Kolumne: Beschämende Szenen im Café

Ich vergewisserte mich, dass sich die Mutter und Freundin eines kleinen Jungen etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch) und so verließ ich das Café.
Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.
Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.
Ich schäme mich.

Einige Zeit zuvor: Es war der vergangene Mittwoch: Bergfest, wie manche gerne sagen. Die Sonne schien an diesem Wintertag und trieb die Menschen in Mengen in die Stadt und in die Fußgängerzone. Auch ich traf mich mit einer Freundin in ihrer Pause in dem großen Bäckerei-Café gegenüber der Kirche in Reutlingen.
Wir plauderten ein wenig und sahen zwei kleine Kinder in der Spieleecke. Ein blondes Mädchen und einen kleinen dunkelhaarigen Jungen. Ich maß dem keine Bedeutung zu.
Nachdem meine Freundin wieder zur Arbeit ging, schmökerte ich ein wenig in einem Buch, als mich ein weinendes Kind aus meiner Lektüre riss. Ein erwachsener Mann hatte diesen kleinen, vielleicht zweieinhalbjährigen, Jungen heftig geschlagen und schimpfte laut auf dessen Mutter ein.
„Sie haben Ihr Kind nicht erzogen, der hat meine Tochter gehauen, natürlich kann ich ihn schlagen, wenn Sie ihr Kind nicht erziehen!“
Weinend saß der Kleine auf dem Schoß seiner Mutter, die mit, leicht, ausländischem Akzent und zitternder Stimme dem Mann versuchte Einhalt zu gebieten.
„Ich schlage mein Kind nicht und Sie haben meinen Jungen geschlagen. Das dürfen Sie nicht. Warum machen Sie das?“
Wie im Laufe der nächsten Minuten, wiederholte und wiederholte er sich.
„Natürlich kann ich Ihr Kind schlagen. Er hat meine kleine Tochter beim Spielen gehauen. Ich darf das, wenn Sie Ihr Kind schon nicht erziehen.“
Inzwischen kam die Mutter des Mädchens hinzu und unterstützte ihren Mann. Beide betonten laut, mit von mir inzwischen als hysterisch empfundenen Stimmen, dass es in Ordnung ist, wenn ein erwachsener Mann ein Kleinkind heftig schlägt.
Die Ausgangssituation war: Zwei kleine Kinder spielten und der Junge hatte das kleine Mädchen gehauen. Eine Situation, die sich in Kindergärten und Kinderzimmern sicherlich täglich nicht nur einmal ereignet. Selbst für mich als Nicht-Mutter ist dies ein kindgerechtes Verhalten, welches keinen Eingriff eines Erwachsenen bedurfte.
Die Mutter des kleinen Jungen fragte weiterhin: „Warum haben Sie mein Kind geschlagen? Warum machen Sie so etwas? So etwas macht man nicht mit einem Kind.“
Die Antwort bestand aus einer sehr angespannten Körperhaltung ihres Gegenübers und der Aussage, dass er es tun dürfte.
Das ganze zog sich über einige Minuten hin. Die Atmosphäre war mehr als angespannt und die sehr lautstarken Aussagen des Vaters wirklich nicht zu überhören. Die Situation schien zu kippen.
Niemand schritt ein. Versuchte zu deeskalieren oder der Mutter zu helfen. Zwischenzeitlich hatte ich mich auf den Tisch der Mutter zubewegt, an dem der Vater des kleinen Mädchens drohend stand. Während ich in meinem Kopf ebenfalls sehr lautstarke, an den Vater gerichtete, Sätze formulierte, die auch das eine oder andere Schimpfwort beinhalteten, blieb ich äußerlich ruhig. Stimmlich ebenfalls. Innerlich brodelte ich.
Meine Intuition sagte mir, mich eher ruhig zu verhalten. Diesen Mann schätzte ich so ein, dass es heute nicht bei dem einen Schlag einem Kind gegenüber bleiben könnte.
Ich versuchte die Mutter zu trösten, ihr ein Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht alleine ist, dass Hilfe geholt werden kann, dass ich da bleiben würde. Eine Freundin von ihr saß zwar ebenfalls mit am Tisch, hielt sich aber zurück.
Plötzlich legte der Vater erneut los. Wiederholte den Satz immer und immer wieder, dass er den Jungen hätte schlagen dürfen und arbeitete dann mit weiteren Argumente.
Dann schrie er es der Mutter des kleinen Jungen fast ins Gesicht:
„Vergessen Sie nicht: SIE sind nur Gast in unserem Land.“
Gefolgt von dem Satz, den er zuvor ständig laut gesagt hatte.
Er setzte sich mit seiner Frau und seiner Tochter wieder an seinem Platz in die Mitte des Cafés und brüllte von dort aus weiter.
Wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen empfand ich die Gäste des Cafés. Die Angestellten des Cafés. Niemand tat auch nur irgendetwas in irgendeiner Form.
Im Gegensatz zu den drei Affen konnten sie den Vorgang beobachten und taten dies teilweise sehr neugierig.
Im Gegensatz zu den drei Affen hörten sie, was geschah und tuschelten darüber.
Im Gegensatz zu den drei Affen hätte ein jeder, eine jede den Mund öffnen können.
Nichts geschah.
Gewünscht hätte ich mir:
Vom Personal: Vom Hausrecht Gebrauch zu machen oder die  Polizei zu rufen.
Der Mutter und ihrer Freundin einen neuen heißen Tee zu servieren und sie zu trösten.
Von den Gästen: Dem Mann Paroli zu bieten.
Stattdessen kam: Nichts.Nichts.
Von mir hätte ich mir gewünscht: Die Gäste direkt anzusprechen und sie zu bitten unterstützend einzugreifen.
Warum beschreibe ich diesen Vorfall so ausführlich? Die Ausgangssituation war ein sonniger Tag mitten in der Woche. Viele Menschen gingen in die Innenstadt, ein Café war gut besucht, zwei Kinder spielten, ein kleiner Junge mit dunklen Haaren hatte ein kleines, blondes, Mädchen leicht gehauen, wie es viele kleine Kinder untereinander tun.
Eine Mutter, die mit einem leichten ausländischen Akzent sprach, saß mit einer Freundin –  beide bekleidet mit einem Kopftuch –  in diesem Café.
Ein Gast wird einem Kleinkind gegenüber handgreiflich, beschimpft die Mutter, schafft eine sehr bedrohliche Situation, in der niemand agiert. Ich handelte etwas zu spät.
Die ganze Situation hätte wirklich eskalieren können. Hätte irgendjemand Zivilcourage gezeigt? Ich behaupte nein.
Meine Idee, die Polizei zu rufen und dem Vater des Mädchens beim Verlassen des Cafés zu „verfolgen“, um mitteilen zu können wo er weiter anzutreffen wäre, wollte die Mutter des Kleinen nicht umsetzen.
Die Wut und auch der Ekel aus diesem Erlebnis sind weiterhin nicht verschwunden. Ja, ich verurteile die Menschen, die nicht eingegriffen haben. Die der Mutter etwas Trost gespendet haben oder dem Vater des Mädchens entgegengetreten sind. Sicherlich beschrieb ich die Situation zuvor als angespannt. Doch hätten einige Besucher zusammen gehandelt, wäre die angespannte Situation zu überwinden gewesen.
So empfinde ich ihr Nichtstun als feige. Als widerlich.
Nachdem ich mich vergewisserte, dass Mutter und Freundin des kleinen Jungen sich etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch), verließ ich das Café.Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.

Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.

Ich schäme mich.

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