit Kronkorken versiegelten Wasserflaschen bahnt oder es sich bereits im Zugang zum Wasserhahn gemütlich gemacht hat.
Ein Kaugummi würde keine wirkliche Hilfe bringen, also bitte ich die Kellnerin um zwei Kaffeebohnen, die ich tapfer und mit stoischem Gesichtsausdruck zerkaue. Bitterer Kaffeegeschmack kann wirklich Erleichterung verschaffen.
Mein Kopf funktioniert wieder und ich wäge die Möglichkeiten ab, die ältere Dame wegen „duftiger Körperverletzung“ anzuzeigen. Diesem Gedanken muss ich in Ruhe folgen.
Wer ist diese Frau, die diesen Satz so laut stöhnte? Zumindest ist sie eine Frau, die sich über ein kleines Müsli mit frisch gepresstem Orangensaft, auf eben diese Art freuen kann.
Die ihren großen Flechteinkaufskorb stolz trägt, die eine eng geschnittene Bluse mit Tigermuster trägt und über all´ den Perlen noch einen überdimensionierten blau gemusterten Schal drapiert. Von allem irgendwie etwas zu viel. Ihre Cordjacke, mit den Flicken an den Ellenbogen hat sie locker auf dem Stuhl neben sich gelegt und bei einer Armbewegung von ihr fühle ich mich in der ausgeströmten Wolke gefangen. Misshandelt.
Dieser übermäßige Gebrauch von Kölnisch Wasser vernebelt mein Gehirn, er verlangsamt meine Bewegungen. Ich möchte fliehen und kann nicht umhin, ihrer Unterhaltung zu folgen.
„Wusstest Du es schon, die Annemarie arbeitet jetzt als Domina in ihrer Garage.“
„Ja mei, wirklich? Das hatte ich mir doch schon immer gedacht.“
Ich halte inne. Was hört mein vernebeltes Hirn? Die Annemarie arbeitet nun also als Domina in ihrer Garage. Ich muss innerlich lachen und denke sofort an die typischen Verhörer im Radio: Statt „The Phone rings“ wird meist: „Da vorne links“ verstanden oder statt „All my feelings grow“ verstehen viele: „Die Oma fiel ins Klo“.
Ich möchte nicht hinüber gehen und nachfragen, in welchem Beruf die Annemarie wirklich tätig ist. Die zu erwartende Duftkonzentration würde mich eventuell in die absolute Reizüberflutung, mit einer nahenden Ohnmacht, treiben.
Stattdessen frage ich mich, ob die Garage eine Einzel- oder eine Doppelgarage ist. Oder gar eine Reihengarage?
Wo mag sie stehen? Vor einem Einfamilienhaus, neben einem Mehrfamilienhaus? Wie gestaltet sich die Außenwerbung? Was würde ich sehen, wenn sich das automatische Garagentor öffnen würde? In einer Einzelgarage vermutlich nicht viel? Etwas Ausstattung und eine Dame? Eine junge oder eine ältere? Und was noch? Würde ich etwas zu hören bekommen (Ich denke automatisch an den Song der Ärzte „Bitte, bitte“)?
Die Hausfrau in mir kommt durch und fragt sich, ob es Platz gibt für ein kleines Badezimmer?
Fragen über Fragen.
Ich könnte nun ein stattliches Gedankenkarussell laufen lassen, doch muss ich wissen, ob es wirklich eine in der Garage arbeitende Annemarie gibt?
Ich hänge meinen Gedanken nach und vermute immer stärker, dass es richtig hätte heißen müssen: Die Annemarie hat nun eine neue Garage. Dazu würde auch die Antwort der zweiten Frau passen.
Die ältere Dame hat ihr stöhnen beendet. Orangensaft und Müsli wurden verspeist und sie verlässt das Café.
Statt weiterhin über Annemarie nachzudenken, stelle ich Vermutungen an, wo die ältere Dame solch lautes und intensives stöhnen gelernt haben könnte?

„Read what I see“: Samstagmittag

Es ist Samstag. 13:05 Uhr. Drei Frauen, die ich innerlich sofort mit der Bezeichnung „Madämchen“ versehe, betreten das Café. Woran liegt es, dass ich sie sofort in eine bestimmte Schublade stecke? Vermutlich an ihrem Verhalten, welches erkennen lässt, dass sie nicht allzu oft in einem Bäckerei Café mit Selbstbedienung verkehren?
In einer Dreierfront stehen sie geschlossen, auf die Getränke- und Speisekarte an der Wand gegenüber blickend, an der Selbstbedienungstheke.
Alle drei tragen Spangenschuhe mit kleinem Absatz, enge bunte Hosen mit passender Oberkleidung und den identischen Haarschnitt: Einen Bubbikopf. Jede trägt ihn in einer anderen Blondierung. Die Sonnenbrille ist im Haar aufgesetzt oder befindet sich noch auf der Nase. Die großen Handtaschen trägt eine jede unter die Achsel geklemmt. Kleine Risse und aufgeplatzte Nähte an den Handtaschen lassen erkennen, dass sie älter oder schon lange in Gebrauch sind.
Die Kleinste von ihnen erhebt ihre Stimme und fragt: „Haben Sie auch eine Karte?“
„Leider nicht. Hier oben ist alles aufgeführt. Inklusive aller Getränke.“
„Machen Sie noch Frühstück?“
„Ja, selbstverständlich.“
Die Köpfe werden zusammen gesteckt. Ich höre ein leises: „Ich möchte aber ein Spiegelei.“ Eine andere sagt: „Mir ist es egal.“
Plötzlich wackeln alle drei Bubbiköpfe.
Eine von ihnen bestellt: „Wir möchten des:“ (Was ist „des“?)
„Ein Kaffee mit Brezel reicht.“
Mir ist nicht klar, ob diese Entscheidung aus finanziellen Gründen getroffen wird oder um der Figur willens.
Der Versuch den Kaffee mit Zucker zu versehen ist vorerst nicht von Erfolg gekrönt. Es scheint, als wären sie es nicht gewohnt ihren Zucker selber zu dosieren und einzufüllen.
Sie zahlen getrennt und tragen ihr Tablett mit der Butterbrezel und dem Kaffee nach draußen auf die Terrasse. Die Stühle werden umgestellt, so dass jede auf die Straße blicken kann. Eine Sitzposition wie ich sie in den ersten Reihen der Cafés in Paris erlebt habe. Die Brezeln werden auseinandergerissen und getunkt.
Plötzlich schnellt die Größte von ihnen hoch: „Ich muss mein Auto in den Schatten umsetzen“, verschwindet und parkt ihren Fiat 500 ein paar Meter weiter unter einen Baum.
Anschließend nimmt sie wieder neben den beiden anderen Platz. Alle haben die Beine übereinander geschlagen, tragen ihre Sonnenbrillen nun auf den Nasen und zünden sich eine Zigarette an. Auf die Entfernung meine ich die Sorte Eve 120 zu erkennen. Nun erlebe ich endlich Frauen, die diese Sorte rauchen.
Während ich meinen Latte Macchiato genieße und in einem Buch lese, gleitet mein Blick immer wieder zu den drei Frauen hinüber. Ja, sie benehmen sich als wären die Menschen in ihrem Umfeld Bedienstete. Wie passt dann der Fiat 500 ins Bild? Ein Auto umsetzen, damit es sich nicht aufheizt, obwohl es normalerweise über eine Klimaanlage verfügt?
Sie erinnern mich an Frauen, die einmal im Jahr im Rotary Club einen Flohmarkt veranstalten um dann generös den Erlös zu spenden. Sie erinnern mich an Frauen, wie ich sie in den 90er Jahren im Tennis Club erlebte. Doch wer sind sie wirklich? Wer könnten sie sein? Drei Frauen, die ein sehr kleines Klassentreffen ehemaliger Pensionats Schülerinnen abhalten? Ex-Frauen, die sehr viel bessere Zeiten erlebt haben. „Frau Doktor“ oder „Frau Geschäftsführerin“, die nach der Scheidung nicht ihrem gewohntem Standard entsprechend abgefunden wurden?
Wie wird der Tag für sie weiter gehen? Werden sie ihn schwitzend und kichernd bei einer kleinen Landtour über die Schwäbische Alb im Auto verbringen? Kichernd vermutlich nicht. Die ganze Zeit sah ich nicht eine von ihnen lächeln. War das Brezelfrühstück für sie das heutige Highlight?
Ich werde es nicht erfahren.
Irgendwie kann ich mir vorstellen, dass sie von hier zum Vorsprechen nach Wien fahren. Für die nächste Staffel der „Vorstadtweiber“. In den Rollen der aus der Versenkung auferstandenen Schwiegermütter. Bessere Zeiten erlebt hatten und sich wieder bessere Zeiten, mit allen ihren Wirrungen und Irrungen, wünschend.