„Read what I see“: Fingerspuren

Mit einem leisen Plopp kullern die Orangen automatisch in die Saftpresse. Tropfen für Tropfen werden sie in der großen Karaffe aufgefangen. Der Kaffeeautomat röchelt und spukt den Kaffee in die Tasse aus. Ich sitze an einem Tisch in einem Café und möchte den neuen Thriller zu lesen beginnen, während ich ein Croissant in den heißen Milchkaffee stippe. Zuvor einen Schluck trinken, das aufgestäubte Kakaopulver vorsichtig abschlürfen und den Prolog lesen, der gleich mit mehreren Toten aufwartet. Ein Start in den Tag, und in das Buch, wie ich es mir wünsche.
Eigentlich.
Plötzlich steigt der Lärmpegel, der mich zwingt den Kopf in die Runde zu heben. Eine Fahrradfahrergruppe bestehend aus zwei Erwachsenen und vier Kindern betreten das Café. Die Kinder stürmen weiter auf die Terrasse, auf der sich anscheinend bereits Bekannte aufhalten. Tische werden zusammengerückt, sich herzlichst begrüßt, um dann den Weg zur Theke zu finden.
„6 Nudelgerichte und 6 Mal Apfelschorle, bitte.“
„Sonntags bieten wir keine Nudelgerichte an.“ Diesem Satz folgen Schmollschnuten und laute Diskussionen auf Seiten der Eltern, während die Kinder unisono nach Butterbrezeln rufen. Diverse Eierspeisen und viele Butterbrezeln werden kurz darauf nach draußen an die zusammengestellten Tische getragen. Die Unterhaltung wird lebhaft. Die Kinder mopsen sich untereinander die Speisen, was zu kleinen körperlichen Auseinandersetzungen mit dem einhergehenden Gebrüll führt. Die Eltern stört es nicht und die Kinder noch weniger. Zwei von ihnen tragen Brillen mit auffällig dicken Gläsern. Ein wenig Mitleid kommt in mir hoch. Ist mir aus früheren Erfahrungen noch in Erinnerung, wie Schulkinder, die solche Brillen trugen, häufig gehänselt wurden. Unabhängig davon, dass diese Brillen vermutlich die einzige Chance waren, um eine verbesserte Sehqualität und dadurch Lebensqualität zu erhalten.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder meinem Buch zu. Der Versuch scheitert kurz darauf, als sich die Tür des Cafés öffnet und aus verschiedenen Kindermündern „Ana“ in voller Lautstärke dröhnt. Eine Frau betritt mit drei Kindern das Café. In einem Buggy sitzt ein Junge, dessen Beine weit über den Rand hinausragen. Es wirkt, als würde der Buggy dadurch jeden Moment umkippen. Ein kleines Mädchen trägt über ihre Spitzenleggings ein kurzes Rüschenkleid. Die lockigen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Ich bewundere sie für ihre dichten Haare und ihr verschmitztes Lächeln.
„Ana. Ana. Ana.“ Wer von den Kindern ruft, ist für mich noch nicht zu unterscheiden. Alle vier setzen sich an einen Tisch. Der größere Junge streicht sich über seine Haare. Seine rechte Seite am Kopf ist ausrasiert, mit einem interessanten Muster versehen. Während er ständig über diese Seite streicht, vermute ich, dass der Haarschnitt noch recht frisch sein muss. Er wirkt stolz.
Die Kinder beginnen zu essen und trinken. Stets von lauten „Ana“ Rufen unterbrochen. Mir ist nicht klar, warum sie so laut rufen, während ihnen ihre Mutter gegenübersitzt. Theoretisch in Flüsternähe. Die Butterbrezeln werden auseinandergenommen, mit der Butter gespielt und in Windeseile die Teller leer gegessen. Mit kleinen Taschenlampen versucht ein jedes Kind mich zu blenden und lachen sich bei dem Versuch schlapp. Ich muss mitlachen. Verstehen kann ich sie nicht, ich spreche ihre Sprache nicht. Irgendwann bemerken der größere Junge und das Mädchen, dass ihre Hände verklebt oder fettig sind. Mit einer wachsenden Begeisterung drücken sie nun abwechselnd ihre Hände von innen an das Fenster und schauen sich die sichtbaren Abdrücke an. Anschließend malen sie mit den Fingern Figuren auf das Fenster. Die Kinder der Radfahrergruppe, die auf der Terrasse sitzen, bemerken die Zeichnungen und fügen auf ihrer Seite des Fensters ebenfalls welche dazu. Nur durch Mimik verständigen sich alle und auf beiden Seiten wird weiter gemalt. Kindheitserinnerungen an Fingermalfarben werden in mir wach. Mein Hausfrauenherz gerät ins Stolpern. Doch was berührt es mich? Gar nicht. Zum einen sind es nicht meine Fenster, zum anderen macht es Spaß den Kindern zuzuschauen. Und ihnen macht die Verschönerungsaktion anscheinend auch Spaß.
Als ihre Finger keine Spuren mehr auf den Fenstern hinterlassen, wenden sie sich wieder ihren Taschenlampen zu. Sie versuchen sich untereinander erneut zu blenden und brüllen sich dabei etwas zu. Die Geräuschkulisse ist enorm, denn laute „Ana“ Rufe fehlen weiterhin nicht. Inzwischen kenne ich Ana in allen Lautstärken, Zwischentönen und Tonmelodien.
An Lesen ist nicht zu denken. An zuschauen schon.
Irgendwann verlassen sie das Café und ich wende mich meinem Buch zu. Versuche es, denn der laute Ausruf des Missfallens einer Mitarbeiterin, die das „bemalte“ Fenster entdeckt, ist nicht zu überhören. Wie ich bereits ähnlich erwähnte, mein Hausfrauenherz kann es nachvollziehen.
Die Radfahrergruppe stürmt das WC, um sich ihre mitgebrachten Wasserflaschen aufzufüllen und verlassen darauf ebenfalls das Café.
Es ist still. Ich bestelle einen zweiten Milchkaffee und beginne das erste Kapitel zu lesen.

 

Foto: Pixabay.com, Prawny

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