„Read what I see“: Sommermomente

Mit viel Glück hatte ich einen Platz auf der Terrasse unter einem Schirm ergattert. Es ist früh am Morgen, doch die Sonne brennt bereits unbarmherzig und heizt die Stadt in kürzester Zeit auf. Das warme Wetter beherrscht die Gesprächsthemen im Freundeskreis sowie in der Tagespresse. Vergessen werden die Tage im Juli, die meist weit unterhalb der 30 Grad Marke lagen. Wahrgenommen werden die aktuellen heißen Tage oberhalb dieser Grenze.
Mein Latte Macchiato schmeckt mir trotz der Hitze. Abwechselnd trinke ich einen Schluck davon, gefolgt von einem Schluck Eiswasser, während ich in einem Buch lese. Eine Wespe verirrt sich in meinem Latte und träge beobachte ich, wie sie sich aus dem Glas heraus hangelt, um im nächsten Moment wieder darin zu versinken. Mit dem Strohhalm könnte ich an ihr vorbei einen Schluck trinken. Doch befürchte ich sie ungewollt mit aufzusaugen und von ihr gestochen zu werden. Gerne verzichte ich auf diese Erfahrung.
Durch ein Gespräch lasse ich mich ablenken. Eine Frau unterhält sich mit ihrem Freund. Ihre schlanken Beine stecken in recht kurzen Hosen. Ihr scheint es sehr warm zu sein. Mit einem Fächer fächelt sie sich Luft zu, während ihr Freund ihr etwas Schweiß aus dem Gesicht wischt. Auch ihre Arme sind mit einem Schweißfilm bedeckt. Als sie aufsteht, höre ich erst ein schmatzendes und dann ein lautes Geräusch. Anscheinend haben auch ihre Beine geschwitzt, denn ihr Po und die Beine kleben beim Aufstehen am Stuhl fest, der mit lautem Gepolter zu Boden fällt. Es scheint, als schaut das ganze Café gerade in diesem Moment von Büchern, Zeitungen und aus Gesprächen auf. Auf ihren Po und auf ihre Beine, die tiefe Druckspuren des Stuhls auf sich tragen.
In meiner langen Leinenhose fühle ich mich recht luftig bekleidet und vor solch einem Malheur geschützt.
Ich höre Gesprächsfetzen, in denen über die Hitze gesprochen, gejammert, das Ende der Welt heraufbeschworen wird und sich über volle Badeseen beklagt werden. Sehe Postkarten, dünne Zeitungen und Fächer im Einsatz, mit denen sich Luft zu gefächert wird.
Die Wespe hat den Kampf gewonnen und den Weg aus meinem Glas gefunden. Sie fliegt zum nächsten Tisch. Was mag sie dort trinken oder essen? Wen wird sie dort durch ihre Anwesenheit in Panik versetzen?
Mein Sitzplatz liegt geschickt. Zum einen sehe und höre ich das Geschehen auf der Terrasse, aber auch das Geschehen im Café ist für mich sicht- und hörbar.
Heute arbeitet dort eine Mitarbeiterin, die aus dem Heer der anderen, netten Angestellten heraussticht. Ihre Körperhaltung ist speziell. Schaut sie etwas an, öffnet sie den Mund, hält den Kopf nach unten und sieht aus wie ein Kleinkind, welches sich zum ersten Mal etwas aus der Kuchentheke aussuchen darf. Der Mund bleibt auch in den Momenten, in denen sie Kunden bedient und nicht spricht, geöffnet.
Gerade lästert sie lauthals über den nicht anwesenden Vorgesetzten. Der von ihr abfällig als Rotschopf bezeichnetete Mann bekommt verbal sein Fett weg. Bei geöffneter Terassentür ist es bis draußen zu hören.
Die mit ihr arbeitende Kollegin ist klein, zierlich, schüchtern und spricht leise. Ein ungewöhnliches Gespann. Schade, dass ich Unterhaltungen, Dialekte und die verwendete Lautstärke beim Sprechen schriftlich schlecht wiedergeben kann. Man würde zwischen den Reaktionen lachen, und sich fremd schämen, schwanken.
Mein Blick geht in ihre Richtung, Den offenen Mund und Blick nach unten habe ich erwähnt. Mit dem offenen Mund verlagert sich auch die Gesichtssymmetrie. Alles rutscht Richtung Doppelkinn und betont dieses unvorteilhaft. Im ungeschminkten Gesicht fällt der fahle Taint auf. Durch den Kurzhaarschnitt, dem man ansieht, dass sie ihn gerade noch mit den Fingern gekämmt hat, wirkt sie ungepflegt. Aus diesem Grund würde ich heute nichts bei ihr kaufen. Die Schürze hängt fast unter dem Bauch. Es gelingt ihr nicht, diese gescheit zu binden. Sobald sie merkt, dass die Schürze rutscht, kommt ein lautes: „Mensch, jetzt bleib´doch maahl da.“ Gerne geschieht es im Kundengespräch, was für Irritationen sorgt. Wenn kein Kunde anwesend ist, höre ich diesen Satz ebenfalls ständig. Apropos sprechen: Selbstgespräche erfolgen im Minutentakt. Die Gäste schauen irritiert zu ihr hinüber, aber das scheint sie nicht zu interessieren. Wie soll ich es sagen? Auf mich wirkt sie sie als Magd auf dem Bauernhof besser aufgehoben, als in einem Job mit Kundenkontakt.
Gerade kommt ein Kunde herein und fragt:
„Was ist das?“
„Ein Nusszopf.“ (Dabei wird wieder an der Schürze gedreht.)
Der Kunde trägt Sneakers, schwarze Pumasocken, kurze Jeanshose mit türkisfarbenen Shirt, Gürteltasche. Sein Bart ist zu drei Zöpfen gebunden, wobei jedes Zopfende mit einer Perle dekoriert ist. Nur auf den letzten Drücker kann ich mir ein lautes Lachen verkneifen. Eine der Perlen entspricht der Farbe seines T-Shirts. Ich stelle ihn mir morgens beim ankleiden im Schlafzimmer vor. Seine Garderobe passend zu seinen Perlenfarben im Zopf aussuchend. Auf mich wirkt es nicht individuell, sondern affig und unmännlich. Gleichzeitig möchte ich laut darauf hinweisen, dass Gürteltaschen schlecht aussehen. Ob mit Bauch oder ohne Bauch getragen. Ob von Mann oder Frau getragen: Es sieht einfach nicht schön aus, egal wer sie trägt.
Noch hat er sich für keinen Kuchen entschieden. Stattdessen fotografiert er die Kuchentheke ab und schreibt viel an seinem Handy. Ich erahne den Inhalt der Nachrichten in seiner WhatsApp Gruppe.
Mama:                       „Ich will eine Schwarzwälderkirschtorte.“
Mann mit Zopf:         „Die gibt es hier aber nicht.“
Papa:                         „Ich will aber etwas mit Zwetschgen und viel Schlagsahne.“
Freundin:                  „Boh, Eierlikörtorte gibt es heute nicht. Was ein Saftladen.“
Mann mit Zopf:         „Wie wäre es mit Frankfurter Kranz? Den kriegt die Mama doch nie hin.“
Mama:                        „Stimmt gar nicht. Die Butter, die Du mir mitbringst, ist immer eine von der billigen Sorte. Damit kann das ja nie was werden.“
Mann mit Zopf:         „Jetzt entscheide ich einfach und kaufe etwas.“
Gesagt, getan. Vier Stück Zwetschgenkuchen (ohne Sahne!) wechseln den Besitzer.
Nun tritt eine junge Frau an die Kuchentheke heran. Sie trägt sehr kurze Hotpants, die aussehen, als wären sie selbst genäht. Hübsch sind sie nicht. Definitiv sind diese Hotpants nicht hot, sondern zu kurz. Es sieht halt wirklich blöde aus, wenn man die Pofalten oberhalb der Reiterschenkel an blassen Beinen sieht. Die Blicke sind ihr sicherlich gewiss. Ob sie wohlwollend sind, kann ich nicht beurteilen. Ihre an die Verkäuferin gerichtete Frage höre ich nicht. Doch die Antworten der Mitarbeiterin schallen bis weit nach draußen:
„Kalte Getränke haben wir nur in der Flasche.“
„Ein Stückle habe ich noch, mehr nedde.“
„4461 ist doch der Stachelbeer, ooooder?“
Kurz darauf höre ich ein „Jaaaaaaaach?“ von ihr.
Eine Frage der Kundin ließ sich bis draußen nicht hören.
Mit aller Gewalt konzentriere ich mich und schwenke mein Gehör und meinen Blick wieder Richtung Terrasse. Dort sehe ich einen kleinen Jungen, der mit Hingabe sein Eis nascht. Es ist ein Eis im Hörnchen und wie ich seinem weißen T-Shirt entnehmen kann, mindestens mit Schokoladeneis gefüllt. Er isst sein Eis von unten nach oben, beißt weiter in die Waffel und fängt, Kopf verdrehend das auslaufende Eis mit der Zunge auf, was ihm schlecht gelingt. Noch eine falsche Kopfdrehung und die ersten Tropfen werden in seinen Haaren landen. Zur Freude der immer noch herumfliegenden Wespe?

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Ein Hinweis in eigener Sache:
Der Rhythmus, in dem ich hier Kolumnen veröffentliche ist eigentlich der Folgende. Eigentlich.

Montags um 8 Uhr:                         Die Kolumne „Read what I see“
Freitags: Im Laufe der Tages:       Kolumne allgemeinen Inhalts
Zwischendurch wird die ein oder andere Buchbesprechung oder Kurzgeschichte veröffentlicht. Aus verschiedenen Gründen habe ich den Rhythmus in den letzten Wochen nicht eingehalten. Ausreden lassen sich immer finden. Doch wenn ich mit Texten nicht zufrieden bin, veröffentliche ich diese nicht. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich bin zuversichtlich, wieder auf einem guten Weg zu sein und die Veröffentlichungstermine einzuhalten.

 

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