Thomas Roser: Der Tote im Bärenzwinger (Walter Kühn, Band 1)

Klappentext:
Atmosphärisch und voll düsterer Geheimnisse – ein spannender Krimi des Balkan-Spezialisten Thomas Roser.
Die dunkle Vergangenheit wirft ihre Schatten auf Serbiens Hauptstadt.
Zerrissen von den Raubtieren, wird ein Toter im Bärenzwinger des Belgrader Zoos entdeckt. Der Zoodirektor und die Polizei reden von Suizid, aber daran glaubt der Großvater des Opfers nicht. Er bittet seinen Freund, den deutschen Korrespondenten Walter Kühn, in dem Fall zu recherchieren.
Walter, dauerhaft in einer finanziellen Krise, übernimmt zuerst sehr zögernd. Seine Abscheu vor Waffen macht ihn im Belgrader Milieu zu einem denkbar schlechten Ermittler, doch seine Hartnäckigkeit bringt ihn voran. In der Metropole mit den düsteren Geheimnissen der Vergangenheit stellt er zu viele Fragen – und gerät auf die Abschussliste einer Miliz, die alles daransetzt, dass sein erster Fall auch sein letzter bleibt …

Der Autor beschreibt sich folgendermaßen: Dem Schreiben ist Balkan-Korrespondent Thomas Roser schon sein ganzes Leben lang verpflichtet. Als Korrespondent deutschsprachiger Tageszeitungen berichtete er seit 1995 erst aus den Benelux-Staaten und nach der Jahrtausendwende aus Polen. 2007 schlug der rastlose Grenzgänger seine Zelte im serbischen Belgrad auf. Nach einer Veröffentlichung seiner Alltagskolumnen »Post vom Balkanspion« in 2017 tritt er mit »Der Tote im Bärenzwinger« erstmals als Krimi-Autor in Erscheinung.

Die Handlung lässt sich schnell beschreiben: Im Bärenzwinger des Belgrader Zoos wird ein nackter, zerrissener Toter entdeckt. Die Polizei und der Zoo sprechen von einem Suizid, was der Großvater des Toten nicht glauben mag. Dieser beauftragt den Journalisten Walter Kühn den Tod zu untersuchen. Mangels Aufträge und Geldnot übernimmt er den Fall, welchen er recht schnell auflöst. Es folgt ein zweiter Auftrag, den er ebenfalls aus Geldnot übernimmt.
Die Auflösung zu dem ersten Todesfall erfolgt grob bereits im Prolog. Mutig ein Buch so beginnen zu lassen oder geschieht es eher aus Überzeugung, dass der Leser trotzdem am Ball bleibt?
Der Protagonist unterscheidet sich nicht von anderen Ermittlern, die zu viel trinken und in der Sonne schwitzen. Man hat es einfach schon zu oft gelesen. Es vergeht kaum eine Seite auf der nicht beschrieben wird wie Walter Kühn sein Bier trinkt oder sein Schweiß tropft. Mir erschwerte es das Lesen ungemein und nicht nur einmal dachte ich: „Nicht schon wieder.“ Dies schleppt sich über 237 Seiten, in denen er die beiden Aufträge bearbeitet und durch seine Ermittlungen ins Visier der Miliz gerät. Natürlich überlebt er seine Ermittlungen.
Nebenbei erfährt der Leser oberflächlich etwas über den ehemaligen Krieg in Serbien und die Verbindungen in die Gegenwart, auf die die Lösung des Buches beruht.
Das Buch wird u.a. Als „Walter Kühn, Band 1“ angekündigt. Mir stellt sich die Frage, auf was ein Band 2 aufgebaut werden soll. Der Charakter wurde diesbezüglich noch nicht ausreichend entwickelt. Mich würde es leider nicht reizen, eine Fortsetzung zu lesen.

Wer Krimis mit etwas geschichtlichen Hintergrund und saufenden Ermittlern/Protagonisten mag, der wird dieses Buch mögen.

Warum denken Journalisten oder Kolumnenschreiber so häufig, dass sie auch Bücher schreiben sollten? Vielen möchte ich sagen: Schuster, bleib bei Deinen Leisten. Oder im konkreten Fall: Einen weiteren, verlotterten, versoffenen Ermittler benötigt die Krimiwelt nicht wirklich.

Sarah

Sarah saß auf der Bettkante und betrachtete das Gesicht ihres Gegenübers im Kissen. Das Gesicht von Lille. Den blonden Flaum über ihrem Mund, die lange Nase. Im Schlaf wirkte sie harmlos. „Wie konnte ich bloß auf diese Hackfresse reinfallen?“ dachte sie, während sie die Wärme der Lichter des über 2,50m großen Weihnachtsbaums im Rücken spürte. Mit Millionen auf dem Privatkonto bestand Lille, der Kosename für Alice, auf den Trend zur Zweittanne. Zählte man den kleineren Baum im Kinderzimmer der zwei Jungen mit, so beherbergte ihr Haus insgesamt drei Nordmanntannen. Drei, die Lille in wenigen Stunden allein genießen konnte.

Als Sarah nichts mehr über „Kopftuchmädchen“ „alimentierte Messerstecher“ „Festung Europa“ und anderen Nazisch… hören konnte, ritt sie irgendwann der Teufel und sie nahm ein paar größere Umbuchungen von Schweizer Firmenkonten auf Konten in Deutschland – vorrangig in Baden-Württemberg – vor. Dazu benötigte sie nicht einmal Hackerkenntnisse. Arroganz, gepaart mit Dummheit, und einfache Passwörter erleichterten ihr das Eindringen in die Onlinekonten. Nachdem die Buchungen in Deutschland öffentlich wurden, war das Geschrei groß und Sarah erwartete hohe Strafzahlungen für das Dreckspack. Wer Spendenbetrug betreibt, sollte sich nicht erwischen lassen oder zumindest nicht schweigen. So dachte Sarah nun. Es war immer noch besser Bußgeld zu zahlen, als die Gelder in einen Wahlkampf zu stecken oder in eine geplante TV-Station. Welch eine Horrorvorstellung Lille rund um die Uhr sehen zu können. Oder zu müssen.
Es geschah bereits im Herbst, dass Sarah für ihre Jungs an Nikolaus den Knecht Ruprecht buchte. DEN Knecht Ruprecht. Als sie die Fotokartei der Modellagentur durchforstete, blieb ihr Blick nicht nur einmal an ihm hängen. Als Unterwäschemodell sehr gut ausgebucht, erlebte er im Dezember regelmäßig eine Auftragsflaute, die er mit Einsätzen als Knecht Ruprecht überbrückte. Mal mit dicker Rute ausgestattet, mal mit Nikolaus im Anhang, mal mit dem Stock oder der Gerte, mal im roten Kostüm, mal nur im roten Stringtanga. Immer den Wünschen des Kunden, der Kundinnen und ihrer Kinder gerecht werdend.

Am 6. Dezember klopfte er pünktlich um 18 Uhr an. Die Jungs waren begeistert von ihm. Obwohl ihnen die Unterschiede zwischen Nikolaus und dem Knecht Ruprecht bekannt waren, genossen sie seine dominante Show, während in der Ecke der Holzofen bollerte. Die Temperatur stieg und stieg im Haus. Dem Knecht Ruprecht wurde es offensichtlich zu warm. Viel zu warm. Daher zog er oben blank. Der mit Schweißtropfen durchtrainierte Oberkörper beeindruckte die Jungen sehr. Fasziniert lauschten sie seinen Erklärungen, wie man sich mit einer halben Stunde Training solch einen gestählten Körper antrainieren konnte. Knecht Ruprecht untertrieb und log ein bisschen. Kinder sollte man nicht demotivieren und früh genug würden sie, falls sie ernsthaft interessiert wären, seine Notlüge verstehen. Unter zwei Stunden täglich würden sie nicht davonkommen können. Nicht nur die Jungen staunten. Sarah war sprachlos: Dieser Körper. Diese Stimme. Diese Eloquenz.

Um einen langen Abend, eine lange Nacht, kurz zu machen: Während Lille in Berlin weilte, die Jungs im Bett schliefen, weihten sie und Knecht Ruprecht das Rehfell vor dem Holzofen ein.
Dabei blieb es nicht. Bereits am nächsten Tag besprachen sie ihren Auszug und den Einzug bei ihm.
In den folgenden Tagen trafen sie sich täglich. Knecht Ruprecht, der Alexander hieß und heißt, und Sarah mit ihren zwei Jungs, die ihn ebenfalls sofort in ihr großes Herz geschlossen hatten.
Die heimlichen Treffen gaben ihr so viel Energie, dass binnen 24 Stunden die Idee zu ihrem Film: „In bed with Tino and Björn“ entstand. Sie war fest davon überzeugt als Produzentin einen Kinoerfolg zu schaffen.

Es geschah an Heiligabend, als Sarah beschloss das Haus an diesem Tag endgültig, erst nach einem Abstecher an ihren ehemaligen Schreibtisch,zu verlassen. Sie loggte sich in alle ihr bekannten Schweizer Onlinekonten ein und begann ein paar (eine herrliche Untertreibung) größere Echtzeitüberweisungen von fremden Firmenkonten zu tätigen. Wie definiert man groß? Groß ist groß. So groß, dass sich viele Konten der UNHCR weltweit über die hohen Geldeingänge freuten.

Inspiriert durch: Broilers: „Alice und Sarah“

Foto: pixabay.com Alexas_Fotos

 

Es geschah zu jener Zeit – Barbara

Es geschah zu jener Zeit
Sinnlich betrachtete Peppone sein Küchenmesser, bevor er die Sardellen von Kopf und Schwanz befreite. Die ordinäre Hausfrau oder eine alte Mama würden hierfür eine Küchenschere verwenden. Doch Peppone, um seine favorisierten Stiche ins Herz gebracht, bevorzugte den Einsatz seines Messers, dessen handgearbeitete Klinge 21 Zentimeter maß. Im Alter von 13 Jahren wurde es ihm von seinem Capo in einer Zeremonie überreicht als er seinen Weg als Sgarrista begann.
Ein wenig Training reichte bei ihm, um bereits am Montag darauf zum ersten Mal zu töten. Aus dem Handgelenk heraus gelang ihm der sichere Stich ins Herz. Schmerzloser als es seine Auftraggeber häufig wünschten.
Wie oft er sein Handgelenk seitdem schwang ist nur dem aktuellen Capo Di Tuttu I Capi bekannt. Der ein oder andere Betonklotz, ein Säurefass oder Lupara kamen ebenfalls zum Einsatz, doch sein Liebling blieb „Barbara“. Sein Messer.
Er benötigte eine kurze Pause, um sein Acciughe Ripiene Al Forno im Kopf zu sortieren. So sehr ihn sein Kurzzeitgedächtnis verließ, so konnte er sich auf sein Langzeitgedächtnis verlassen. Eine kleine Pause im Schaukelstuhl und ein Glas Barolo Frankia von Giacomo Conterno würden ihm helfen. Der 2016er wurde ihm nach seinem letzten Auftrag vom aktuellen Capo geschenkt. Peppino genoss regelmäßig ein Glas, nicht nur zu besonderen Anlässen wie dem heutigen Familientreffen. Er ebnete ihm den Weg in das gelebte und geliebte Gestern. Ein tiefer Schluck und Mariella erschien vor seinem Auge. Ein weiterer tiefer Schluck und er roch ihr langes Haar, ihr Parfum, spürte ihre Haut an seiner Hand und hörte ihr herzliches lachen. Warum nur ließ er es zu, dass sie 1980 ihre Cousine in Avellino besuchte? Mit ihr verlor er bei dem Erdbeben ihr ungeborenes Kind. Tränen liefen über seine Wangen.
Am ersten Weihnachtstag 1978 verlobten sie sich im Haus ihrer Eltern, die nichts von seinen Fähigkeiten mit Barbara wussten. Seine Anstellung in der Kfz-Werkstatt, und der spätere Erwerb dieser, boten ihm eine perfekte Tarnung. Und dem Cappo einige Möglichkeiten der Geldwäsche, nachdem er sie später um den Handel mit hochwertigen Alfa Romeos ergänzte. Einen alten, roten Spider fuhr er heute noch. Sofern ihm sein Neffe nicht die Autoschlüssel versteckte.
Am ersten Weihnachtstag 1979 kochte er zum ersten Mal sein Sechs-Gänge-Menü für Mariella. So sehr er zur alten Garde gehörte und damals auch seine Frau am liebsten in der Küche und der Kirche sah, so sehr tauschte er am ersten Weihnachtstag die Rollen und kochte für sie.
Zuppa DI Fagiano Al Porto, Camoscio in Salami und als Vorspeise Acciughe Ripiene Al Forno waren seit damals die festne Bestandteile des Menüs. Sein Neffe bezeichnete letzteres als profanes Sardellen Sandwich. Eine angeheiratete Großnichte einer Patchworkfamilie, diese Familienform schien leider modern zu sein, gar als „Stulle mit Fischgeschmack“, nachdem sie zum ersten Mal von Sardellen Sandwiches hörte und nicht wusste, was sich dahinter verbarg.

Es geschah zu jener Zeit, dass er diese Tradition etablierte. In Erinnerung an Mariella und ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest als Ehemann und Ehefrau. Sie träumten von den vielen Bambinis, die sie schaffen wollten. Spaß an der vorbereitenden Arbeit hatten sie.
Eine weitere Träne lief über seine Wange. Im Lager seiner ehemaligen Werkstatt stand immer noch die Wiege, die er in seinen Pausen geschnitzt hatte. Seit 1980 wurde sie regelmäßig entstaubt, doch er brachte es immer noch nicht über sein Herz sie an ein Mitglied der nächsten Generationen weiterzugeben.
Kurz fand sein erster Cappo den Weg in seine Erinnerung. Dank ihm wurde er mit 13 Jahren zum Mann und ernährte fortan seine vier Schwestern und seine Mutter. Nicht lange darauf konnte er ihnen und ihm den Umzug in eine trockene Wohnung mit Badezimmer ermöglichen. Sein Vater starb Jahre zuvor bei einem Arbeitsunfall und die kleine Witwenrente stürzte seine Familie in bittere Armut. Einmal nahm seine Mutter ihn in die Arme, schaute ihm tief in die Augen und sprach: „Ein Mann muss tun, was er tun muss.“
Erteilte sie ihm damit ihren Segen? Sie sprachen nie wieder darüber.

Das Klingeln riss ihn fort von Mariella. Er öffnete seinem Neffen die Haustür und ging zurück in die Küche, um vorsichtig mit seinen Daumen das Rückgrat der Sardellen aus dem Fleisch zu lösen, so dass die beiden Filets von der äußeren Haut zusammengehalten wurden. Das Backblech fettete er mit etwas Öl ein und legte zwölf Sardellen mit der Haut nach unten dicht nebeneinander darauf. Jede Sardelle bestreute er mit etwas Kräutermischung, Pinienkernen, Salz und Pfeffer und beträufelte sie mit etwas Zitronensaft. Darauf legte er eine weitere Sardelle mit der Haut nach oben, so dass sich ein Sandwich ergab. Die halbe Scheibe Weißbrot schnitt er in Würfel und streute sie drüber. Das restliche Olivenöl goss er in einem feinen Strahl darüber.
Der Anfang war geschafft.

 

Foto: Pixabay.com Amoraio

 

Kleid und High Heels

Klack, klack

Ich liebe meine High Heels. Im Schneegestöber auf dem Brückengeländer zu der Musik zu tanzen, die sich nur im meinem Kopf befindet. Gloria Gaynors „I will survive“ hört sich nur laut in meinem Kopf gut an. Ich singe laut mit und höre dennoch das magische klack klack der Heels auf dem Geländer. „I“ – klack- „will“- klack „survive“-klack.
Nach dem halben Song ist das Ende der Brücke erreicht. Ein aufstampfen, klack klack. Eine Umdrehung. Mein rotes Kleid dreht sich mit, mein Mantel dreht sich mit. Weiter geht es. Weiterlesen

Weihnachten in der Fremde – Rudolf

Es war noch nicht so lange her, da ging er aus dem Haus, um sich Zigaretten zu holen. Die Tage zuvor schimpfte sie noch mit ihm, weil er im Alter diesem Laster wieder neu frönen musste.
Im Sandkasten lernten sie sich damals kennen, in den Kriegstagen wuchsen sie auf und verloren sich nie aus den Augen.
Nun, mit über 80 Jahren, nahm er manchmal ihr Gesicht in die Hände, schaute sie an und flüsterte zärtlich: „Was dem Helmut seine Loki, das bist Du für mich.“
Mehr als 60 Jahre waren sie miteinander verheiratet. Sie wünschten sich Kinder, doch die Natur hatte es nicht gewollt. Letztendlich waren sie sich beide genug. Sie sahen vieles von der Welt und ihr Haus war ein offenes Haus. Freunde hatten sie reichlich, sofern sie noch lebten.
Von dem letzten Zigarettengang kam er nicht zurück. „Herzinfarkt. Er wird keine Schmerzen gespürt haben.“ So erklärte man es ihr später.
Ihr Rudolf war nicht mehr bei ihr. Sie war nicht mehr seine Loki.

Ihre Sprache hatte sie in den vergangenen Wochen, schon vor dem Umzug in dieses schöne Seniorenstift, verloren. Das letzte Wort sagte sie bei seiner Beerdigung. Der Kopf so klar, ihre Gefühle so klar, doch der Mund weigerte sich einen Ton von sich zu geben.
Ihre Freunde besuchten sie gelegentlich, doch der ausgesprochene Trost erreichte sie nicht. Sie spürte, wie ihre Freunde mit ihrer Sprachlosigkeit nicht umgehen konnten.

Trauer kann so schmerzen. Sie möchte schreien und konnte wieder nur den Mund tonlos öffnen.

Sie ging zum Schallplattenspieler und legte den Tonträger auf die LP von „Mario Lanza“. Seit vielen Jahren hörten sie ihn an Heiligabend gemeinsam. Ein kleines Ritual, bevor die Geschenke ausgepackt wurden. Ja, auch nach allen gemeinsamen Jahren hatten sie immer noch Ideen für Geschenke, mit denen sie den anderen überraschten.

Beide waren gesundheitlich auf der Höhe. Es ziepte ein wenig hier und da, aber  es reichte  immer noch, um auf dem Spielplatz in der Nähe eine Runde zu schaukeln und sich die Welt von oben anzuschauen. Keiner rechnete damit, vor dem anderen zu gehen.
Sie erinnerte sich noch gut an Ostern. Mit Rudolf besuchte sie das neue thailändische Restaurant. Das Curry mit der Erdnusssauce schmeckte ihr hervorragend. Bis sie vom Stuhl fiel und erst in der Notaufnahme aufwachte. „Lebensgefährlicher anaphylaktischer Schock.“ sagte ihr der Notarzt später. Dass sie noch einmal richtig Glück gehabt hätte. Seitdem führte sie immer ein Notfallset mit der Adrenalinspritze und den Medikamenten mit sich. Eines bewahrte sie in ihrer Handtasche, eines im Wohnzimmerschrank auf.

Heute Morgen nahm sie ihre beiden Notfallsets, legte sie auf den Boden und zertrat sie mit ihren Schuhen. Die zerstörten Reste lagen nun im Abfalleimer.
Sie setzte sich auf das alte, rote Sofa. Wie oft saß sie mit ihrem Rudolf darauf? Sie unterhielten sich, schauten einander an, tranken ihren Tee und waren sich selber genug.
Ein altes Sofa in einer Wohnung im Seniorenstift ergab kein neues zu Hause. Auch der frisch zubereitete Tee oder der Blick auf ihre Weihnachtsdekoration ergaben kein Gefühl von daheim sein. Das einzige Gefühl, welches sie spürte war, die Sehnsucht nach Rudolf.

Das hier war nicht ihr zu Hause. Nichts war ihr zu Hause ohne Rudolf.

Sie legte den Tonträger erneut auf, holte das kleine Pillendöschen aus der Handtasche und setzte sich wieder auf das Sofa. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor, neben Rudolf zu sitzen. Jetzt spürte ihre linke Hand seine Hand. Mit den Falten und den Altersflecken, die sie alle einzeln kannte. Ihr Zeigefinger erspürte seinen Ehering. Wie gerne würde sie diese Hand noch einmal an ihrem Gesicht spüren, wie gerne würde sie noch einmal seine Worte hören.
Sie saß dort weiterhin mit geschlossenen Augen und hörte Mario Lanza zu. Als das letzte Lied erklang, hielt sie fest die Hand von Rudolf und öffnete mit der rechten Hand ihre kleine Pillendose.

Sie musste nicht hinein schauen, um zu wissen, dass die Erdnuss noch in ihr lag.

 

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„Read what I see“: Typisch H. ……?

Der lauwarme Oktobertag verführt zu einem Besuch auf den Friedhof. Am Himmel zeigen sich dunkle Wolken, die sich langsam vor die Sonne schieben, und dennoch genug Wärme bis zu mir durchlassen. Der Weg vom Parkplatz bis zum Kolumbarium ist kurz. Über der Schulter trage ich eine große Tasche, in der sich die bepflanzte Grabschale befindet. Unter dem Arm die Gießkanne.Auf der Bank vor dem Kolumbarium setze ich die Tasche ab. Die Gießkanne stelle ich unter diese. Neben anderen. Die Grabschale platziere ich auf eine freie Fläche auf dem großen Sockel links von der Bank. Ein wenig verschiebe ich dazu eine Pflanzschale. Hier stehen Laternen neben bepflanzten Schalen, Blumentöpfen und Grablichtern.

Während ich mich mit einem Angehörigen unterhalte, wir in Erinnerungen schwelgen, nähern sich drei Männer der Bank. Ihre Unterhaltung ist bereits von weitem zu hören. Man unterhält sich darüber, dass die Zeit als Rentner nie ausreicht und dass man die Heizung natürlich so weit aufdrehen wird, wie man möchte. Ist doch egal, ob das Gas für alle reichen wird.

Inzwischen sind alle drei an der Bank angekommen. Einer von ihnen schaut sich die abgestellten Dinge auf dem Sockel an, stürzt sich beinahe auf diesen, hebt die Grabschale, die ich erst vor wenigen Minuten dort abgesetzt habe, grob an und stellt sie an eine andere Stelle. „Das ist MEIN Platz. Da stehen immer meine Dinge! Wie kann man nur so unverschämt sein und meine Schale verschieben?!“ Während er diese Sätze brüllt, schiebt er seine wenige Zentimeter beiseite, so dass sie parallel zu einer Laterne steht. „Wer wagt sich das? Hier stehen immer die Sachen für meine Frau. IMMER!“
Dieses Verhalten macht mich sprachlos. Während ihm seine Begleiter zustimmen, befürchte ich, dass ihm gleich Unmengen an weißem Schaum aus dem Mund tropfen. „Wehe, wenn auch nur ein Tropfen die Grabschale meiner Mutter benässt.“ denke ich lautlos.
Mein Angehöriger erwähnt, dass wir seine Schale etwas verschoben haben, damit eine weitere abgestellt werden konnte.
Der alte Mann zetert weiter. Mir wird es zu bunt. „Ich empfinde Ihr Verhalten als recht asozial. Natürlich ändere ich diesbezüglich meine Meinung, wenn Sie mir die Rechnung der Friedhofsverwaltung zeigen aus der hervorgeht, dass Sie die Steinfläche gepachtet haben, um ausschließlich Ihre Dinge dort abzustellen.“
„Das gibt es nur hier, dass man meinen Platz nicht respektiert.“
Aha.
Das gibt es also nur hier. Kann ich ihn wirklich als asozial bezeichnen? Eine der Definitionen lautet: „Asozial“ bezeichnet an sich ein von der anerkannten gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten: Ein Individuum oder eine Gruppe verstößt durch die eigenen Handlungen gegen geltende gesellschaftliche Normen und gegen Interessen anderer Mitglieder der Gesellschaft. Greift der letzte Teil des Satzes? Oder ist es nur Egoismus, gepaart mit Altersstarrsinn? Er taxiert mich, was mich nicht aus der Ruhe bringt. Mit festem Blick betrachte ihn von oben bis unten. Das rote Poloshirt ist in eine graue Bundfaltenhose gesteckt, der beige Gürtel passt optisch nicht dazu. Ebenfalls die bunten Turnschuhe, die vermutlich nicht einmal ein zwanzigjähriger mehr tragen würde. Der über die Schultern drapierte Pulli macht das Outfit komplett. Ich möchte wetten, dass sowohl auf diesem als auch auf dem Poloshirt ein Lacostekrokodil prangen.
Für einen kurzen Moment verspüre ich den Wunsch ein Mann zu sein, den Reißverschluss meiner Hose zu öffnen und auf… Abgesehen davon, dass dies schlecht für´s Karma ist, empfinde ich diese kurze Anwallung dann doch als primitiv.

Ich stelle meine Ohren auf Durchzug und schüttele innerlich immer noch mit dem Kopf. Letztendlich entgehe ich der Situation, indem ich mich mit einer Besucherin ein paar Urnenfächer weiter unterhalte. Sie ist ebenfalls über den alten Mann entsetzt und erzählt von ihren Erfahrungen. Auf dem Sockel, auf dem sie und andere Dinge abstellen, werden beinahe täglich Dinge gestohlen, Pflanzen herausgerissen oder beschädigt.
Für mich ist das kaum vorstellbar und kaum nachvollziehbar. Wer und warum macht man das? Sie vermutet, dass es Angehörige sind. Wie verwahrlost muss der Charakter sein, um dies zu machen? Vor Jahren wurden einige Urnengräber im Kolumbarium aufgebrochen, Urnen und etliches mehr zerstört.
Ich frage mich, ob das typisch für H. ist? Die Zerstörung, die ich bei einem Besuch hier erfuhr, als jemand in mein heiß geliebtes Youngmobil fuhr, Fahrerflucht beging und einen Totalschaden hinterließ. Oder vor vier Wochen Reifen an meinem alten Möhrchen zerstochen wurde. Dinge, die mir nicht einmal in Irland in sozialen Brennpunkten passierten. Hier geschah es auch zum ersten Mal in einem Café, dass mein Tisch mit Kaffee, Buch und Kuchen leergeräumt war, als ich von der Toilette kam. Ein altes Ehepaar fand meinen Platz im Schatten so gut, dass sie kurzerhand meine Dinge „entsorgten“.
Ist dieser alte Mann ebenfalls typisch für H.? Oder ist er einfach nur dumm und primitiv? Er verlässt den Friedhof, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er natürlich zur Kontrolle zurückkommen wird.

Ach, ein Kontrollfreak? Oder ein misstrauischer Mensch? Oder ein ehemaliges Parteimitglied in der ehemaligen DDR? Meine Phantasie würde noch viele weitere Vermutungen hergeben.

Laut Grabplatte verstarb seine Renate 2017. Wie mag er sich ihr gegenüber verhalten haben? Auch nur laut redend? Im Umgang rechthaberisch? Ihr zu führendes Haushaltsbuch täglich kontrollierend? Ihr die Tür aufhaltend oder vorausgehend und ihr diese vor der Nase zuschlagend? Seinen Hobbies frönend, während sie daheim die Wohnung in Schuss zu halten hatte? Sich Markenkleidung gönnend und sie musste daheim Kittel tragen? Auf Kochen, Gartenpflege und putzen reduzierend? Oder zwang er sie in eine ungeliebte Stellung, um sich stets den neuesten Mercedes leisten zu können, den er Samstag vor der Sportschau wienerte?
Ich weiß es nicht und möchte es nicht wissen.
Oder führt Trauer zu einem solchen Verhalten?
Er hat mir die heutige Zwiesprache mit meiner Mutter verdorben. Ich stehe von der Bank auf, als er erneut um die Ecke kommt. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich kontrollieren werde.“

Was kontrollieren?

Er ist doch nur ein armer Wicht.

 

 

Foto: privat

Laetitia Colombani: Der Zopf

Klappentext:

Die Lebenswege von Smita, Giulia und Sarah könnten unterschiedlicher nicht sein. In Indien setzt Smita alles daran, damit ihre Tochter lesen und schreiben lernt. In Sizilien entdeckt Giulia nach dem Unfall ihres Vaters, dass das Familienunternehmen, die letzte Perückenfabrik Palermos, ruiniert ist. Und in Montreal soll die erfolgreiche Anwältin Sarah Partnerin der Kanzlei werden, da erfährt sie von ihrer schweren Erkrankung.
Ergreifend und kunstvoll flicht Laetitia Colombani aus den drei außergewöhnlichen Geschichten einen prachtvollen Zopf.

Es gibt Bücher, die nimmt man in die Hand und kann sie, unabhängig davon auf welcher Seite man sie beiseitegelegt hat, sofort weiterlesen. Dieses Buch ist ein solches.
Auf den ersten Blick zeigt das Cover den Inhalt des Buches recht deutlich. Ein Zopf wird auf grünem Hintergrund geflochten. Dieser stellt die Gemeinsamkeit von drei Frauen dar: Ihre Haare.
Die Geschichten um Smita, eine unberührbare aus Indien, die Geschichte um eine erkrankte erfolgreiche Rechtsanwältin und die Geschichte einer Fabrikantentochter werden zum Ende des Buches in Form eines Zopfes miteinander verflochten.
Dieses Buch bezeichne ich als ein „Hachz“ Buch. Es berührt und die Geschichten gehen teilweise nah. Ein Buch, welches nun genau passend zum Herbst eingemummelt in eine Wolldecke zu Stunden auf dem Sofa verführt.
Natürlich kann nicht die ganze Lebensgeschichte der drei Frauen bis zum Ende erzählt werden. Ein spannender, wunderbarer Anfang wurde gemacht, der viel intensiver hätte ausgeschöpft werden können. Und diesen Vorwurf mache ich dem 288 Seiten Buch. Die Geschichten wurden angeschnitten, wirken wie ein Auftakt zu einem Fortsetzungsband oder gar einer Trilogie, leider nicht wie ein eigenständiges, abgeschlossenes Buch. Es weckt Hunger auf mehr.

Ich mag es nicht hungrig zu bleiben.

„Read what I see:“ Mit dem Dampfschiff „Colonia“ über`n Rhein

Davor:
Auf einer Bank im Schatten am Rheinufer sitzend warte ich auf die Ankunft des Dampfschiffes „Colonia“. In meiner Ausflugstasche befinden sich Mineralwasser und Sandwich, sowie mein Notizbuch nebst Bleistift und Radiergummi.
Auf der Bank rechts von mir sitzt eine Frau, die an einem bunten Korb häkelt. Ihr Blick ist auf die vorbei flanierenden Passanten geheftet, während ihre Häkelnadel in einem Affentempo durch das Garn jagt. Die Wärme setzt ihr optisch zu, obwohl sie ebenfalls im Schatten sitzt. An den Schläfen bahnen sich die Schweißtropfen ihren Weg in schnellem Tempo Richtung Hals, während vom Kopf her in stetigem Fluss Nachschub tropft. Das von mir angebotene Mineralwasser lehnt sie dankend ab.
Der angekündigte Regenschauer verzog sich bereits eine Stunde zuvor in irgendeine Richtung und machte der schwülen Wärme Platz, die den Wunsch nach einem großen Ventilator aufkommen lässt.
Links von mir sitzen zwei ältere Frauen, deren Beine mit identischen Wanderhosen bekleidet sind. Ihre Füße stecken in beigen Nylonsocken, die sicherlich Schweißfüßen nicht vorbeugen? Ohne Punkt und Komma reden sie, zeigen dabei auf Passanten und ja, ich gebe es zu: Gerne würde ich ihren Worten lauschen, doch bin ich ihrer Sprache nicht mächtig.
Geradeaus sehe ich den Turm mit dem RTL Logo, neben den weiteren braunen Gebäuden, den ehemaligen Messehallen. Nicht alles, was denkmalgeschützt ist muss schön sein. Wenn ich die Hallen sehe, assoziiere ich sie immer mit Nazibauwerken (obwohl zeitlich davor erbaut), mich daran erinnernd, dass sie als Außenlager des KZ Buchenwald verwendet wurden.
Bis zur Panoramafahrt über den Rhein dauert es noch eine halbe Stunde. An der Anlegestelle bildet sich bereits eine lange Schlange. Das ist ja noch schlimmer als in Lindau am Bodensee. Ach, Köln wäre wirklich schön ohne die Touristen.
An der Promenade sind viele Menschen unterwegs. Radfahrer fahren in Fußgänger, Fußgänger laufen in Radfahrer.
Halb rechts schaue ich auf die Hohenzollernbrücke. Die große Brücke, an der zehntausende Liebesschlösser hängen. Wie viele Liebesschlossbesitzer sind noch miteinander glücklich? Wie viele Schlösser stehen inzwischen für eine gescheiterte Beziehung? Wie viele Schlösserbabies mag es inzwischen geben?
An mir vorbei schiebt ein älterer Mann eine Art Bollerwagen. Er trägt ein gestreiftes T-Shirt, sein Kopf ist mit einem Käppi bedeckt und im Mundwinkel hängt eine dicke Zigarre. Er erinnert mich irgendwie an Popeye. Der Bollerwagen verfügt in der Mitte über eine Art kleinen Tisch. Auf diesem Tisch liegen die Köpfe von drei kleinen Mädchen, die im Wagen sitzen und sich laut schnarchend von Popeye schieben lassen. Was mag ihnen der Tag bereits abverlangt haben, dass sie erschöpft einschlafen? Oder wirkt der Zigarrenqualm auf sie wie eine Schlaftablette? Sie rühren mich.

An Bord:
Inzwischen hat die „Colonia“ angelegt und ich sitze an einem Tisch direkt an der Reling. Schilder weisen darauf hin, dass mitgebrachte Getränke und Speisen an Bord nicht verzehrt werden dürfen. Dennoch trinken die Passagiere aus mitgebrachten Getränkeflaschen und leeren ihre Vesperboxen. Manch einer schaut sich dabei um. Fürchtet er eine aufmerksame Kellnerin, die ihn maßregelt? Ich weiß es nicht.
Eine vierköpfige Clique in den 30ern setzt sich zu mir an den Tisch. Ich schätze sie als intelligent ein, dennoch erzählen sie kaum auszuhaltendes dummes Zeugs. Meine Ohren versuche ich auf Durchzug zu stellen und lieber die frische Brise und den Ausblick zu genießen.
Der rechts neben mir sitzende nervt die Kellnerin mit ausgefallenen Getränkewünschen, obwohl die Getränkekarte diese nicht hergibt. Ein anderer erzählt, dass ihm immer dolle übel wird, wenn er auf See ist. Na ja, zählt ein langsam fahrendes Dampfschiff auf dem Rhein dazu?
Aha: Köln verfügt über sieben Rheinbrücken erzählt die Stimme aus dem Lautsprecher. Diese Info werde ich in wenigen Minuten bereits vergessen haben, da ich sie nicht als überlebenswichtig einstufe.
Nun fahren wir unter den Seilbahnen hindurch. Ich frage mich, ob diese wirklich von Kölnern benutzt wird, die sie für eine Fahrt von Deutz zum Zoo nutzen oder eher ein „Must have“ für Touristen sind? Noch erschließt sich mir der Reiz nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie an einem schwülen Tag wie heute nur mit aufgeheizten Gondeln in Verbindung bringe?
Oh, die Clique vergleicht gerade Stuttgart mit Köln und lässt Stuttgart viel besser wegkommen. Ich würde anders werten. Beiläufig erfahre ich, dass alle in Stuttgart wohnen. Kein Wunder, dass sie Stuttgart nicht neutral vergleichen können. Die Clique besteht aus den erwähnten vier Personen. Der mit seiner Seekrankheit kokettierende, und den zweiten Aperol Spritz trinkend, ist mit Angie liiert. Angie trägt ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht wird durch eine große Sonnenbrille verdeckt. Ihre Stimme hat einen gelangweilten Unterton und sie nöhlt. Unangenehme Stimme. Die beiden anderen Männer scheinen ebenfalls ein Paar zu sein. Einer von ihnen, der rechts neben mir sitzende, dominiert die Unterhaltung.
„Also, ohne eine Sonnenbrille brauche ich erst keine Bootsfahrt zu machen.“
„Nein, Deine Frauensonnenbrille will ich nicht. Wo ist denn in ihr meine Sehstärke?“ (In ihr? In einer Brille? Was soll das sein?)
Ein merkwürdiger Satz. Er ist der Typ, der all´ die Getränke bestellen möchte, die die Karte nicht hergibt.
„Ängschie, was sollen wir heute Abend essen? Bloß nicht wieder so etwas profanes wie Pizza!“
Auf diese Art und Weise bestreitet er die Unterhaltung. Auf mich wirkt er, als möchte er intelligent und sarkastisch herüberkommen. Stattdessen erzeugt er bei mir ein starkes Gefühl des fremden Schämens. Sein Partner hält sich verbal zurück.
Der Wind hebt sein Hemd an und legt eine Stelle seines Unterarms, die eine Tätowierung zeigt. Ich sehe bunte tätowierte Farbkleckse, die …. irgendwie überflüssig ausschauen. Ich mag Tattoos. Stilvolle. Doch wie definiere ich nun stilvoll?
Die Lautsprecherdurchsagen erwähnen weitere wichtige Informationen über Köln. Als Tagestourist muss ich abends selbstverständlich mit einem prall gefüllten Kopf heimkommen? Wie lange mag das neue Wissen abgespeichert bleiben?
Die Sonne, der Fahrtwind, der Rhein – ich fühle mich gut. Die Unterhaltung der Stuttgarter blende ich aus und beobachte ein paar der Passagiere. Die zwei Frauen in Wanderhosen von der Promenade sehe ich erneut. Sie plaudern weiterhin ohne Punkt und Komma. Hinter mir sitzt ein älteres Ehepaar, die sich die ganze Zeit anschweigen und steif auf ihrem Stuhl sitzen. Nur wenn sie ihre Kaffeetasse an den Mund führen, kommt etwas Bewegung in sie hinein. Ihnen gegenüber sitzen ein Junge und ein Mädchen im Teenageralter. Da sie dem Paar ähnlichsehen, vermute ich, dass es ihre Kinder sind. Auch diese geben kaum einen Ton von sich. Sie heben den Blick nicht von ihrem Smartphone und nehmen ihr Umfeld vermutlich kaum wahr. Schade. Oder wurde es ihnen nicht vorgelebt miteinander von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren?
Ebenfalls an Deck sitzen vier betagte Frauen, die sich entschieden haben, jetzt und sofort das „Kaffeegedeck“ zu bestellen. Einen Pott Kaffee, serviert mit einem Stück Kuchen zum Sonderpreis. Die Kellnerin versucht sie zu überzeugen, dass es zeitlich eng wird, da bald angelegt wird. Egal. Sie würden dann halt schnell essen und trinken und zuletzt von Bord gehen. Kurz danach höre ich sie noch nach einer großen Portion Sahne rufen und muss an Udo Jürgens denken.
Trotz der blendenden Sonne versuche ich Fotos zu machen. Das Selfie, vermutlich bin ich die einzige Frau in Deutschland, die kein gescheites machen kann, besteht nur aus wehenden Haaren.
Das Dampfschiff (woran könnte ich bloß erkennen, dass es sich wirklich um ein Dampfschiff handelt?) wendet und bald wird der Fahrspaß ein Ende haben.
Vorne rechts sitzt ein Pärchen mit einem kleinen Jungen, der zu weinen beginnt. Nicht laut, doch hört man es. Der unangenehme Typ rechts von mir schaut hinüber und sagt überdeutlich laut: „I fucking hate kids.“
„Ich nur, wenn aus ihnen später empathielose Arschlöcher werden.“ Dabei schaue ihm ins Gesicht.
Der Satz kam einfach so über meine Lippen. Überlegt? Unüberlegt? Na ja, zum Überlegen blieb nicht wirklich Zeit.
Angie murmelt etwas: „Das hast Du Dir verdient.“ Mir ist ihr Zuspruch egal.
„You get what you deserve“ würde meine Freundin sagen.
Ich genieße die letzten Minuten an Bord, bezahle meinen Kaffee und schaue weiter auf den Rhein.
Wir legen an. Der „I fucking hate kids“ Mann springt auf. „Los, steht auf. Wir sollten vor dem Pöbel los gehen!“
Pöbel?
Pöbel wird definiert als ungebildete, unkultivierte in der Masse gewaltbereite Menschen (der gesellschaftlichen Unterschicht).
Ich wünsche diesem dummen Arschloch, dass er gleich die sehr steile Gangway hinauffällt und auf dem Bauch rutschend unten auf den Pöbel trifft.
Andererseits: Karma wird es richten.

Ich verlasse das Schiff und stürze mich weiter in mein heutiges Touristen Dasein in Köln.

 

 

Foto: privat

Opel

Neuopel

Dat gibbet doch nicht. Kaum habe ich meinen Neuopel eingeparkt – nicht unbedingt in Bordsteinnähe, sondern mehr in Richtung Straßenmitte – höre ich die Tana von oben schon  brüllen. „Kindchen, wie hasse den denn zusammen gekriegt? Mann, der erste Manta in unserer Straße. Watt ein schöner Anblick.“

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Kolumne: Prinzessin Tausendschön

Wir kennen sie alle: Die Märchen, in denen hochmütige Prinzessinnen die Hauptrolle spielen. Zu überheblich, um auf den ersten Blick den unter Umständen versteckten Traumprinzen zu erkennen. Manchmal gelingt es ihnen über einen Umweg einen Bauern, Schweinehirten oder Handwerker kennenzulernen und ihr Glück zu finden. Gelegentlich sitzen sie noch heute auf ihrem Seerosenblatt. Verweilen in ihrer eigenen Welt und klagen diese an. „Alle sind böse.“ oder „Alle sind gegen mich.“ lauten die Lieblingssätze und Gedanken.
Prinzessin Tausendschön gibt es in verschiedenen Formen auch in der heutigen Zeit. Das Seerosenblatt wurde gegen die pastellfarbene Couch getauscht. Umgeben von dicken Kissen und Flaschen wird hier der größte Teil des Tages verbracht. Statt dem summen der Bienen, summt der Fernseher rund um die Uhr. RTL II, RTL oder VOX – was die Stimmung gerade begehrt wird in Endlosschleife angeschaut. Natürlich ist das Umfeld der heutigen Prinzessin ihr gegenüber böse. Zumindest in ihrer ureigenen Wahrnehmung: „Mein Ex-Mann gibt mir nicht meinen Anteil am Haus.“ „Mein Rechtsanwalt vertritt mich nicht richtig beim Hausverkauf. Der lässt meinen Ex-Mann viel zu lange auf Zeit schinden und ruft mich nie zurück.“ „Meine Kinder wollen nur mein Geld.“ „Meine Schwester gibt mir mein Erbe nicht.“ Und und und Weiterlesen