„Read what I see“: Verschiedene Alltagsbeobachtungen

Häufig beobachten wir die kleinen Momente im Alltag, die wir wahrnehmen und dennoch nicht wahrnehmen. Die Besucher der Stadtbibliothek, die täglich die verschiedenen Tageszeitungen dort lesen. Die betagte Dame, die sich mit ihrem Rollator im Kreise dreht, weil sie etwas in der Handhabung falsch macht und herzhaft über sich lacht. Die vielen verschiedenen Besucher in den Cafés, die ihre Zeit aus den verschiedensten Gründen dort verbringen. Der Nichtschwabe, der versucht tiefstes schwäbisch zu verstehen und dessen Gesicht nur aus einem großen Fragezeichen besteht.
Woran erkenne ich im Schwabenland einen „Ausländer“? Damit ist nicht jemand gemeint, der eine Fremdsprache spricht oder fremd ausschaut. Im Coffee Shop am Stuttgarter Hauptbahnhof outet sich derjenige als Nichtschwabe, der folgendes bestellt: „Eine Brezel mit etwas Butter oben drauf.“ Ich gehe nun nicht auf den starken sächsischen Dialekt ein, sondern auf die Umschreibung des schwäbischen Nationalgutes. Ein Schwabe hätte ganz ordinär „Butterbrezel, bitte“ bestellt.
Gegebenenfalls auch ohne bitte hin zu zufügen.
Ich kann selten durch einen Bahnhof schlendern, ohne dass mir Menschen auffallen.
Am Fahrkartenautomat stand eine ältere Dame, die versuchte einen Fahrschein zu ziehen. Auf eine Art und Weise gekleidet, die ich heute nicht mehr oft sehe. Dunkler, langer Rock, sehr schicke Bluse mit einem Blazer darüber, Halbschuhe mit Absatz. Dazu schneeweiße, ondulierte Haare. Sie fiel mir auf, da sie einen Henkelkorb aus Bast in der Hand trug, der mindestens 50 Jahre alt sein muss. Erwartet hätte ich, dass er mit frischem Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten gefüllt gewesen wäre. Das Bild wäre für mich dann irgendwie komplett gewesen.
Unaufgefordert half ich ihr den passenden Fahrschein zu ziehen, worüber sie sich sehr freute. Ich gestand ihr nicht, dass auch ich mit diesen Fahrscheinautomaten auf Kriegsfuß stehe, wenn ich unter Zeitdruck bin oder im Nahverkehr mehr als 2 Zonen benötige.
Den ganzen Tag sah ich ihr Gesicht vor mir. Sie hatte etwas Feines und verletzliches an sich.

Kaum drehte ich mich um, sah ich ein Ehepaar, welches mir auffiel, weil, ja, weil sie merkwürdiges Schuhwerk trugen. Nicht bunt oder anderweitig auffallend, sondern in einer viel zu kleinen Schuhgröße. Beide schätzte ich auf Mitte 60 ein. Er trug eine Art Sandalen, deren Zehen soweit heraus ragten, dass sie fast den Boden berührten. Der Blick des Betrachters wurde automatisch auf sie gelenkt. Sicherlich auch, weil diese Zehen aussahen, als hätten sie tausende Meilen barfuß Laufens hinter sich gebracht.Bei ihr sah es gemäßigter aus.  Die bestrumpften Füße steckten ebenfalls in Sandalen. Wobei nur geschätzte 3-4cm Zehen heraus schauten.
Komisch, was Frau plötzlich wahrnimmt. Vielleicht lag es daran, dass der Blick es Zuschauers förmlich darauf gedrängt wurde?
Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass mir dieses Ehepaar später erneut begegnen würde und die Hauptfiguren zum Thema „Intelligenzvakuumisten“ bilden würden.
Eine Umsteigestation weiter drückten sich mehrere ältere Ehepaare, in der Holzunterführung des Bahnhofes, die Nasen an der eingelassenen Plexiglasscheibe  platt. Hinter diese ist eine kleine Sandgrube erkennbar. Irritiert fragen sie sich untereinander: „Wie soll da `mal ein Zug rein passen?“ „ Ach, das geht schon, das ist doch bald ein unterirdischer Bahnhof.“
Aha, ein unterirdischer Bahnhof, der oberirdisch eine kleine Grube zeigt. Diese kleine Sandgrube könnte vielleicht die Märklin Eisenbahn aus dem Keller daheim aufnehmen. Es übersteigt meine Fantasie und meinen Verstand, mir eine Lok der DB mit vielen Waggons in dieser kleinen Grube vorzustellen.
Die drei Pärchen gingen weiter und beharrten in ihren Gesprächen untereinander darauf, dass der neue Bahnhof nun doch nicht so tief ist. Das ganze Theater drum herum sei doch h ein wenig übertrieben.
Irgendwann geht es vom Bahnsteig in den Zug hinein. Die Fahrt beginnt.
Von früheren Klassenfahrten habe ich es in Erinnerung, dass der Proviant ausgepackt wird sobald der Zug los gerollt ist. Früher erlebte man den Geruch von kalten Frikadellen oder hart gekochten Eiern. Die obligatorischen Äpfel und Süßwaren rochen nicht.
Was aber riecht, nein stinkt, sind frisch geschnittene Zwiebeln. Erst wird die BILD Zeitung beiseite gelegt, dann die Aufbewahrungsdose geöffnet. In dem Moment habe ich es verflucht, dass sich die Fenster nicht mehr öffnen lassen. Eine Klimaanlage kann einen solchen Duft erst in vielen, vielen Stunden verarbeiten: Harzer Käse wurde ausgepackt, der mit frisch geschnittenen Zwiebeln in reichlicher Menge in kleinen Happen verzehrt wird. Der Blick dieses „Genießers“ schweifte Beifall heischend in die gesamte Runde. „Seht, so etwas leckeres ich habe, aber ich gebe nichts ab.“
Dieser Moment führte dazu, dass ich einmal den langen Zug bis nach hinten und zurück durch marschierte. Es half nichts. Dieser Geruch war überwältigend mies. Wurde er dadurch noch angereichert, dass er es sich nun gemütlich machte? Schuhe standen unter dem Abteiltisch und die löchrigen Strümpfe boten einen interessanten Anblick.
Als später der Kaffeeservice kam, wurde dieses Geruchswirrwarr sehr speziell. Für sehr lange Zeit flüchtete ich Bordbistro.
Gerne besuche ich die Leseecke in der Stadtbibliothek. Sie bietet einen reichlichen Fundus für Beobachtungen. Oft vermute ich, dass die sehr große Auswahl an Tages- und Wochenzeitungen nur einen Vorwand abgibt. Statt zu lesen, beobachten sich die  einzelnen Besucher untereinander. Getränke dürfen nicht verzehrt werden, gesprochen wird kaum, gelegentlich an einem Laptop gearbeitet. Was macht dann den Aufenthalt dort so reizvoll als Nichtleser der Tageszeitungen?
Sehen und gesehen werden, beobachten und beobachtet werden? Und ein wenig lesen?
Die Schirmmütze sehr tief ins Gesicht gezogen, den Rücken tief gebeugt, die Süddeutsche Zeitung weit weg gehalten: Dieser ältere Mann sitzt mehrmals wöchentlich an gleichen Platz. Seinem Stammplatz. Bis weit in den Mittag liest er die Zeitung, auf Abstand gehalten und oft frage ich mich, mag er sich keine Lesebrille gönnen oder kann er sich keine gönnen. Zu gerne möchte ich einmal einen Blick in sein Gesicht erhaschen, doch die Schirmmütze verhindert es. Einmal glaubte ich, sehr buschige, weiße Augenbrauen gesehen zu haben. Oder mehr erahnt zu haben?
Schräg gegenüber sitzt häufig eine Frau in den 70ern. Stets sehr schick angezogen, manchmal mit Hut, manchmal ohne. Die Perlenkette und die Perlenohrringe fehlen nie. Sie liest meist DIE ZEIT oder auch die LANDLUST. Sie nimmt eine Körperhaltung ein, die mich immer an eine Primaballerina erinnert. Im 5- Sekundentakt schiebt sie mit einer automatischen Bewegung ihre Lesebrille von der Nasenspitze hoch Richtung Augen. Nie habe ich erlebt, dass sie andere Besucher betrachtet. Oder sich eine andere Tageszeitung nimmt. Vertieft in ihre Lektüre nimmt sie um sich herum nichts wahr.
Besuche ich die Leseecke will ich ebenfalls nur DIE ZEIT lesen und in anderen Tageszeitungen stöbern. Damit beginne ich, um dann in Betrachtungen zu versinken und mir auszumalen, warum wer so häufig hier ist. Welche Lebensgeschichte könnte ich von der Dame mit den Perlenohrringen erfahren? Wie mag das Gesicht des Mannes mit der Schirmmütze ausschauen?
Die Lösung wäre so einfach: Aufstehen und fragen. Und somit  eventuell um einige Illusionen oder Gedankengänge ärmer zu sein?

Seifenblase

Sie hört ein leises Schluchzen. „Kind, so wach doch endlich auf“ und erkennt die Stimme ihrer Mutter. Sehen kann sie sie nicht. Ihre Augen sind geschlossen. Sprechen kann sie ebenfalls nicht. Der Schlauch würde stören.
Sie möchte nicht aufwachen.

Sie befindet sich im Krankenhaus. An einem sicheren Ort.
Zuhause ist kein sicherer Ort mehr. Er ist kein sicherer Mann mehr. Als sie ihn zuletzt sah, kam sie vom Einkaufen zurück. Sie packte gerade die Lebensmittel in den Kühlschrank, als er aus dem Wohnzimmer kam. Irgendetwas schien ihm nicht zu passen. Vieles schien ihm in letzter Zeit nicht zu passen. Er schaute sie an, schrie etwas Unverständliches und schlug ihr ins Gesicht. Instinktiv drehte sie den Kopf weg, doch nicht schnell genug. Er erwischte ihr Auge. Ein kurzer heftiger Schmerz.
Es folgte der nächste Schlag. Sie versuchte Richtung Haustür zu flüchten, doch machte ihn das nur wütender. Sie kannte seine Wut, die daraus entstehende Kraft und auch die Fantasie, ihr auf verschiedene Arten Schmerz zuzufügen. Er rannte ihr hinterher, erwischte sie an ihren langen Haaren, zog ihr Gesicht zu seinem Gesicht und schlug ihren Kopf gegen die Wand. Immer und immer wieder. Sie spürte, wie Blut aus ihrem Ohr heraus lief, hörte knacksende Geräusche, versuchte seinen Händen zu entkommen, ihn zu treten. Dann spürte sie nur noch die kalten Fliesen unter ihrem Rücken. Wenige Minuten später nichts mehr.
Sie hört eine fremde Stimme, die ihrer Mutter erklärt: „Sie müsste langsam aufwachen. Wir mussten sie ins künstliche Koma versetzen, damit sie die Schmerzen durch die Knochenbrüche nicht spürt und damit das Gehirn nach dem Schädel-Hirn-Trauma in einen stabileren Zustand versetzt wird. Wir leiten die Narkose langsam aus.“
Sie will nicht aufwachen. Keine Schmerzen spüren. Sie will von ihm nicht mehr geschlagen werden. Niemand kennt seine Gewalttätigkeit. Anfangs war er sehr darauf bedacht, keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen. In dieser Zeit schlug er sie mit feuchten Handtüchern, während er sie ans Bett fesselte. Später nutzte er seine starken Hände und Gegenstände, war aber darauf bedacht ihr Gesicht zu schonen. Wie hieß es: So etwas kommt in den besten Familien vor.
Sie waren keine Familie: Nur er und sie. Heimlich nahm sie die Pille, den ehemaligen Kinderwunsch hatte sie aufgegeben. Ihren Beruf auch. Ihr Lächeln ebenfalls.
Sie versinkt in einen kurzen Schlaf. Als sie aufwacht, denkt sie an ihre Hochzeit vor 5 Jahren zurück. „Eine gute Partie“ meinten ihre Eltern. Ein Banker, der mehrere Filialen leitete. „Ein sicherer Beruf, denn Geld wird immer benötigt.“ Die Hochzeit war eine Märchenhochzeit, von der ihre Mutter heute noch schwärmt. Der Bräutigam im Frack, sie in einem langen Spitzenkleid. Bis in den frühen Morgen tanzten sie. Noch heute befindet sich ein Rest der Hochzeitstorte in ihrer Tiefkühltruhe. Hätte sie damals bereits etwas ahnen können? Als sie mit ihrem alten Schulfreund Heino nach Mitternacht tanzte, den Kopf etwas müde auf seine Schulter gelegt, unterbrach er den Tanz, zog sie heftig zu sich und nahm sie in einen eisernen Griff. Seine blauen Augen glühten. Sahen schwarz aus. Schwarz vor Wut? Heute würde sie es bejahen.
Sie spürt die Hand ihrer Mutter, die ihr über den Verband auf dem Kopf streichelt. „Ach Kind, Deine schönen Haare. Nicht schlimm, sie werden nachwachsen. Warum hast Du uns denn nie etwas erzählt? Papa und ich hätten Dir doch geholfen.“
Wie hätten sie helfen können? Wer hätte ihr geglaubt? Hätte sie sich selber geglaubt, dass ihre Ehe keine Ehe war? Dass ihr Mann gewalttätig war? Der Mann, den sie immer noch liebte. In den Tagen und Stunden, in denen er nicht Hand an sie legte. Der Mann mit dem sie stundenlang am Strand sitzen konnte und seinen beruflichen Plänen zuhören konnte. Der ihr von den Kindern erzählte, die er mit ihr haben wollte, wie er diese fördern und ausbilden wollte. Der sie nach einem falschen Satz mit dem Kopf unter Wasser tauchte und erst kurz vor der Bewusstlosigkeit wieder an die Oberfläche holte. Um ihr wenige Minuten später zu sagen, wie sehr er sie liebt.
Sie hatte Angst, dass er ihren Eltern gegenüber ebenfalls gewalttätig werden könnte und schwieg.
Kurz nach Weihnachten brach er ihr mehrere Rippen und verbot ihr einen Arzt aufzusuchen. Während er auf einem Seminar war, packte sie eine kleine Reisetasche und fuhr ins Frauenhaus. Sie wollte leben, nicht nur überleben. Das Frauenhaus war überfüllt. Man gab ihr den Rat in ein Hotel zu gehen. Die finanziellen Mittel hätte sie ja.
Sie fuhr wieder nach Hause, packte die Reisetasche aus und hoffte darauf, dass die Rippen schnell heilen würden. Ihren Eltern und ihren Freunden erzählte sie, sie wäre vom Pferd gefallen und hätte sich die Rippen nur geprellt.
Die folgenden Wochen empfand sie, trotz seiner Schläge, als nicht so schlimm. Ihr Schmerzempfinden reduzierte sich. Die Angst, manchmal Todesangst, blieb. Wieder sprach er von gemeinsamen Kindern und wollte sie zu einer Fruchtbarkeitsuntersuchung zwingen, da sie nicht schwanger wurde.
Sie schlief ein. Träumte von einem Ritt mit ihrem Pferd am Strand. Ihre langen Haare wehten im Wind, während ihr der Sand ins Gesicht flog. Sie lachte und fühlte sich frei. So frei.
Sie wacht auf. Die Hand, die die ihre hält ist kräftig und rau. Ihr Vater sitzt an ihrem Bett. „Papa, mache Dir keine Sorgen um mich.“ möchte sie ihm sagen. Ganz laut sagt sie es in Gedanken, damit er vielleicht den Hauch ihrer Stimme hören kann.
„Kind, er kann Dir nicht mehr wehtun. Er ist in Haft. Bitte wache doch endlich auf.“
Während er es sagt, drückt er fest ihre Hände zusammen. Innerlich sagt sie „Autsch, Papa.“
Sie möchte noch nicht aufwachen. Möchte von Ritten am Strand oder im Wald träumen. Möchte lachen. Möchte keine Schmerzen spüren. Möchte keine Angst haben.

Möchte noch eine Zeit in ihrer sicheren Seifenblase verbringen.

„Read what I see“: Es duftet

 „Das ist guuuuut. Das ist schööööööön!“
Nein, dieser Satz wird nicht von einer Patientin auf einer Massageliege gestöhnt.
Dieser Satz wird von einer in „4711“ getunkten, mit riesigem Perlenschmuck behangenen, älteren Dame in den Raum gestoßen. Automatisch frage ich mich, wie so viel Schmuck auf so wenig Frau Platz finden kann. Weitere Gedankengänge sind erst einmal unterbrochen, denn meine Gehirnsynapsen werden durch eine Überforderung meiner sich in der Mundhöhle befindlichen Synapsen gestört.
Der durchdringende Geruch von „4711“ breitet sich über den ganzen Raum aus und erreicht meine Zunge wie eine überdimensionierte Feinstoffwolke.
Der nächste Schluck meines entkoffeinierten Espresso verursacht ein Chaos in meinem Mund und hinterlässt einen Geschmack nach alter, mit Asphalt angereicherter Spüllauge.
Ich möchte ein Schluck Wasser zum nachspülen trinken, doch die „4711“ Wolke legt sich überall nieder. Ich befürchte, dass sie sich einen Weg unter die mit Kronkorken versiegelten Wasserflaschen bahnt oder es sich bereits im Zugang zum Wasserhahn gemütlich gemacht hat.
Ein Kaugummi würde keine wirkliche Hilfe bringen, also bitte ich die Kellnerin um zwei Kaffeebohnen, die ich tapfer und mit stoischem Gesichtsausdruck zerkaue. Bitterer Kaffeegeschmack kann wirklich Erleichterung verschaffen.
Mein Kopf funktioniert wieder und ich wäge die Möglichkeiten ab, die ältere Dame wegen „duftiger Körperverletzung“ anzuzeigen. Diesem Gedanken muss ich in Ruhe folgen.
Wer ist diese Frau, die diesen Satz so laut stöhnte? Zumindest ist sie eine Frau, die sich über ein kleines Müsli mit frisch gepresstem Orangensaft, auf eben diese Art freuen kann.
Die ihren großen Flechteinkaufskorb stolz trägt, die eine eng geschnittene Bluse mit Tigermuster trägt und über all´ den Perlen noch einen überdimensionierten blau gemusterten Schal drapiert. Von allem irgendwie etwas zu viel. Ihre Cordjacke, mit den Flicken an den Ellenbogen hat sie locker auf dem Stuhl neben sich gelegt und bei einer Armbewegung von ihr fühle ich mich in der ausgeströmten Wolke gefangen. Misshandelt.
Dieser übermäßige Gebrauch von Kölnisch Wasser vernebelt mein Gehirn, er verlangsamt meine Bewegungen. Ich möchte fliehen und kann nicht umhin, ihrer Unterhaltung zu folgen.
„Wusstest Du es schon, die Annemarie arbeitet jetzt als Domina in ihrer Garage.“
„Ja mei, wirklich? Das hatte ich mir doch schon immer gedacht.“
Ich halte inne. Was hört mein vernebeltes Hirn? Die Annemarie arbeitet nun also als Domina in ihrer Garage. Ich muss innerlich lachen und denke sofort an die typischen Verhörer im Radio: Statt „The Phone rings“ wird meist: „Da vorne links“ verstanden oder statt „All my feelings grow“ verstehen viele: „Die Oma fiel ins Klo“.
Ich möchte nicht hinüber gehen und nachfragen, in welchem Beruf die Annemarie wirklich tätig ist. Die zu erwartende Duftkonzentration würde mich eventuell in die absolute Reizüberflutung, mit einer nahenden Ohnmacht, treiben.
Stattdessen frage ich mich, ob die Garage eine Einzel- oder eine Doppelgarage ist. Oder gar eine Reihengarage?
Wo mag sie stehen? Vor einem Einfamilienhaus, neben einem Mehrfamilienhaus? Wie gestaltet sich die Außenwerbung? Was würde ich sehen, wenn sich das automatische Garagentor öffnen würde? In einer Einzelgarage vermutlich nicht viel? Etwas Ausstattung und eine Dame? Eine junge oder eine ältere? Und was noch? Würde ich etwas zu hören bekommen (Ich denke automatisch an den Song der Ärzte „Bitte, bitte“)?
Die Hausfrau in mir kommt durch und fragt sich, ob es Platz gibt für ein kleines Badezimmer?
Fragen über Fragen.
Ich könnte nun ein stattliches Gedankenkarussell laufen lassen, doch muss ich wissen, ob es wirklich eine in der Garage arbeitende Annemarie gibt?
Ich hänge meinen Gedanken nach und vermute immer stärker, dass es richtig hätte heißen müssen: Die Annemarie hat nun eine neue Garage. Dazu würde auch die Antwort der zweiten Frau passen.
Die ältere Dame hat ihr stöhnen beendet. Orangensaft und Müsli wurden verspeist und sie verlässt das Café.
Statt weiterhin über Annemarie nachzudenken, stelle ich Vermutungen an, wo die ältere Dame solch lautes und intensives stöhnen gelernt haben könnte?

Cilla & Rolf Börjlind: Die Springflut (Die Rönning/Stilton-Serie, Band 1)

 

Klappentext:
Eine laue Sommernacht im Jahre 1987. Es ist Vollmond im schwedischen Nordkoster. In der Nacht wird es eine Springflut geben – und einen brutalen Mord. Das Opfer: eine junge, hochschwangere Frau. Ihre Identität: unbekannt. Tom Stilton, der ermittelnde Polizeibeamte, zerbricht an diesem Fall. Er kann weder Motiv noch aussagekräftige Spuren finden. Die Tat bleibt ungesühnt. 23 Jahre später: Eine Serie von feigen Angriffen auf Obdachlose erschüttert die Hauptstadt Stockholm. Die Ermittlungen verlaufen schleppend. Olivia Rönning, angehende Polizistin im zweiten Jahr ihrer Ausbildung, beobachtet das Geschehen aus der Distanz. Sie ist mit anderen Dingen beschäftigt. Sie soll einen »Cold Case« knacken – den Tod einer jungen Frau an einem Strand vor vielen Jahren klären. Ihr ist klar: Sie muss Tom Stilton finden. Doch der ist wie vom Erdboden verschluckt.
Schon lange ist es her, dass ich ein Buch mit über 500 Seiten (in diesem Fall sind es 581 Seiten) in einem Rutsch durchgelesen habe. Ja, ich muss nun etwas Schlaf nachholen.
Bereits mit Hjorth & Rosenfeldt zeigen die Schweden, dass einige ihrer hervorragenden Drehbuchschreiber auch sehr gute Krimis schreiben können. Cilla & Rolf Börjlind brauchen sich dahinter nicht zu verstecken. Beide sind ebenfalls Drehbuchautoren und haben mich mit dem ersten Band um Olivia Rönning und Tom Stilton sofort in den Bann gezogen. Der Epilog mit der Beschreibung eines grausamen Mordes weckte sofort meine Leselust, die mit keiner Seite gebrochen wurde.
Es geht um einen ungelösten Mordfall aus 1987, bei dem eine schwangere Frau ermordet wird. Eingegraben in den Strand, gestorben durch die einsetzende Springflut.
Der Fall wurde nie gelöst und die Polizeischülerin sucht sich diesen Cold Case als Übung für die Ferien heraus, denn auch ihr Vater war an den Ermittlungen beteiligt.
Der damalige ermittelnde Polizeibeamter, den sie gerne kontaktieren möchte, Tom Stilton, ist verschwunden.
In der Gegenwart werden in Stockholm Obdachlose brutal zusammen geschlagen, ein Opfer stirbt an den Verletzungen.
Diese beiden Handlungsstränge laufen parallel, sind manchmal miteinander verwoben und beide sehr spannend.
Wie ich eingangs schrieb, das Buch lässt sich nicht aus der Hand legen. Es ist das erste Buch aus einer inzwischen vierteiligen Reihe und die Hauptfiguren sind sehr gut beschrieben. Sie wachsen einem jetzt schon ans Herz und machen sehr neugierig auf die anderen Bücher.
Allzu viel möchte ich nicht verraten. Die Lösung geht in eine ganz andere Richtung als jemals von mir angedacht, ist trotzdem überzeugend und bildet eine solide Grundlage für einen weiteren Thriller.
Am Ende des Buches, gibt es neben den üblichen Danksagungen, ein Interview mit den Autoren. Ich mag das, da ich als Leser ein klein bisschen davon erfahre, wie sie als Autoren ticken.
So, und nun besorge ich mir Band 2!
Und Band 3!
Und Band 4!

„Read what I see“: Samstagmittag

Es ist Samstag. 13:05 Uhr. Drei Frauen, die ich innerlich sofort mit der Bezeichnung „Madämchen“ versehe, betreten das Café. Woran liegt es, dass ich sie sofort in eine bestimmte Schublade stecke? Vermutlich an ihrem Verhalten, welches erkennen lässt, dass sie nicht allzu oft in einem Bäckerei Café mit Selbstbedienung verkehren?
In einer Dreierfront stehen sie geschlossen, auf die Getränke- und Speisekarte an der Wand gegenüber blickend, an der Selbstbedienungstheke.
Alle drei tragen Spangenschuhe mit kleinem Absatz, enge bunte Hosen mit passender Oberkleidung und den identischen Haarschnitt: Einen Bubbikopf. Jede trägt ihn in einer anderen Blondierung. Die Sonnenbrille ist im Haar aufgesetzt oder befindet sich noch auf der Nase. Die großen Handtaschen trägt eine jede unter die Achsel geklemmt. Kleine Risse und aufgeplatzte Nähte an den Handtaschen lassen erkennen, dass sie älter oder schon lange in Gebrauch sind.
Die Kleinste von ihnen erhebt ihre Stimme und fragt: „Haben Sie auch eine Karte?“
„Leider nicht. Hier oben ist alles aufgeführt. Inklusive aller Getränke.“
„Machen Sie noch Frühstück?“
„Ja, selbstverständlich.“
Die Köpfe werden zusammen gesteckt. Ich höre ein leises: „Ich möchte aber ein Spiegelei.“ Eine andere sagt: „Mir ist es egal.“
Plötzlich wackeln alle drei Bubbiköpfe.
Eine von ihnen bestellt: „Wir möchten des:“ (Was ist „des“?)
„Ein Kaffee mit Brezel reicht.“
Mir ist nicht klar, ob diese Entscheidung aus finanziellen Gründen getroffen wird oder um der Figur willens.
Der Versuch den Kaffee mit Zucker zu versehen ist vorerst nicht von Erfolg gekrönt. Es scheint, als wären sie es nicht gewohnt ihren Zucker selber zu dosieren und einzufüllen.
Sie zahlen getrennt und tragen ihr Tablett mit der Butterbrezel und dem Kaffee nach draußen auf die Terrasse. Die Stühle werden umgestellt, so dass jede auf die Straße blicken kann. Eine Sitzposition wie ich sie in den ersten Reihen der Cafés in Paris erlebt habe. Die Brezeln werden auseinandergerissen und getunkt.
Plötzlich schnellt die Größte von ihnen hoch: „Ich muss mein Auto in den Schatten umsetzen“, verschwindet und parkt ihren Fiat 500 ein paar Meter weiter unter einen Baum.
Anschließend nimmt sie wieder neben den beiden anderen Platz. Alle haben die Beine übereinander geschlagen, tragen ihre Sonnenbrillen nun auf den Nasen und zünden sich eine Zigarette an. Auf die Entfernung meine ich die Sorte Eve 120 zu erkennen. Nun erlebe ich endlich Frauen, die diese Sorte rauchen.
Während ich meinen Latte Macchiato genieße und in einem Buch lese, gleitet mein Blick immer wieder zu den drei Frauen hinüber. Ja, sie benehmen sich als wären die Menschen in ihrem Umfeld Bedienstete. Wie passt dann der Fiat 500 ins Bild? Ein Auto umsetzen, damit es sich nicht aufheizt, obwohl es normalerweise über eine Klimaanlage verfügt?
Sie erinnern mich an Frauen, die einmal im Jahr im Rotary Club einen Flohmarkt veranstalten um dann generös den Erlös zu spenden. Sie erinnern mich an Frauen, wie ich sie in den 90er Jahren im Tennis Club erlebte. Doch wer sind sie wirklich? Wer könnten sie sein? Drei Frauen, die ein sehr kleines Klassentreffen ehemaliger Pensionats Schülerinnen abhalten? Ex-Frauen, die sehr viel bessere Zeiten erlebt haben. „Frau Doktor“ oder „Frau Geschäftsführerin“, die nach der Scheidung nicht ihrem gewohntem Standard entsprechend abgefunden wurden?
Wie wird der Tag für sie weiter gehen? Werden sie ihn schwitzend und kichernd bei einer kleinen Landtour über die Schwäbische Alb im Auto verbringen? Kichernd vermutlich nicht. Die ganze Zeit sah ich nicht eine von ihnen lächeln. War das Brezelfrühstück für sie das heutige Highlight?
Ich werde es nicht erfahren.
Irgendwie kann ich mir vorstellen, dass sie von hier zum Vorsprechen nach Wien fahren. Für die nächste Staffel der „Vorstadtweiber“. In den Rollen der aus der Versenkung auferstandenen Schwiegermütter. Bessere Zeiten erlebt hatten und sich wieder bessere Zeiten, mit allen ihren Wirrungen und Irrungen, wünschend.

 

Kolumne: Beschämende Szenen im Café

Ich vergewisserte mich, dass sich die Mutter und Freundin eines kleinen Jungen etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch) und so verließ ich das Café.
Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.
Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.
Ich schäme mich.

Einige Zeit zuvor: Es war der vergangene Mittwoch: Bergfest, wie manche gerne sagen. Die Sonne schien an diesem Wintertag und trieb die Menschen in Mengen in die Stadt und in die Fußgängerzone. Auch ich traf mich mit einer Freundin in ihrer Pause in dem großen Bäckerei-Café gegenüber der Kirche in Reutlingen.
Wir plauderten ein wenig und sahen zwei kleine Kinder in der Spieleecke. Ein blondes Mädchen und einen kleinen dunkelhaarigen Jungen. Ich maß dem keine Bedeutung zu.
Nachdem meine Freundin wieder zur Arbeit ging, schmökerte ich ein wenig in einem Buch, als mich ein weinendes Kind aus meiner Lektüre riss. Ein erwachsener Mann hatte diesen kleinen, vielleicht zweieinhalbjährigen, Jungen heftig geschlagen und schimpfte laut auf dessen Mutter ein.
„Sie haben Ihr Kind nicht erzogen, der hat meine Tochter gehauen, natürlich kann ich ihn schlagen, wenn Sie ihr Kind nicht erziehen!“
Weinend saß der Kleine auf dem Schoß seiner Mutter, die mit, leicht, ausländischem Akzent und zitternder Stimme dem Mann versuchte Einhalt zu gebieten.
„Ich schlage mein Kind nicht und Sie haben meinen Jungen geschlagen. Das dürfen Sie nicht. Warum machen Sie das?“
Wie im Laufe der nächsten Minuten, wiederholte und wiederholte er sich.
„Natürlich kann ich Ihr Kind schlagen. Er hat meine kleine Tochter beim Spielen gehauen. Ich darf das, wenn Sie Ihr Kind schon nicht erziehen.“
Inzwischen kam die Mutter des Mädchens hinzu und unterstützte ihren Mann. Beide betonten laut, mit von mir inzwischen als hysterisch empfundenen Stimmen, dass es in Ordnung ist, wenn ein erwachsener Mann ein Kleinkind heftig schlägt.
Die Ausgangssituation war: Zwei kleine Kinder spielten und der Junge hatte das kleine Mädchen gehauen. Eine Situation, die sich in Kindergärten und Kinderzimmern sicherlich täglich nicht nur einmal ereignet. Selbst für mich als Nicht-Mutter ist dies ein kindgerechtes Verhalten, welches keinen Eingriff eines Erwachsenen bedurfte.
Die Mutter des kleinen Jungen fragte weiterhin: „Warum haben Sie mein Kind geschlagen? Warum machen Sie so etwas? So etwas macht man nicht mit einem Kind.“
Die Antwort bestand aus einer sehr angespannten Körperhaltung ihres Gegenübers und der Aussage, dass er es tun dürfte.
Das ganze zog sich über einige Minuten hin. Die Atmosphäre war mehr als angespannt und die sehr lautstarken Aussagen des Vaters wirklich nicht zu überhören. Die Situation schien zu kippen.
Niemand schritt ein. Versuchte zu deeskalieren oder der Mutter zu helfen. Zwischenzeitlich hatte ich mich auf den Tisch der Mutter zubewegt, an dem der Vater des kleinen Mädchens drohend stand. Während ich in meinem Kopf ebenfalls sehr lautstarke, an den Vater gerichtete, Sätze formulierte, die auch das eine oder andere Schimpfwort beinhalteten, blieb ich äußerlich ruhig. Stimmlich ebenfalls. Innerlich brodelte ich.
Meine Intuition sagte mir, mich eher ruhig zu verhalten. Diesen Mann schätzte ich so ein, dass es heute nicht bei dem einen Schlag einem Kind gegenüber bleiben könnte.
Ich versuchte die Mutter zu trösten, ihr ein Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht alleine ist, dass Hilfe geholt werden kann, dass ich da bleiben würde. Eine Freundin von ihr saß zwar ebenfalls mit am Tisch, hielt sich aber zurück.
Plötzlich legte der Vater erneut los. Wiederholte den Satz immer und immer wieder, dass er den Jungen hätte schlagen dürfen und arbeitete dann mit weiteren Argumente.
Dann schrie er es der Mutter des kleinen Jungen fast ins Gesicht:
„Vergessen Sie nicht: SIE sind nur Gast in unserem Land.“
Gefolgt von dem Satz, den er zuvor ständig laut gesagt hatte.
Er setzte sich mit seiner Frau und seiner Tochter wieder an seinem Platz in die Mitte des Cafés und brüllte von dort aus weiter.
Wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen empfand ich die Gäste des Cafés. Die Angestellten des Cafés. Niemand tat auch nur irgendetwas in irgendeiner Form.
Im Gegensatz zu den drei Affen konnten sie den Vorgang beobachten und taten dies teilweise sehr neugierig.
Im Gegensatz zu den drei Affen hörten sie, was geschah und tuschelten darüber.
Im Gegensatz zu den drei Affen hätte ein jeder, eine jede den Mund öffnen können.
Nichts geschah.
Gewünscht hätte ich mir:
Vom Personal: Vom Hausrecht Gebrauch zu machen oder die  Polizei zu rufen.
Der Mutter und ihrer Freundin einen neuen heißen Tee zu servieren und sie zu trösten.
Von den Gästen: Dem Mann Paroli zu bieten.
Stattdessen kam: Nichts.Nichts.
Von mir hätte ich mir gewünscht: Die Gäste direkt anzusprechen und sie zu bitten unterstützend einzugreifen.
Warum beschreibe ich diesen Vorfall so ausführlich? Die Ausgangssituation war ein sonniger Tag mitten in der Woche. Viele Menschen gingen in die Innenstadt, ein Café war gut besucht, zwei Kinder spielten, ein kleiner Junge mit dunklen Haaren hatte ein kleines, blondes, Mädchen leicht gehauen, wie es viele kleine Kinder untereinander tun.
Eine Mutter, die mit einem leichten ausländischen Akzent sprach, saß mit einer Freundin –  beide bekleidet mit einem Kopftuch –  in diesem Café.
Ein Gast wird einem Kleinkind gegenüber handgreiflich, beschimpft die Mutter, schafft eine sehr bedrohliche Situation, in der niemand agiert. Ich handelte etwas zu spät.
Die ganze Situation hätte wirklich eskalieren können. Hätte irgendjemand Zivilcourage gezeigt? Ich behaupte nein.
Meine Idee, die Polizei zu rufen und dem Vater des Mädchens beim Verlassen des Cafés zu „verfolgen“, um mitteilen zu können wo er weiter anzutreffen wäre, wollte die Mutter des Kleinen nicht umsetzen.
Die Wut und auch der Ekel aus diesem Erlebnis sind weiterhin nicht verschwunden. Ja, ich verurteile die Menschen, die nicht eingegriffen haben. Die der Mutter etwas Trost gespendet haben oder dem Vater des Mädchens entgegengetreten sind. Sicherlich beschrieb ich die Situation zuvor als angespannt. Doch hätten einige Besucher zusammen gehandelt, wäre die angespannte Situation zu überwinden gewesen.
So empfinde ich ihr Nichtstun als feige. Als widerlich.
Nachdem ich mich vergewisserte, dass Mutter und Freundin des kleinen Jungen sich etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch), verließ ich das Café.Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.

Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.

Ich schäme mich.

Andreas Gruber: Todesmärchen

Klappentext:
In Bern wird die kunstvoll drapierte Leiche einer Frau gefunden, in deren Haut der Mörder ein geheimnisvolles Zeichen geritzt hat. Sie bleibt nicht sein einziges Opfer. Als der Profiler Rudolf Horowitz das spezielle Zeichen entdeckt, dass der Mörder in der Haut des Opfers hinterlassen hat, fordert er umgehend Maarten S. Sneijder vom BKA Wiesbaden an.
Dieser äußerst exzentrische niederländische Profiler trifft wenig später zusammen mit seiner jungen Kollegin Sabine Nemez in Bern ein. Gemeinsam untersuchen sie Tatort und Leiche, und bald weist alles darauf hin, dass dieser Mord nur der erste in einer Reihe von äußerst blutigen Taten ist und mit einer anderen Serie von Verbrechen zu tun hat, die Sneijder vor Jahren aufgeklärt hat. Damals brachte Sneijder den ebenso intelligenten wie grausamen Serienmörder Piet von Loon nach einer mörderischen Hetzjagd hinter Gitter..
Van Loon sitzt jetzt in einer Haftanstalt auf einer kleinen Felseninsel in der Flensburger Förde ein. Dort soll die junge Psychologin Hannah eine Theatergruppe leiten, der auch Piet van Loon angehört. Zwischen den beiden beginnt ein intensives Katz- und Mausspiel, das die aktuellen Ermittlungen beeinflusst.
Dort folgen Sneijder und Sabine inzwischen der blutigen Spur des Mörders. Doch um den Täter endgültig zu überführen, fehlt ein letztes Puzzleteil – und das scheint irgendwo in Maarten S.Sneijders Vergangenheit verborgen zu sein.
542 Seiten lang zog mich dieser Thriller in seinen Bann. Die Nacht wurde durchgelesen und mit dicken Augen und einer kräftigen Tasse Kaffee versorgt, kann ich nun beschreiben, warum mich dieses Buch so fesselte. Die Handlung wird im Klappentext bereits gut dargelegt.
Eine Frauenleiche ruft den Profiler Maarten S.Sneijder auf den Plan, der mit seiner Kollegin Sabine Nemez den Fall bearbeitet. Weitere Morde folgen.
Die Krimihandlung, beginnend ca. 2 Jahre nach „Todesurteil“ ist in 7 Teile unterteilt und spielt an verschiedenen Orten. Im Prolog wird kurz auf eine 5 Jahre zurückliegende Situation eingegangen, im Epilog auf…. Dazu später mehr.
Erzählt wird die Handlung vorwiegend aus der Sicht der jungen Psychologin Hannah Norland und der, inzwischen forensischen Fallanalytikerin, Sabine Nemez. Etliche Nebenfiguren erweitern die Handlung. Das i-Tüpfelchen der Charaktere ist und bleibt Maarten S.Sneijder. Ein sehr spezieller Charakter, der unter Cluster Kopfschmerzen leidet und diese ungewöhnlich bekämpft.
In Rückblenden wird Bezug auf Geschehnisse von vor 5 Jahren genommen. Doch dauert es sehr lange, bis der Leser auch nur ein wenig die Puzzlestücke zusammenfügen kann. Nahezu 250 Seiten bleibt er unwissend und erhält die Erkenntnisse nur in kleinen Dosierungen.
Irgendwann wurde auch mir klar, dass es um einen Fall geht, in dem Sneijder privat involviert ist. Nicht nur, weil er damals den Serienkiller fasste, dessen Morde nun nachgeahmt werden. Oder die r sogar selbst begeht? Doch wie, wenn er auf einer kleinen Felseninsel in Haft ist?
Mehr kann kaum beschrieben werden, ohne zu viel von der Handlung zu verraten. Wäre ich eine Amerikanerin, würde ich sagen: Ein Pageturner durch und durch. Da ich es nicht bin, kann ich nur sagen. Ein sehr sehr spannender Thriller, der mich dazu brachte, die Nacht durch zu lesen. Begeistert von der Handlung und der Figur des Maarten S.Sneijder war es logisch das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen.
Am Ende dachte ich: Puh, welch ein Ende. Doch dann, dann kam der Epilog. Der führte bei mir zu einer kurzen Schnappatmung und zu einem: „Verflucht, Andreas Gruber, warum machst Du das mit mir? Mit Deinen Lesern?“
Fast war ich dem Autor ein wenig böse.
Dann las ich die Danksagung und nun bin ich irre gespannt auf das nächste Buch mit Maarten S.Sneijder.
Nein, ich verrate nichts über den Epilog oder die Danksagung.
Nur über den Thriller: Ein Thriller mit Nägel-Abbeißgarantie.

 

 

Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals war

Klappentext:
Ist das normal? Zwischen Hunderten von körperlich und geistig Behinderten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzuwachsen? Der junge Held in Joachim Meyerhoffs zweitem Roman kennt es nicht anders – und mag es sogar sehr. Sein Vater leitet eine Anstalt mit über 1.200 Patienten, verschwindet zu Hause aber in seinem Lesesessel. Seine Mutter organisiert den Alltag, hadert aber mit ihrer Rolle. Seine Brüder widmen sich hingebungsvoll ihren Hobbys, haben für ihn aber nur Häme übrig. Und er selbst tut sich schwer mit den Buchstaben und wird immer wieder von diesem großen Zorn gepackt. Glücklich ist er, wenn er auf den Schultern eines glockenschwingenden, riesenhaften Insas­sen übers Anstalts­gelände reitet. Joachim Meyerhoff erzählt liebevoll und komisch von einer außergewöhnlichen Familie an einem außergewöhnlichen Ort, die aneinander hängt, aber auseinandergerissen wird. Und von einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz zum 40. Geburtstag, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen? Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschich­ten produziert.
Das Buch fand ich eher zufällig und dachte mir: Auf dem Psychiatriegelände aufzuwachsen und darüber zu schreiben kann im Ergebnis nur ein gutes Buch werden.
Erst dann las ich ein wenig über den Autor nach und erfuhr, dass er Schauspieler, Regisseur, und Autor ist.
Als Schauspieler spielte er erfolgreich sein Programm: Alle Toten fliegen hoch ( in 6 Teile unterteilt). Hier wird seine eigene Geschichte bzw. die Geschichte seiner Eltern und Großeltern erzählt. Aus dem Programm entstand der (preisgekrönte) Roman „Amerika“ als Band  der Romantrilogie:
Band 1: Amerika
Band 2: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie wieder war
Band 3: Gibt es noch nicht
Mich zog das Buch von der ersten Seite in den Bann und ich schämte mich fast darüber, dass ich eine so geringe Erwartungshaltung hatte, sondern das Buch nur auf den „Wohnort“ des Ich-Erzählers reduzieren wollte.
Ganz schnell ist es während der Besprechung geschehen, dass ich eine mehrseitige Inhaltsangabe schrieb. Ja, wie ein Schüler, der einen Aufsatz schreibt.
Beschreibe ich das Buch, müsste ich eigentlich eine Zusammenfassung des gesamten Buches schreiben. Eigentlich….. Die Erlebnisse, die Beschreibungen: Sie sind anrührend, teilweise witzig, nie beleidigend, sehr lebendig, amüsant, liebevoll.
Dieses liebevoll möchte ich an einer Szene festmachen: Der Ich-Erzähler geht gerne mit seinem Vater an den Strand. Wenn es heimgehen soll, schlägt er dem Vater immer noch vor: „Noch einen Bauchnabel voll bleiben“. Der Vater stimmt dem zu und widmet sich wieder seinem Buch. Sohnemann geht ans Meer, füllt seine Hände mit Wasser und kippt sie dem Vater in den Bauchnabel. Wenn das Wasser verdunstet ist, geht es heim.
Dementsprechend groß ist seine Angst, als sein Vater plötzlich von Plänen erzählt, um abzunehmen: Was geschieht dann mit dem Bauchnabel? Wird dieser kleiner? Verkürzt es zukünftig die Badezeit?
Auf den ersten Blick ein sehr heiteres Buch, aber nicht nur. Es ist tragisch, es ist komisch, es ist traurig. Denn auch vor dem Tod wird in dem Buch nicht halt gemacht.
In„Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals war“ wird nicht chronologisch erzählt. Es ist ein Buch über eine Kindheit, die voller toller und komischer Geschichten steckt. Nicht nur durch das Aufwachsen neben einer Kinder- und Jugendpsychiatrie wird plastisch dargestellt, auch die Hauptfigur in dem Buch, der Vater. Ein Vater, der eine Anstalt leitet, im Leben aber herrlich versagt. Auf dem ersten Joggingversuch nach seinem 40. Geburtstag verletzt er sich mit einem Bänderriss. Oder schafft es bei Windstille in Seenot zu geraten und währenddessen versehentlich seinen Sohn von Bord zu schlagen. Oder lädt an seinen Geburtstag nur Patienten zu sich ein. Nie geht er unter Leute, arbeitet oder ist daheim. Während der „Daheim Zeit“ sitzt er in seinem Sessel und liest und liest. Es gibt nichts, was er sich nicht erlesen hat. Macht sein Sohn eine Reise, so hielt er sich durch seine gelesenen Bücher dort bereits auf.
Der größte Teil des Buches ist von diesen lustigen, drolligen Geschichten geprägt. Man lacht mit, amüsiert sich und denkt manchmal, dass es in dieser Form nicht geschehen sein kann. Wie kann es sein, dass der Erzähler am besten bei dem aus der Anstalt herüberwehendem Gebrüll einschlafen kann?
Es wird auch über ernste Momente geschrieben. Der Tod kommt ins Spiel, der Erzähler wird älter, und die Familie entwickelt sich in eine Richtung, die man vorher nicht erwartet hat.
Mir kam das ein wenig zu plötzlich, da ich weiter auf heitere, wenn auch manchmal nachdenkliche, Erzählmomente eingestellt war. Aber Eltern und somit auch sein von Lebensfreude und Übergewicht geprägter Vater werden älter. Und krank.Dem Buch tut es keinen Abbruch, beschreibt er den Tod des Vaters ernst, betroffen, ehrlich und liebevoll zugleich.
Ist es eine Hommage an den Vater? Ein „liebevolles“ Vaterbuch? Oder doch nur ein erinnern?
Wurde wirklich alles so erlebt oder doch ein wenig erdichtet? Man darf nicht vergessen: Joachim Meyerhoff ist Schauspieler, führt eigene Programme auf und er scheint ein kleiner Selbstdarsteller zu sein.
Mir ist es egal, denn das Buch hat mich über viele Stunden gut unterhalten.

Hjorth & Rosenfeldt: Die Menschen, die es nicht verdienen

Klappentext:
Gerade noch hatte Mirre den Erfolg vor Augen, jetzt ist der Star einer Dokusoap tot. Hingerichtet, mit einem Bolzenschuss in den Kopf. Seine Leiche findet man in einem Klassenzimmer, an einen Stuhl gefesselt, einen Fragebogen auf den Rücken geheftet. Mirres Leistung: mangelhaft. Er hat nicht bestanden. Und sein Tod ist nur der Anfang.
Während Kommissar Höglund und sein Team von der Reichsmordkommission nach Spuren in Mirres Umfeld suchen, stößt Kriminalpsychologe Sebastian Bergman auf eine andere Fährte. Jemand spottet über die fehlende Bildung von Menschen, die im Rampenlicht stehen. Die Vorbildfunktion haben sollten, aber keine Vorbilder sind. Die ihren Erfolg nicht verdienen. Sebastian will den Mörder aus der Reserve locken und ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Ein tödlicher Fehler…
Normalerweise gehen schnelle Veröffentlichungen eines Autors irgendwann zu Lasten der Qualität. Nicht bei diesem Autorenpaar. Seit 2010 erscheinen in knapper Reihenfolge die Thriller um den Kriminalpsychologen Sebastian Bergmann. Dieser ist recht speziell und kommt über den Tod seiner Familie, die er im Tsunami verlor, nicht hinweg. Seine Sexsucht ist ein Symptom seiner Verletzbarkeit, die er nicht zugeben will.
Ursprünglich dachte ich, dass die jeweiligen Neuerscheinungen gelesen werden können, ohne die Vorgängerbücher zu lesen. Dann würde der Leser aber die Entwicklung des Teams und von Sebastian Bergmann verpassen. Unwichtig ist das nicht.
In einem Interview las ich einen Satz der Autoren, der sinngemäß so lautete: „Ein gesellschaftliches Statement? Nein, das wollten wir mit dem Buch nicht abgeben. Wir fanden einfach den Mord an sich so schön.“
Aha, ein Autorenpaar, welches seine Morde mag……
In diesem Buch geht es um die Morde an Dokustars. Sie müssen einen Test ablegen, bei nicht bestehen werden sie ermordet. Der Mörder will damit anprangern, dass diese „Stars“ als Vorbild dienen könnten, aber keine sind, weil sie dumm sind. So mordet er fleißig durch die Gegend und ändert auch seine Vorgehensweise.
Die Reichsmordkommission ermittelt und Sebastian Bergmann unterstützt, wobei er sich in Lebensgefahr begibt.
Die Entwicklungen im Team bekommen im Buch ihren Raum und mit einem Cliffhanger endet das Buch und macht wieder einmal Appetit auf meeeehr. Nehme ich das aktuelle Schreibtempo der beiden Autoren als Grundlage, so freue ich mich schon auf das neue Buch im Herbst 2016.
Das Buch ist in Deutschland keine zwei Wochen auf dem Markt und ich habe es sehr sehr zügig gelesen. Die Krimihandlung ist interessant und die Handlungsstränge sind spannend. Die Entwicklungen im Team sind so das kleine Schmankerl obendrauf, die mich das Buch haben sehr schnell durchlesen lassen.
Unbedingt lesen!!!
Der Vollständigkeit halber führe ich bisherigen Sebastian Bergmann Bücher in der Reihe ihres Erscheinungsdatum auf:
Band 1:          Der Mann, der kein Mörder war (erschienen 2010)
Band 2:          Die Frauen, die er kannte
Band 3:          Die Toten, die niemand vergisst
Band 4:          Das Mädchen, das verstummte
Band 5:          Die Menschen, die es nicht verdienen

Ich – und …..

meine neue Herrin (Weihnachten zartbitter)
Großvater hatte mich schon früh in unseren Unterhaltungen darüber vorbereitet, dass dieser Tag nahen könnte. Seine Skoliose machte ihn für Förster und zukünftige Käufer uninteressant, so dass er sein Gnadenbrot weiterhin im Sweetforrest erhielt. Stolz überblickte seine 3 Meter hohe Spitze die Kinder- und Enkelschar. Im Schatten seiner dichten Zweige erzählte er mir abends Gute-Nacht-Geschichten oder bereitete mich auf meine Bestimmung vor.
Der Platz links von ihm war nun leer. Anstatt meiner befand sich dort nur noch ein Loch. Unter der Aufsicht des Försters buddelte mich ein Studententrupp aus. Ich gönnte ihnen ihren Weihnachtslohn, hätte mir aber gewünscht, dass sie mich erst in ein paar Jahren markieren und ausgraben würden.
Nun stehe ich, meine Füße eingezwängt in einen schwarzen Plastiktopf, auf dem Parkplatz des Billig-Baumarktes und fühle mich alleine. Niemand spricht mit mir und der Wind pfeift mir durch die Nadeln.
Ich vermisse Großvater. Die schweigsamen Bäumchen neben mir können mir gestohlen bleiben. Wie die teilweise ausschauen: Die Spitze nackt und schief, bei einigen lichtet sich bereits das Fell. Also das Grün.
Ich schäme mich für sie mit.
Noch stehe ich gerade in meinem Plastiktopf, doch wie lange noch? Ein Mann sagt zu seinen Kindern: „Wir müssen uns heute beeilen. Nicht, dass der angekündigte Sturm die Bäume weg wehen wird.“
Ich will nicht verweht werden. Bevor das geschehen würde, würde ich den schnellen Tod in einem Kamin bevorzugen. Meine Nadeln würden sicherlich einen angenehmen Geruch verbreiten.
Plötzlich höre ich ein lautes klacken. Ein Geräusch, welches ich im Wald noch nie gehört habe. Der Ursprung ist schnell gefunden: Eine Frau in Stiefeln mit hohen Absätzen läuft zielgerichtet auf mich zu. „Du bist es. Du wirst der meine.“
Was bin ich? Wessen bin ich?
Mühselig hebt sie mich in ihren Einkaufswagen und noch viel mühseliger in den Kofferraum ihres Wagens. Ich glaube, einen leisen Fluch zu hören.
Es muss lustig ausgesehen haben: Eine 2 Meter Tanne, die in einen Mini gesteckt wurde.
Ich spüre meine Knochen. Also Zweige.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich dachte, mir brechen gleich alle Zweige ab, ruckelt es an mir und mit Schwung zieht sie mich aus dem Auto und trägt mich in ein Haus.
Auf einer großen, roten Decke stellt sie mich ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn und schaut mich skeptisch an.
Mit einem Fuß fixiert sie den Plastiktopf und gibt mir mit der rechten Hand eine schallende Backpfeife an die Stelle einen halben Meter unterhalb der Spitze.
Autsch!
Hier soll ich meine Weihnachtsbaumzeit verbringen?
Von solchen Herrinnen habe ich ja schon gehört. Doch fügen sie nicht eher den Menschen gerne den Schmerz zu und nicht den unschuldigen Weihnachtsbäumen?
Großvater hätte mir vorher sagen können, dass es auch so zur Sache könnte.
Erlebt man das zur Einstimmung?
Angst macht sich in mir breit.
Ich mache mir nicht in die Hose. Hätte ich vor Angst eine schlimme Dünnpfiffattacke, so würde sich diese in spontanem Nadelabwurf bemerkbar machen.
„Ha, jetzt stehst Du endlich gerade mein hübsches Bäumchen.“
Höre ich Lob aus ihrer Stimme? Ich gebe mir Mühe und recke mich noch einen Zentimeter in die Höhe.
Wenige Minuten später geht es bereits los. „Last Christmas“, gefolgt von vielen Weihnachtsliedern des Rat Pack erklingen über Stunden aus einer großen Lautsprecherbox neben mir. So hört es sich also an, wenn sich Menschen in Weihnachtsstimmung bringen? Mit roten und weißen Kugeln werde ich behangen.  Glitzernde Strohsterne schmücken später meine Tannenenden, eine Engelsfigur meine Spitze, eine lange Lichterkette meine Äste und zum Schluss wirft sie ganz viel rotes Lametta über mich.
Ich sehe aus wie ein Mädchen. Ich bin ein Mann, ein Weihnachtsbaum und kein Tännchen, das nun einem Einhorn ähnelt.
So vergehen die Tage. Abends schaltet sie die Lichterkette an und manchmal höre ich ein leises: „Ach, wie schön Du bist“ von ihr.
Kurz nachdem sie an einem runden Ding, welches nach abgehackten Abfallprodukten von mir ausschaut, eine dicke rote Kerze anzündete, sah ich sie zum ersten Mal: Sie trägt auch Kugeln. Keine in rot oder weiß. Ohne Anhänger dran, um sie irgendwo zu befestigen. Nein, sie sind in einem dezentem beige. Nicht an Ästen aufgehängt, sondern etwas unterhalb der Stelle, aus der ihre Stimme kommt.
Mei sind die groß.Ein wenig glänzen sie. Ich kann mich nicht satt sehen.
Noch einmal möchte ich von ihr hören: „Ach, wie schön Du bist.“ Um ihr zu imponieren und um den Verlust meiner Nadeln zu verhindern, kneife ich täglich mehrmals meine Pobacken zusammen, also ich recke mich und dehne meine Äste. Alles muss frisch und kräftig bleiben, um die Zeit über Weihnachten hinaus zu überstehen. Großvater hatte mir den Rat gegeben, mich intensiv um meinen Body zu kümmern und den Haar- also Nadelverlust auf das nötigste zu minimieren. Das würde Herrinnen beeindrucken und eine gute Überlebenschance für die Zeit nach den Heiligen Drei Könige bieten.
Inzwischen ist es Heiligabend. Ich habe kaum Nadeln verloren und doch beschäftigen mich zartbittere Gedanken. Wird sie mich in den Garten umpflanzen oder mit der guten Nagelschere säuberlich zerkleinert der Biotonne zuführen?
Ich schließe die Augen und träume. Von einem Platz neben ihrem kleinen Pool rechts von der Terrasse und dem Anblick ihrer Kugeln in der Sommerzeit.