Hallo Ihr Lieben,
als schreibende Leseratte liebe ich es im Alltag zu beobachten. „Read what I see“. Bevorzugt dabei in einem Café zu sitzen, dort detailverliebt zu beobachten, schreiben und Kolumnen oder Kurzgeschichten zu schreiben – das liebe ich und ich hoffe, Ihr mögt diese Beobachtungen ebenfalls.
Eure Sabine
Kolumne: Beschämende Szenen im Café
Ich vergewisserte mich, dass sich die Mutter und Freundin eines kleinen Jungen etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch) und so verließ ich das Café.
Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.
Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.
Ich schäme mich.
Einige Zeit zuvor: Es war der vergangene Mittwoch: Bergfest, wie manche gerne sagen. Die Sonne schien an diesem Wintertag und trieb die Menschen in Mengen in die Stadt und in die Fußgängerzone. Auch ich traf mich mit einer Freundin in ihrer Pause in dem großen Bäckerei-Café gegenüber der Kirche in Reutlingen.
Wir plauderten ein wenig und sahen zwei kleine Kinder in der Spieleecke. Ein blondes Mädchen und einen kleinen dunkelhaarigen Jungen. Ich maß dem keine Bedeutung zu.
Nachdem meine Freundin wieder zur Arbeit ging, schmökerte ich ein wenig in einem Buch, als mich ein weinendes Kind aus meiner Lektüre riss. Ein erwachsener Mann hatte diesen kleinen, vielleicht zweieinhalbjährigen, Jungen heftig geschlagen und schimpfte laut auf dessen Mutter ein.
„Sie haben Ihr Kind nicht erzogen, der hat meine Tochter gehauen, natürlich kann ich ihn schlagen, wenn Sie ihr Kind nicht erziehen!“
Weinend saß der Kleine auf dem Schoß seiner Mutter, die mit, leicht, ausländischem Akzent und zitternder Stimme dem Mann versuchte Einhalt zu gebieten.
„Ich schlage mein Kind nicht und Sie haben meinen Jungen geschlagen. Das dürfen Sie nicht. Warum machen Sie das?“
Wie im Laufe der nächsten Minuten, wiederholte und wiederholte er sich.
„Natürlich kann ich Ihr Kind schlagen. Er hat meine kleine Tochter beim Spielen gehauen. Ich darf das, wenn Sie Ihr Kind schon nicht erziehen.“
Inzwischen kam die Mutter des Mädchens hinzu und unterstützte ihren Mann. Beide betonten laut, mit von mir inzwischen als hysterisch empfundenen Stimmen, dass es in Ordnung ist, wenn ein erwachsener Mann ein Kleinkind heftig schlägt.
Die Ausgangssituation war: Zwei kleine Kinder spielten und der Junge hatte das kleine Mädchen gehauen. Eine Situation, die sich in Kindergärten und Kinderzimmern sicherlich täglich nicht nur einmal ereignet. Selbst für mich als Nicht-Mutter ist dies ein kindgerechtes Verhalten, welches keinen Eingriff eines Erwachsenen bedurfte.
Die Mutter des kleinen Jungen fragte weiterhin: „Warum haben Sie mein Kind geschlagen? Warum machen Sie so etwas? So etwas macht man nicht mit einem Kind.“
Die Antwort bestand aus einer sehr angespannten Körperhaltung ihres Gegenübers und der Aussage, dass er es tun dürfte.
Das ganze zog sich über einige Minuten hin. Die Atmosphäre war mehr als angespannt und die sehr lautstarken Aussagen des Vaters wirklich nicht zu überhören. Die Situation schien zu kippen.
Niemand schritt ein. Versuchte zu deeskalieren oder der Mutter zu helfen. Zwischenzeitlich hatte ich mich auf den Tisch der Mutter zubewegt, an dem der Vater des kleinen Mädchens drohend stand. Während ich in meinem Kopf ebenfalls sehr lautstarke, an den Vater gerichtete, Sätze formulierte, die auch das eine oder andere Schimpfwort beinhalteten, blieb ich äußerlich ruhig. Stimmlich ebenfalls. Innerlich brodelte ich.
Meine Intuition sagte mir, mich eher ruhig zu verhalten. Diesen Mann schätzte ich so ein, dass es heute nicht bei dem einen Schlag einem Kind gegenüber bleiben könnte.
Ich versuchte die Mutter zu trösten, ihr ein Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht alleine ist, dass Hilfe geholt werden kann, dass ich da bleiben würde. Eine Freundin von ihr saß zwar ebenfalls mit am Tisch, hielt sich aber zurück.
Plötzlich legte der Vater erneut los. Wiederholte den Satz immer und immer wieder, dass er den Jungen hätte schlagen dürfen und arbeitete dann mit weiteren Argumente.
Dann schrie er es der Mutter des kleinen Jungen fast ins Gesicht:
„Vergessen Sie nicht: SIE sind nur Gast in unserem Land.“
Gefolgt von dem Satz, den er zuvor ständig laut gesagt hatte.
Er setzte sich mit seiner Frau und seiner Tochter wieder an seinem Platz in die Mitte des Cafés und brüllte von dort aus weiter.
Wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen empfand ich die Gäste des Cafés. Die Angestellten des Cafés. Niemand tat auch nur irgendetwas in irgendeiner Form.
Im Gegensatz zu den drei Affen konnten sie den Vorgang beobachten und taten dies teilweise sehr neugierig.
Im Gegensatz zu den drei Affen hörten sie, was geschah und tuschelten darüber.
Im Gegensatz zu den drei Affen hätte ein jeder, eine jede den Mund öffnen können.
Nichts geschah.
Gewünscht hätte ich mir:
Vom Personal: Vom Hausrecht Gebrauch zu machen oder die Polizei zu rufen.
Der Mutter und ihrer Freundin einen neuen heißen Tee zu servieren und sie zu trösten.
Von den Gästen: Dem Mann Paroli zu bieten.
Stattdessen kam: Nichts.Nichts.
Von mir hätte ich mir gewünscht: Die Gäste direkt anzusprechen und sie zu bitten unterstützend einzugreifen.
Warum beschreibe ich diesen Vorfall so ausführlich? Die Ausgangssituation war ein sonniger Tag mitten in der Woche. Viele Menschen gingen in die Innenstadt, ein Café war gut besucht, zwei Kinder spielten, ein kleiner Junge mit dunklen Haaren hatte ein kleines, blondes, Mädchen leicht gehauen, wie es viele kleine Kinder untereinander tun.
Eine Mutter, die mit einem leichten ausländischen Akzent sprach, saß mit einer Freundin – beide bekleidet mit einem Kopftuch – in diesem Café.
Ein Gast wird einem Kleinkind gegenüber handgreiflich, beschimpft die Mutter, schafft eine sehr bedrohliche Situation, in der niemand agiert. Ich handelte etwas zu spät.
Die ganze Situation hätte wirklich eskalieren können. Hätte irgendjemand Zivilcourage gezeigt? Ich behaupte nein.
Meine Idee, die Polizei zu rufen und dem Vater des Mädchens beim Verlassen des Cafés zu „verfolgen“, um mitteilen zu können wo er weiter anzutreffen wäre, wollte die Mutter des Kleinen nicht umsetzen.
Die Wut und auch der Ekel aus diesem Erlebnis sind weiterhin nicht verschwunden. Ja, ich verurteile die Menschen, die nicht eingegriffen haben. Die der Mutter etwas Trost gespendet haben oder dem Vater des Mädchens entgegengetreten sind. Sicherlich beschrieb ich die Situation zuvor als angespannt. Doch hätten einige Besucher zusammen gehandelt, wäre die angespannte Situation zu überwinden gewesen.
So empfinde ich ihr Nichtstun als feige. Als widerlich.
Nachdem ich mich vergewisserte, dass Mutter und Freundin des kleinen Jungen sich etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch), verließ ich das Café.Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.
Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.
Ich schäme mich.
Tag am See
Der Tag am See begann mit dem üblichen Aufbau der Luftmatratze, dem verteilen des Buches auf dieser und der Suche nach der Sonnenbrille. Ihr Revier unter einem schattigen Baum auf der leeren Wiese war markiert.
Noch leerer Wiese.
Bereits auf dem Parkplatz wunderte sie sich über die Anzahl der geparkten Autos. Das Publikum verlief sich auf dem Gelände um den See, so dass frühmorgens alles noch recht ruhig war.
Nun begann der „Urlaubstag“. Auf der Terrasse trank sie einen Latte Macchiatto, las in einem Buch und genoss zwischendurch den weiten Blick über den See oder auf die weißen Wolken. Der Latte war schön heiß und das Buch schön spannend, ohne blutrünstig geschrieben zu sein.
Unfreiwillig wurde sie abgelenkt, als sich ihr Gegenüber ein männliches, behaartes Arschgeweih in ihr Blickfeld schob. Weibliche kannte sie in vielen Variationen. Das männliche Arschgeweih war hingegen eine Premiere. Sie schämte sich für den Mann und wollte ihn auf den unschönen, tiefen Anblick ansprechen. Andererseits dachte sie, sie müsste ja nicht hinschauen und schaute wieder in ihr Buch.
Ab und zu musste sie trotzdem hoch blicken. Es war wie ein kleiner Zwang. Ähnlich dem, wenn sie beim rumzappen kurz auf dem RTLII Sender hängen blieb.
Abgelenkt wurde sie, als die Invasion der Völker begann. Nein, keine Invasion von Kartoffelkäfern auf der Sonnenterrasse. Innerhalb weniger Minuten machten sich viele Menschen auf dem Weg vom Parkplatz zum See und transportierten ihren halben Hausstand mit. Es gab Sackkarren zu bestaunen, die mit Pavillons oder mehreren Bierkästen oder Stühlen oder Booten bepackt waren. Umgeben von Großfamilien oder großen Freundeskreisen. An der Kreuzung zum Seegelände kam es zu einem kleinen Stau.
Sie musste sich das Lachen verkneifen, als einer Mutter ständig eine große, leere Tupperbox aus dem Kinderwagen herunter fiel. Der Kinderwagen war beladen mit Sonnenschirm, mind. 3 IKEA Taschen und diversen ALDI Tüten.
Und besagter Tupperdose:-)
Das kleine, nebenan laufende, 1-jährige Mädchen heulte, weil es nicht in den Kinderwagen durfte.
Der Vater brüllte: „Wo bleibst Du denn? Muss ich alles alleine schleppen?“
Er trug einen kleinen Grill unter seinem Arm.
Schreien konnte er, Tragen anscheinend nichts.
Apropos Grill: Es wurden Brandgefahrenmeldungen für die Wälder heraus gegeben und hier wird der Webergrill direkt an der Hecke platziert oder der Vereinsgasgrill in Schwung gebracht. Na ja, Löschwasser ist ja in der Nähe.
Was macht sie inzwischen? Die Vögel, Sonne, Wind und Wasser in ihrer stillen Ecke genießen. Das schöne ist, dass sich das Publikum gut auf dem Gelände verteilt. Auch die Idioten;-)Falsch gedacht.
Ein lauter Song reißt sie aus dem Mittagschlaf hoch. Die Wiese hat sich gefüllt und durch die Hecke dringt irgendetwas lautes. Vermutlich ein Hit, der momentan in Endlosschleife gehört wird. Sie würde sich so gerne auf die Suche nach dem Ghettoblaster begeben. Wird sie aus ihrem wohlverdienten Schlaf gerissen, mutiert sie zum Stier.
Ghettoblaster? Den Begriff kennen doch nur noch Menschen, die in den 80ern aufwuchsen? Die sich beim Klammerblues in der Dorfdisco an ihre Freundin oder Freund schmiegten.
Hier kommt vermutlich ein Smartphone mit leistungsstarken Bluetooth Lautsprechern ins Spiel. Nein, sie macht sich nicht zum Deppen, indem sie versucht Batterien aus einem Gerät zu entfernen, welches nur in ihren Gedanken zum Einsatz gekommen ist. Stattdessen hofft sie, dass das Smartphone bald einen Sonnenstich bekommt.Ihr Blick auf den See wird, ebenfalls während ihres Schlafes, eingeschränkt. Ein Pärchen spannte eine Hängematte zwischen zwei Bäumen und pussiert nun darin herum. Nein, bitte kein Teeniegeknutsche und –Gestöhne.
Das ist ihr Tag am See. IHR Tag, an dem sie anschließend ganz entspannt heimgehen wird.
Links hinter der Hecke hören ihre Ohren weiterhin diesen doofen Song, vorne „Knutsch, Knutsch“ Geräusche.
Sie dreht sich auf ihrer Luftmatratze herum, legt sich auf den Bauch und spielt tote Frau. Nichts hören, nichts sehen, nichts riechen.
Nichts riechen! Wie soll das gehen? Ihre Nase wird mit dutzenden Variationen an Grillanzündern und Grillfleisch in verschiedensten Bräunungsgraden vergewaltigt.
Was ist geschehen? Während ihres Nickerchens bezog ein Teil der Völkerwanderung Quartier auf „ihrer“ Wiese. Sie zählt elf, wirklich elf, Grills. Und sie mittendrin.
Sie riecht an sich und nimmt einen Geruch nach Geräuchertem wahr. Fällt sie jetzt tot um, kann eine Großfamilie einen Winter von ihr, gut abgehangen, zehren.
Vorsichtig schaut sie sich weiter um. Ohren und Nase sind übermäßig versorgt. Was werden ihre Augen nun sehen?
Automatisch fällt ihr Blick auf einen Pavillon, unter dem es sich sicherlich 10 Leute bequem gemacht haben. Die Kinder sind in der Strandmuschel nebenan untergebracht, drei Männer betreuen die verschiedene Grills (es scheint einen Grill für Vegetarier, einen für Fleisch und einen für undefinierbares zu geben) und ein vierter verteilt Lambrusco in Plastikbechern, während er etwas in einer ihr fremden Sprache in Richtung Männer am Grill brüllt.
Mit machtvoller Stimme brüllt.
Davor stehen 2 Kästen Bier mit Leergut.
Ihr linkes Auge klebt an dem rosafarbenen Kugelgrill. Er kommt ihr bekannt vor. Das ist doch der 9,99€ Restpostengrill aus dem LIDL? Amüsiert beobachtet sie den ca. 2m großen Mann mit angedeutetem Sixpack, der das Gemüse wendet.
Nein, das geht nicht: Ein 2 Meter Mann, der sich zu einem rosafarbenen Grill bückt: Es sieht doof aus und ihren Lachanfall dämpft sie, indem sie sich ein kleines Badetuch auf den Mund legt.
Überrascht betrachtet sie die anwesenden Frauen unter dem Pavillon. Bei 33 Grad Außentemperatur tragen sie alle lange Oberteile über ihre Bikinis oder Badeanzüge. Der Grund ist ihr schleierhaft, insbesondere da das Polyester der Oberteile bei Bewegung bis zu ihr herüber raschelt. Der Anblick löst beinahe Schweißausbrüche in ihr aus.
Soll hier Orangenhaut versteckt werden? Schwangerschaftsstreifen?
Ihre Vermutungen werden unterbrochen. Diese Oberteile verfügen über zwei tiefe Taschen auf der Vorderseite. In diesen befinden sich bei jeder Frau eine Flasche Bier. Das erklärt auch, warum diese Oberteile vorne so viel länger sind als hinten.
Sie kann diese Art der Bieraufbewahrung an einem warmen Körper nicht verstehen.
Schräg rechts von ihr liegt ein junger Mann, der seine weibliche Begleiterin anlächelt und sie liebevoll eincremt. Er ist stark behaart. Beine, Arme, Rücken und Schultern. Nur sein Oberkörper ist vorne glatt wie ein Babypopo. Wieso? Sofort stellen bei ihr Bilder von seiner Begleitung ein, die burschikos auf ihm sitzt und mit Kaltwachstreifen seinen Oberkörper von Haaren befreit. Oder Bilder, in denen er den Drogeriemarkt an Einmalrasierern leer kauft, die nur vor „vorne gereicht“ haben.
Ungewöhnlich ist der Anblick und regt sicherlich nicht nur sie zum Nachdenken an.
Sie flüchtet. Vor den Grills, den betrunkenen Frauen mit den Bierflaschenaufbewahrungstaschen, dem Fußball, der sie immer wieder trifft (manchmal ist es wirklich blöd, wenn man über zu viel Körperoberfläche verfügt) und geht ins Wasser.
Verheddert sich in einigen Algen, bekommt doch wieder Halt und schwimmt weit hinaus. Zwischendurch lässt sie sich auf dem Rücken treiben. In die Sonne blinzelnd bekomme sie ein wenig ihres „Tag am See Gefühls“. Wenn ihr die Luft ausgeht, ruht sie sich kurz am Rand aus und schwimmt anschließend weiter und weiter.
Später liegt sie auf ihrer Luftmatratze, ihre Ohren, Augen und Nase sind viel zu beschäftigt um entspannen zu können.Das Pärchen aus der Hängematte ist verschwunden, der nicht komplett behaarte junge Mann liegt Arm in Arm schweigend mit seiner Begleitung auf der Decke. Viele Kleinkinder in Windeln krabbeln auf der Wiese, automatisch den warmen Grills ausweichend und unter dem Pavillon wird gesungen. Russisch? Polnisch? Egal, es hört sich laut, aber nicht schön an.
Sie packt ein. Nein, an einem Wochenende wird sie hier nicht mehr hingehen.
Das war kein „Ihr Tag am See“.
Gegen 23 Uhr liegt sie bei weit geöffnetem Fenster im Schlafzimmer und hört leise Musik. Kurz vor dem Einschlafen, zittern ihre Nasenflügel.
Sie riecht: Grillanzünder!
Es nimmt kein Ende ….