„Read what I see“: Der Anblick von viel Frau aus der Sicht von Leo

Leo ist ein kleiner blonder Junge im Alter von 3 Jahren. Ein kleiner Charmebolzen, der mich immer an eine Astrid Lindgren Figur erinnert, die noch nicht geschrieben wurde.
Ohne seine Polizeimütze auf dem Kopf habe ich ihn kaum gesehen, kaum mit schlechter Laune erlebt. Wenn ihm etwas auf dem Herzen liegt, dann stellt er Fragen. Wenn ihm etwas nicht gefällt, dann sagt er es. Wenn er vor mir steht, ausführlich und sehr ausdrücklich erzählt, dass er Polizist werden möchte, dann glaube ich es ihm auf ’s Wort. Wobei ich die leichte Vermutung habe, dass vielleicht auch der Beruf des Feuerwehrmannes ins Spiel kommen könnte.
Leo hat mir gegenüber keinerlei Hemmungen mich Löcher in den Bauch zu fragen. Der folgende Auszug gibt einen Überblick darüber, wie groß diese Löcher sein können.
Als ich das erste Mal bei seiner Familie war, wurde ich erst einmal in Augenschein genommen. Dann sah ich, wie es in seinem Kopf arbeitete und schon stellte er mir, sehr charmant, seine Fragen. Vollkommen aus dem Zusammenhang heraus:
Leo: „Frau Sabine, wann kommt Dein Baby?“
Sabine dreht sich um, verkneift sich das Lachen:
„Leo, das ist kein Baby, das ist mein dicker Bauch.“
Leo: „Nicht schlimm, mein Papa hat auch einen dicken Bauch.“

Leo: „Frau Sabine, wo sind Deine Kinder?“
„Leo, ich habe keine Kinder.“
Leo: „Keine Kinder. Gibt es nicht.“

Leo: „Und wo ist Dein Mann? Im Auto?“
„Ich habe keinen Mann.“
Leo ist irritiert. „Frau Sabine, aber wenigstens Hühner hast Du?“
„Nein, Leo, ich habe keine Hühner. Ich habe keinen Garten dafür.“
Leo: „Frau Sabine, keine Hühner? Egal, Du darfst trotzdem wiederkommen.“
Drehte sich um, knallte seine Hacken wie ein Soldat vor seinem Oberst zusammen und wackelte mit der viel zu großen Mütze auf dem Kopf von dannen.
Und hinterließ eine sehr amüsierte Sabine.

Beim nächsten Besuch war Leo inzwischen 4 Jahre alt. Die Polizeimütze ist immer noch viel zu groß und ich erstaune ihn wegen meiner Körperfülle immer noch?
Leo erzählte ganz stolz von seinem schwarzen Huhn. Dieses Mal war ich ein wenig vorgewarnt und es hätte mich eher enttäuscht, wenn ich mein Fett nicht abbekommen hätte. Schneller als ich denken konnte, ging sein Gedankenkarussell wieder los.
Leo:“ Mein Huhn Valentina ist bald so dick wie Du Frau Sabine.“
„Leo, man sagt den Menschen aber nicht ins Gesicht, dass sie dick sind. Dann sind die traurig.“
Leo: „Aber Frau Sabine, ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der einen so großen Bauch und Popo hat wie Du.“
„Leo, das solltest Du mir so nicht sagen. Ich lache darüber, aber es gibt Menschen, die sind dann traurig, wenn man ihnen sagt, dass sie dick sind.“
Leo: „Aber Frau Sabine, Du bist doch dick!“
„Leo, ich habe eine Freundin, die hat noch einen dickeren Popo als ich. Die wäre ganz traurig, wenn Du ihr sagst, dass sie dick ist“
Leo: „Einen größeren Popo als Du Frau Sabine? DAS gibt es wirklich nicht. Aber Du hast nicht einen so großen Busen wie meine Oma. Der ist nämlich riesig.“
Damit schien das Thema vorerst erledigt.

Er hörte Musik, malte, und erklärt, dass er das Kinderzimmer neben dem Bad bekommen hat, da er nachts manchmal ganz schnell auf die Toilette muss. Mit dem nun kurzen Weg passiert ihm nicht so schnell ein Malheur.
„Leo, das kann doch mal passieren. Der Sohn von meinem Bruder hat im Kindergarten manchmal in die Hose gemacht. Dann haben ihn die anderen Kinder Hosenscheißer genannt.“
Leo: „Frau Sabine, das ist aber ganz, ganz gemein!“
„Ja Leo und wenn Du zu Menschen sagst, dass sie dick sind, ist das auch gemein.“
„Oh Frau Sabine, ja das ist richtig gemein.“ Und schüttelt seinen blonden Lausbubenkopf dazu…..
Dreht sich um und hat etwas gelernt?
Auf die Fortsetzung unseres nächsten Dialoges bin ich sehr gespannt.
Zum Abschied bekam ich ein selbst gemaltes Bild von ihm. Für ihn stelle ich irgendwie ein Phänomen dar. Er kennt Frauen mit dickem Bauch nur, wenn sie schwanger sind. Eine Frau ohne Mann ist für ihn ebenfalls unbekannt. Nun repräsentiere ich einige Bereiche, die ihm unbekannt sind: Dick, kein Mann und man beachte: Keine Hühner.
Um ehrlich zu sein: Seine offenen Fragestellungen ohne dabei Hemmungen zu haben, seine Verwunderungen anzusprechen, amüsieren mich. Mir machen sie Spaß. Nein, sie verletzen mich nicht und erinnern mich daran, wie meine Außenwirkung sein kann. Ja, viel Frau wird von den Menschen sicherlich verschieden wahrgenommen. Und von vielen Männern gemocht.

 

 

Foto:privat

„Read what I see“: Brief an eine Freundin aus der Eisdiele in H.

Liebste Freundin,

ich sitze in der Eisdiele in H., in der wir uns bereits mehrmals zum Frühstücken getroffen haben. Ja, genau die, in der eine Mitarbeiterin solch eine komische Quietsche Stimme hat. Die Sonne scheint, also packte ich mein Notizbuch ein, um dort einen Cappuccino zu trinken. Natürlich in der Erwartung, dass es dort etwas zu beobachten gibt und sich die Seiten meines Notizbuchs füllen werden.

Wie es ausschaut, wird meine Erwartung erfüllt. Noch wurde der Cappuccino nicht serviert und ich muss mir das Lachen verkneifen. Oder einen überraschten Blick? Ich sitze im Thekenbereich auf der letzten Bank. So habe ich alles im Blick, wie – wer kommt, wer geht – bekomme die Eisbestellungen der Schulkinder mit und höre das Meckern der Kellnerin, die draußen Getränke servieren möchte, ihr jedoch niemand der eintretenden Gäste die Tür öffnet. So muss sie erst ihre Tabletts abstellen, die Tür öffnen, die Tabletts erneut in die Hand nehmen und schwupps knallt ihr ein neuer Gast wieder die Tür vor der Nase zu.

Was verursacht mir ein Lachen? Am Tisch gegenüber sehe ich eine alte Frau. Ihr Hut ist mit einer großen Nadel auf ihren perfekt sitzenden Haaren, oder Perücke, befestigt. Ihr Gesicht ist von vielen Falten und Pigmentflecken durchzogen. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Stuhl, schaut durch ihre beschlagene Brille auf ihren Eisbecher und löffelt genüsslich mit sehr langsamen Armbewegungen einen Löffel Eis nach den anderen und qualmt. Aus den Ohren. Ja, sie qualmt aus den Ohren!
Ich nippe an meinem Cappuccino, den ich inzwischen bekommen habe, nehme meine Brille ab und schaue erneut zu der Frau hinüber. Meine Brille ist nicht beschlagen, ich sehe richtig. Aus ihren Ohren steigt Qualm auf.
Um ehrlich zu sein, zweifele ich ein wenig an meinem Verstand. Im Kopf überschlage ich meine Medikamenteneinnahme. Nein, in keinem Beipackzettel sind Halluzinationen als Nebenwirkungen aufgeführt.
Diszipliniert vermeide ich es sie anzustarren. Erneut hebt sie mit einer langsamen Bewegung den Löffel mit Eis, und etwas Rotem darauf, zum Mund. Ein klein wenig wendet sie dabei ihren Kopf und plötzlich gibt es keine Nebelschwaden mehr aus ihrem Ohr.

Sie isst einen Eisbecher, den ich nur noch aus den 80er Jahren, vielleicht noch aus den 90er Jahren kenne, doch nicht mehr in der Gegenwart: Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Wie früher werden sie in einer Sauciere serviert. Diese Himbeeren müssen sehr heiß sein, da noch immer Dampf aus ihnen hervorsteigt. Je nachdem, wie die alte Dame ihren Kopf hält, wirkt es, als würde der aufsteigende Dampf aus ihren Ohren strömen.
Puh, diese schnelle Auflösung verhindert, dass ich heute eventuell verrückt werde.

Matthew Blake: Anna O.

 

Klappentext:
Seit vier Jahren hat Anna Ogilvy ihre Augen nicht mehr geöffnet. Nicht seit jener Nacht auf der Farm, wo man sie im Tiefschlaf gefunden hat, ein Küchenmesser in der Hand, die Kleidung blutverschmiert. Neben den Leichen ihrer beiden besten Freunde. Die einen halten Anna O. für unschuldig, die anderen für eine kaltblütige Mörderin. Aber nichts und niemand hat sie aus ihrem Albtraum wecken können. Bis jetzt.

Dr Benedict Prince ist Psychologe und Experte für Verbrechen, die im Schlaf begangen werden. Bei Nacht und Nebel wird er in die Schlafklinik The Abbey gerufen. Dort hat man die berühmteste Verdächtige des Landes eingeliefert: Anna Ogilvy, 29. Das ganze Land spekuliert: Hat Anna die Tat wirklich begangen? Hat sie dabei geschlafwandelt? Wie steht es dann um ihre Schuld? Und warum ist sie seitdem nicht mehr aufgewacht?
Ben hat eine gewagte Theorie, wie er Anna wecken könnte. Doch Ben wird beobachtet. Vom Justizministerium. Von seiner Ex-Frau, die als Kommissarin damals als Erste am Tatort war. Von Annas Mutter, früher eine einflussreiche Ministerin. Von einer Bloggerin, die Annas geheime Aufzeichnungen besitzt. Und vielleicht auch von dem mysteriösen Patienten X, dem Anna auf der Spur war. Ben bleibt nicht viel Zeit. Und er ahnt nicht, in welcher Gefahr er schwebt.
Der raffinierte Thriller um Schlaf, Psychologie, Schuld und Rache. 
Ein Spannungs-Roman, der Leser in aller Welt mit seinen faszinierenden Rätseln wachhält.

Anna O. ist die Person, die polarisiert. Erfolgreich mit einem StartUp, soll sie ihre Freunde im Schlaf ermordet haben. Einem Schlaf, aus dem sie seit vier Jahren nicht mehr aufwacht. Die einen halten sie für schuldig, die anderen für unschuldig.
Aus der Haftanstalt wird sie in die Schlafklinik The Abbey eingeliefert, wo sie von dem bekannten Psychologen Benedict Prince unter äußerster Geheimhaltung behandelt werden soll. Unter der Beobachtung des Justizministeriums und der Polizei (seiner Ex-Frau). Unterstützt wird er in der Pflege von der Krankenschwester, die Anna O. bereits während der Haft pflegte.
Während Dr. Prince seine Behandlung mit dem Ziel Anna O. aufzuwecken beginnt, was zur Folge hätte, dass sie vor Gericht gestellt werden kann, überkommen ihm Zweifel. Ist das moralisch korrekt?

Das Buch wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Nüchtern aus der Sicht des Wissenschaftlers Dr. Ben Prince, aus der Sicht von Anna O., dem Tagebuch, Patient x und anderen. In Rückblenden wird auf eine Frau eingegangen, die während des Schlafwandelns ihre Stiefkinder ermordete. Wo gibt es Zusammenhänge?
Wer ist Patient X?
Auf den ersten Blick liest sich das Buch spannend. Der Plot ist gut angedacht und scheint aus dem Wust an Veröffentlichungen herauszuragen, so dass man denkt: „Wie, nur in 30 Länder verkauft? Welches Land könnte diesem Thriller widerstehen?“
Leider ist dem nicht so. Häufig wirkt es wie gewollt spannend, gar mystisch, was auch an den Wiederholungen liegt und den flach gezeichneten Figuren: Irgendwie wurde ich mit ihnen nicht warm.

Der Wechsel der Perspektiven könnte zur Spannung beitragen. Wie zuvor erwähnt, wiederholt sich dadurch vieles und das Buch wird langatmig, obwohl man eigentlich nur schnell eine Seite nach der anderen rasch umschlagen möchte. Um dann zu erkennen: Ach, das gab es bereits.

Die Auflösung kann überraschend wirken, mir war sie leider schon recht früh klar.

Dem Buch hätten weniger Seiten und weniger Überladung an eingebrachten Themen deutlich gutgetan. 480 Seiten sind einige zu viel.

Mich konnte das Buch nicht ganz packen, aber ich kann gut nachvollziehen, warum andere von einem Pageturner sprechen. Die Erzählperspektive, die Einbindung von Patient X, die sich langsam aufbauende Gefahr um Dr. Prince…. Mich störte das verwendete Handwerkszeug. Als regelmäßige Thrillerleserin bin ich halt anspruchsvoll.

 

Leseprobe: https://www.book2look.com/book/9783104918006

Eine Weihnachtsgeschichte im Jahre 2023

Hannelore und Franz saßen in der guten Stube und schauten sich an. An den Händen haltend, lauschten sie andächtig „Weihnachten mit Peter Alexander“. Nachdem sie Annemarie ins Bett gebracht hatten, die seit nunmehr fast 40 Jahren darauf bestand, dass diese LP an Heiligabend aufgelegt wurde, wollten sie diese ein letztes Mal gemeinsam hören.
Die Wachskerzen am Weihnachtsbaum dimmten die gute Stube in ein gemütliches Licht. In diesem Jahr beschenkten sie sich nicht. Annemarie bekam eine neue Puppe. Ihre war nach über 60 Jahren zerbrochen und zerfleddert. Einen Puppendoktor, der sie hätte reparieren können, gab es nicht mehr. Hannelores Weitsichtigkeit verhinderte es, wenigstens das Puppenkleid auszubessern.
Monatelang suchten sie nach einer neuen Puppe, bis sie mit der Qualität zufrieden waren. Die mühselige Suche hatte sich für die wenigen Stunden der Verwendung gerechnet. Annemarie jauchzte und ließ ihre Puppe, die sie sofort „Emma Zwei“ taufte, nicht mehr los. Nun lagen beide schlafend im Bett.

Ihre Annemarie: 1960 gab es Komplikationen während ihrer Geburt, so dass sie nie ein eigenständiges Leben führen konnte. Mit knapp sechs Jahren lernte sie laufen, mit zehn Jahren sprechen. Lesen nie. Die ganzen Jahre blieb sie geistig auf dem Stand eines Kleinkinds.
Hannelore und Franz liebten ihr Kind. Wuchsen gemeinsam mit ihr, wurden gemeinsam mit ihr alt. Es gab Momente, in denen sie ihr ein Leben mit Mann und Kindern, oder sich wenigstens während der sexuellen Revolution in den 70ern ausgetobt haben zu können, wünschten. Doch was nicht möglich war, war nicht möglich.

Franz stellte eine neue Kanne mit Tee auf den Tisch. Es war eine Mischung, die Hannelore jeden Herbst mit den getrockneten Kräutern aus dem Garten zusammenstellte.
Die letzte gemeinsame Tasse Tee.
„Erinnerst Du Dich noch an unseren ersten Weihnachtsbaum hier im Haus?“
„Ja“, erwiderte Franz. „Für Annemarie schmückten wir ihn. Das viele Lametta verdeckte die schönen Glaskugeln. Doch sie jauchzte und lachte den ganzen Abend.“
„Unser erstes Weihnachtsfest hier war ein besonderes Weihnachtsfest. Wir dachten darüber nach, noch ein Kind zu bekommen.“
„Dann hätten wir Annemarie nicht gerecht werden können.“
Hannelore dachte an ihre geliebte Annemarie. Ein Kind im Körper einer alten Frau. Mit ihren 62 Jahren war ihr Gesicht von Falten übersät, ihr Rücken krümmte sich. Für Hannelore blieb sie immer ihr kleines Mädchen, welches stundenlang mit ihrer Puppe spielte.

Sie schaute Franz an und erging sich in Erinnerungen. Beide wurden 1935 geboren und wuchsen in einem kleinen Ort auf. Eine typische Sandkastenliebe. In der Grundschule saßen sie nebeneinander, solange es die Schule noch gab.
Sobald sie ihrer Mutter in der kleinen Wohnung geholfen hatte oder mit den Lebensmittelmarken stundenlang anstand, traf sie sich mit Franz zum Spielen. Manchmal standen sie gemeinsam mit ihren Müttern an und spielten in der Schlange fangen. Zum Verdruss der anstehenden.
Sie besuchte noch nicht die Grundschule, als die ersten grauen Busse durch den Ort fuhren. Manch Einwohner weinte und rannte vergeblich in dem Versuch hinterher, ihn einzuholen. Die meisten Einwohner jedoch schauten, im Gegensatz zu Frau Müller von der Metzgerei, weg. „Wird Zeit, dass die Deppen wegkommen. Das Essen reicht schon so nicht für alle.“
Nie vergaß sie das Gesicht eines dunkelhaarigen Jungen hinter einer der Fensterscheiben, der stotternd nach seiner Mama schrie.
Erst sehr viel später verstand sie, dass die grauen Busse die behinderten oder psychisch kranken Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer aus der Umgebung und aus anderen Teilen Deutschlands abholten.
Vom dunkelhaarigen Jungen träumte sie seit mehreren Jahren regelmäßig.

Nach dem Krieg zog sie mit Franz in die erste gemeinsame Wohnung. Klein, kalt und windig war es dort. Dank seiner guten Stellung und ihrem Gehalt zogen sie bald in ihr Haus um. Bis in die 70er Jahre buchten sie einen Weihnachtsmann, begruben den Weihnachtsbaum unter Lametta und Annemaries Bett ebenfalls. Sie liebte es an Heiligabend in das nun knisternde Bett zu steigen. Das erste Auto ließ nicht lange auf sich warten und der erste Auslandsurlaub ebenfalls nicht. Mit Annemarie auf dem Schoß fuhren sie nach Italien. „Bella Italia“. Bei der Erinnerung leuchten ihre Augen. Italien, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Florida und viele Länder mehr bereisten sie in den weiteren Jahrzehnten.
Sie dachte an Annemarie und wurde wehmütig. In den 90ern Jahren kamen die ersten Ängste auf, in welche Richtung ihr Land driftete. Ängste, die auch Annemarie galten.
Später verlor sie diese, um vor knapp zehn Jahren erneut drastisch an die Oberfläche zu sprudeln. Seitdem der rechte Salvini Innenminister in Italien war, reisten sie nicht mehr ins Land, spendeten für verschiedene Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer.

Mit dem Erstarken der AfD dachten sie an Auswanderung. Italien und Holland fielen aus. Das englische Gesundheitssystem schaffte es kaum die Engländer zu versorgen. Könnte es sie versorgen? Der Brexit machte ihre Auswanderungspläne endgültig zunichte.
Häufig diskutierte sie mit ihrem Franz über Höckes Reden. Sie lasen „Niemals zweimal in den gleichen Fluss“ und erkannten die Gefahr. Die letzten Hochrechnungen zur Landtagswahl in den neuen Bundesländern verursachten ihr Angst und Atemnot.
„Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen.“ Bei diesem Satz wurde ihr übel und ihr Herz stolperte.
Die vielversprochene Brandmauer gegen rechts gab es nicht mehr. Merz log und brachte bewusst Begriffe wie Leitkultur ins Spiel. Früher musste sie ihn immer aufgrund seiner Optik anstarren. Er war und ist so hässlich. Zuerst äußerlich, inzwischen innerlich. Sein Totenkopfkopf wirkte, als wäre das Fruchtfleisch einer dicken, matschigen Birne darübergestülpt worden. Dieser dumme Kopf stieß nun täglich auch dumme Aussagen und Lügen aus. Bewusste Hetzen gegen Migranten, Zuwanderung führten zu einer Spaltung und weiterem erstarken der AfD.

Es schauderte sie.

Kinder sollten nicht vor ihren Eltern gehen. Es sollte umgekehrt sein. Nun gehen sie gemeinsam.

Seine Hannelore. Hübsch und klug wie am ersten Tag ihres Kennenlernens. Er schaute sie an und spürte ihre Angst. Vermutete, welchen Erinnerungen sie nachhing.
Er dachte an die ersten Jahrzehnte ihrer Ehe. Früher war nicht mehr Lametta. Dank Annemarie mussten sie weiter an gewissen Traditionen festhalten, da Routine wichtig für Annemarie war und ist. Hannelore und er gewöhnten sich daran.
Franz bemerkt Hannelores leuchtende Augen. Sicherlich befindet sie sich gedanklich in Italien. Riecht das Meer und spürt den Sand unter ihren Füßen.

Gleich werden sie in den Keller gehen. Neben dem grauen, verschlossenen Stahlschrank befindet sich das Regal mit den Pokalen. Franz war ein guter Sportschütze. Hannelore war besser. Belegte er einen guten zweiten Platz, so belegte sie in der Damenmannschaft einen ersten Platz. In all´ den Jahrzehnten besiegte er sie nicht ein einziges Mal.
Sie tranken beide den letzten Schluck Tee, löschten die Kerzen am Baum und vergewisserten sich, dass die Briefe dort lagen, wo sie liegen sollten. Viele waren es nicht.
Sie schauten sich an und gingen langsam händchenhaltend in den Keller. Öffneten den Stahlschrank, schraubten jeder einen Schalldämpfer auf und stiegen, erneut die Kellertreppe hinauf.

Sie müssen ihre Tochter vor den grauen Bussen retten.

Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben.

 

Foto:pixabay.com

Victoria Kiellland: Meine Männer

Klappentext:
Was macht eine Frau zur Mörderin und wie erzählt man davon? Mit einzigartiger Sprachkraft taucht Victoria Kielland ein in die Psyche der ersten amerikanischen Serienmörderin Belle Gunness, die um die Jahrhundertwende von Norwegen in die USA auswanderte. Die literarische Sensation aus Norwegen und der internationale Durchbruch für eine junge, mutige Autorin, die mit ihrem Erzählen neue Wege beschreitet.
Die siebzehnjährige Brynhild kann die schreiende Welt in ihrem Inneren nicht zur Ruhe bringen. Sie arbeitet als Magd auf einem Großbauernhof und beginnt eine intensive Affäre mit dem Hoferben. Doch ihre unermessliche Leidenschaft findet bald ein grausames Ende. Brynhild flieht von Norwegen nach Amerika, um ein neues Leben zu beginnen. Dort wird sie sich, eine Getriebene ihres unstillbaren Sehnens, einen neuen Namen geben und bei zahlreichen Männern Zuflucht suchen, die jedoch alle bald auf rätselhafte Weise sterben. Ihr Leben wird zu einem Gefängnis der unheilbaren Wunden, aus dem es für sie kein Entkommen gibt.
Eine der aufsehenerregendsten neuen Stimmen Norwegens betritt die literarische Bühne: Meine Männer ist ein dichter, bildgewaltiger Roman, der vor roher Sinnlichkeit vibriert und einen mitreißenden Sprachrausch erzeugt.

 Meine Männer ist eine literarische Fantasie, frei inspiriert von tatsächlichen Ereignissen“.

Liest man den Namen Belle Gunness und den Begriff Serienkillerin, so erliegt man schnell dem Trugschluss, dass es sich hier um einen Krimi oder eine Biografie handeln könnte. Dem ist bei weitem nicht so. Erzählt wird die Geschichte der jungen Magd Brynhild, die eine gewaltvolle Affäre mit einem Hoferben eingeht. Als sie ihm von ihrer Fehlgeburt erzählt, erleidet sie, aufgrund seiner Prügel, eine Fehlgeburt. Und verliert ihr Vertrauen in Männer.
Anschließend wandert sie zu ihrer Schwester nach Amerika aus. Dort heiratet sie und tötet ihre Ehemänner und Anwärter, um mit dem Geld ihre Kinder zu ernähren.
Ja, Belle Gunness war die erste Serienkillerin Amerikas und ich glaubte darüber und über ihre Motivation in diesem Buch zu lesen.
Stattdessen wird die Handlung um Brynhild, die sich später Belle nennt, sehr verworren erzählt. So gut wie nichts wird im Detail beschrieben. Es wird angedeutet, dabei lange Schachtelsätze verwendet, die es schwer machen dem Inhalt zu folgen. Dadurch ist Belles einsetzender Irrsinn erkennbar, aber nicht nachvollziehbar. Vieles bleibt schwammig. Nicht nur die Personen.
Wer nun glaubt, die 184 Seiten lassen sich schnell lesen, der irrt. Die gewaltige und bildhafte Sprache, die jeden Satz prägt, erfordert ihren Tribut. Man genießt sie, oder verzweifelt daran. Dies in Verbindungen mit den Andeutungen, machte es mir schwer die Person Belle zu fassen. Ich wurde nicht warm mit ihr und blieb distanziert. Dadurch kam mir das Buch auch an Seiten umfangreicher vor als es tatsächlich war.

Ja, der Schreibstil ist besonders. Mir war er auf Dauer zu anstrengend.

Jeanette Walls: Vom Himmel der Sterne

Klappentext:
Die meisten Leute halten nicht viel von der jungen Sallie Kincaid. Sie ist die Tochter des Duke, mehr nicht. Aber Sallie hat andere Pläne – und sie wird alle davon überzeugen …
Sallie ist die Tochter des mächtigsten Mannes einer Kleinstadt in Virginia. Geboren zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist sie fünf Jahre alt, als ihre Mutter nach einem Streit mit Sallies Vater, dem charismatischen Duke Kincaid, stirbt. Er heiratet erneut und bekommt einen Sohn. Als Sallie dem Halbbruder beibringen will, so stark wie der Vater – und sie selbst – zu sein, führt ihre waghalsige Nachhilfe zu einem schweren Unfall. Sallie wird verstoßen und muss das Anwesen verlassen.
Mit siebzehn Jahren kehrt sie zurück ins Große Haus, entschlossen, sich ihren Platz in der Familie zurückzuerobern. Doch der Duke ist tot, es gilt die Prohibition und in der Stadt herrscht Lynchjustiz. Sallie ist entschlossen, nicht ein zweites Mal zu weichen – und widersetzt sich der harten Männerwelt selbstbewusst und scharfsinnig, um sie für immer zu verändern.

Es gibt Bücher, die mag man nicht aus der Hand legen. Fasziniert blättert man eine Seite nach der anderen um, liest fast die Nächte durch und ist ein wenig enttäuscht, wenn die 448 Seiten gelesen sind. So erging es mir mit „Vom Himmel der Sterne“, in der die Sallie sich für mich zu einer Heldin ihrer Kleinstadt entwickelt. Sie ist die Tochter des mächtigsten Mannes einer Kleinstadt, den sie abgöttisch liebt. Als kleiner Wildfang verfängt sie ihren noch kleineren Halbbruder in einen Unfall und muss die Familie verlassen. So verbringt sie die nächsten Jahre in Armut bei ihrer Tante.

Mit 17 Jahren kehrt sie ins „große Haus“ zurück und muss sich ihren Platz erkämpfen. Als ihr Vater, genannt der Duke, bei einem Unfall stirbt, kämpft sie. Gegen ihre Familie, gegen die Männerwelt, für die Stadt und gegen die Prohibition. Dabei offenbart sie soziale Gerechtigkeit, viel Mut, Intelligenz, Geschick und kreative Ideen.

Ich könnte noch mehr ins Detail gehen, doch würde ich dann zu viel spoilern.

Warum konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen? Mir wuchs Sallie von der ersten Seite ans Herz. Vom kleinen Mädchen, bis zur Frau, die ihren Weg geht und dabei die Kleinstadt mitnimmt. Ihre Menschen, ihre wirtschaftliche Grundlage. Ihr Willen Hindernisse aus dem Weg zu gehen, die Menschen zu verbinden und die Schicksalsschläge zu überleben.
Wie in anderen Büchern von Jeanette Wells überzeugt weniger die Sprache, sondern die Zeichnung ihrer Charaktere. Nicht nur Sallie, auch die Nebenfiguren werden gut und logisch gezeichnet. So lebt das Buch von seiner Handlung und seinen Charakteren, die einen guten Einblick in das Leben einer Kleinstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts geben.

Es wundert mich nicht, dass die Filmrechte bereits verkauft wurden.

Louise Kennedy: Übertretung

Klappentext:
Jeden Tag, während Cushla Lavery ihrer alkoholkranken Mutter das Frühstück macht, sich im Garten mit dem Nachbarn unterhält, ihre Grundschüler unterrichtet oder in der Bar ihrer Familie aushilft, werden die Toten und die Verletzten gezählt. Es ist 1975, und in Belfast eskaliert der Bürgerkrieg. Die katholischen Laverys betreiben ihren Pub in einer überwiegend protestantischen Vorstadt. Sie müssen vorsichtig sein – ein falsches Wort, schon findet man sich auf einer Todesliste wieder. In diesem »Höllenloch« gibt es vieles, was man besser nicht tut. Sich in einen verheirateten Mann verlieben, der nicht nur ein wohlhabender, angesehener Prozessanwalt ist, sondern auch noch Protestant. Sich einmischen, wenn ein Schüler schikaniert und sein Vater fast totgeprügelt wird. Gegen jede Vernunft beginnt Cushla eine leidenschaftliche Affäre mit dem deutlich älteren Michael Agnew, gegen jede Vernunft setzt sie sich für den kleinen Davy ein – und bezahlt einen hohen Preis. Louise Kennedys international gefeierter Roman erzählt von einer tief gespaltenen Gesellschaft, von einem Konflikt, dessen Wunden bis heute nicht geheilt sind, von Menschen, die versuchen, inmitten täglich stattfindender Gewalt ein normales Leben zu führen. Ein herzzerreißendes, bittersüßes, unvergessliches Buch.

Die junge, katholische Lehrerin Cushla ist die Hauptfigur in diesem Roman. Unterrichtet sie nicht, so wird sie durch ihre Familie eingebunden. Sie kümmert sich um die alkoholkranke Mutter und hilft im Pub ihrer Familie aus. Dazu liegt ihr ihr Schüler Davy am Herzen, dessen Familie und er schikaniert werden, da seine Mutter Protestantin ist, während der Vater Katholik ist.
In der Grundschule beginnt der Morgen mit den Nachrichten: Die Schüler zählen auf, was passiert ist: Eine Bombe hier, ein Mord dort, ein Bombenopfer hier, ein fast zu Tode geprügelter dort. Im Alltag sind dies keine außergewöhnlichen Nachrichten. Diese Geschehnisse prägen den Alltag. So ist es „normal“, dass der Nachbar täglich unter sein Auto schaut, ob dort eine Bombe platziert wurde.
In dieser Atmosphäre darf nicht geschehen, was geschieht. Sich als Katholikin in den angesehenen, älteren, protestantischen Prozessanwalt zu verlieben. Doch das geschieht Cushla, als sie im Pub der Familie Michael kennenlernt. Während sie unter einem Vorwand seine Freunde trifft, ist ihre Familie nicht informiert. Zu gefährlich wäre es für den Pub und ihre Familie.
Ich begann das Buch, als es auf der Shortlist zum British Book Award stand. Ich beendete es, als es diesen gewann. Die 304 Seiten faszinierten mich und ich las es fast in einem Rutsch. Der Inhalt fesselte mich. Nein, ich wuchs nicht in Nordirland auf, doch besuchte ich mehrmals Belfast und andere nordirische Städte. Noch über vierzig Jahre danach hat der Konflikt seine Spuren hinterlassen. Hierbei meine ich nicht die optischen. Mit Dubliner Kennzeichen versehentlich am Jahrestag in die Nähe des Marsches des protestantischen Oranier-Orden zu gelangen ist auch heute noch nicht ungefährlich.

Welch gewaltiges Buch über die Liebe. Eine verbotene Liebe. Angesiedelt in Nordirland der 70er Jahre, das von Gewalt, Religion, Politik und Alkohol geprägt ist.
Ein Buch, welches so anschaulich geschrieben ist, dass ich den Alkohol rieche, die Bombendetonationen höre und den Wunsch verspüre, dem Priester in die Fr… zu schlagen. (sorry.) Es verursachte mir mehrmals Gänsehautmomente. Natürlich werden irische Stereotypen verwendet, allerdings passend und es tut diesem tollen Buch keinen Abbruch.
Natürlich hoffte ich auf ein Happy End, obwohl der Spannungsbogen mir bewusst machte, dass es dieses nicht geben kann?

Wer so gewaltig schreibt, dass ich Raum und Zeit vergesse und das Buch nach der letzten Seite weinend weglege, der folge ich blind mit den nächsten Büchern, von denen ich hoffe, dass Louise Kennedy noch viele schreiben wird und kann. Nun bestelle ich mir erst einmal ihren Band mit Kurzgeschichten.
Und ich hoffe auf eine Verfilmung durch die BBC.

 

Foto: Steidl Verlag

Jan Costin Wagner: Einer von den Guten (Die Ben Neven Krimis, Band 3)

Klappentext:
Ben Neven, leitender Kriminalermittler, glücklich verheiratet, Familienvater, von Kolleginnen und Kollegen hochgeschätzt, ist einer von den Guten. Niemand weiß von seinem Doppelleben, niemand weiß, dass Neven einmal wöchentlich einen Parkplatz weit von zu Hause ansteuert. Um dort Adrian zu treffen, einen minderjährigen Jungen.
Während der Sommer verblasst und der Herbst anbricht, verstrickt sich Neven immer tiefer und auswegloser im Dickicht seines ungeheuerlichen Doppellebens. Und Adrian lernt die gleichaltrige Vera kennen, die ihm ein ganz anderes Leben zeigt. Ein Leben, das er nicht kannte und dass er vor seinem Vater, der ihn zur Prostitution zwingt, verbergen muss.
Sowohl Ben als auch Adrian müssen radikale Entscheidungen treffen, um die unhaltbare Situation zu ändern. Doch jeder Schritt ist ein Schritt am Abgrund. Wenn Neven sich jemandem anvertraut, steht seine Existenz auf dem Spiel. Und Adrian müsste sich von seinen Wurzeln und seinem alten Leben komplett lossagen. Werden sie einen Ausweg finden? Und wenn ja, um welchen Preis? 
Eine fein austarierte, hochmoralische Meditation über Menschen am Abgrund, die uns nach dem letzten Satz sprachlos und doch mit geschärftem Blick zurücklässt.

Puh, es gibt Bücher, bei denen man nach dem Lesen einen Schnaps benötigt. Oder auch zwei. „Einer von den Guten“ ist eines dieser Bücher. Die überschaubare Seitenanzahl von etwas über 220 Seiten reichen hierzu aus, um am Ende tief Luft zu holen.
Dies ist der dritte Band um Ben Neven, den Kriminalermittler von der Wiesbadener Polizei. Band 1 und Band 2 habe ich nicht gelesen, so dass mir Ben Neven als Figur und als Ermittler unbekannt waren. Um Band 3 zu verstehen, muss man die Vorgängerbücher nicht gelesen haben.
Ben Neven ist glücklich verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und pädophil. Einmal wöchentlich trifft er den minderjährigen, rumänischen Adrian, der von seinem Vater gezwungen wird sich zu verkaufen.
Unweit des Parkplatzes, auf dem sich Adrian anbietet, befindet sich das Schwimmbad, in dem er die gleichaltrige Vera kennenlernt. Sie zeigt ihm ein anderes Leben. Ein kindgerechtes Leben. Gibt es eine Chance für sie? Gibt es eine Chance für ihn?

Während Adrian sich in das kindgerechte Leben einfindet, verstrickt sich Ben immer mehr in seine Lebenslüge.
Er outet sich seinem Mentor gegenüber und ist dennoch nicht ehrlich. Nicht dem Mentor gegenüber, nicht sich selbst gegenüber. Er redet sich seine Neigung sehr sachlich schön, was bei mir das Bedürfnis weckte ihn zu schütteln und zu schlagen. Gleichzeitig fühlte ich mich beklemmt.

Das Buch wird aus mehreren Perspektiven erzählt. Vorrangig aus der von Ben und der von Adrian. Ein geschickter Erzählstil, der, gerade durch die Sachlichkeit von Ben, dem pessimistischen Krimi guttut und mich fesselt.

Ist dieses Buch wirklich dem Genre Krimi zuzuordnen? Wird es ein Happy End geben? Kann ein Buch mit einem pädophilen Hauptcharakter ein Happy End haben?

Nein.

Zum dritten Mal ein 9. Mai ohne Dich

Das war der 9. Mai im vergangenen Jahr und im Jahr zuvor:

9. Mai

Kein runder Geburtstag für Dich.
Kein Muttertag für Dich.
Viele Grüße nach …
ja wohin?
Einem Ort, an dem es Dir besser geht?
Einem Ort, an dem Dich nichts mehr an vor dem 9. Juli erinnert?

Du fehlst.

Immer noch.

Frank Willmann: Der Pate von Neuruppin (Vom Imbisswagen zum Drogenimperium)

Klappentext:
Breaking Bad in Brandenburg – der größte Kriminalfall des Ostens

1990 eröffnen ein paar Jugendfreunde eine Imbissbude. 14 Jahre später werden sie wegen Kokainhandel, illegalem Glücksspiel, Erpressung, Betreiben eines Bordells und Gründung einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Dazu kommt ein ungeklärter Mordfall. Zum ersten Mal erzählen die Mitglieder der sogenannten »XY-Bande« die unglaubliche, aber wahre Geschichte ihres Erfolgs und ihrer Verfolgung. Ein spektakulärer Fall, der die Verbrüderung von Kapitalismus und Verbrechen offenbart. Und ein authentisches Porträt des wilden Ostens in den Neunzigerjahren.
Als Olaf Kamrath im August 2004 bei einer groß angelegten Polizeirazzia festgenommen wird, ist er nicht mehr der kleine Junge des örtlichen Kneipenbesitzers, sondern der Kopf einer gut geölten Geldmaschine: Die »XY-Bande« versorgt alle zwischen Rostock und Berlin mit erstklassigem Stoff aus Amsterdam. Olaf, Kalle, Joschi und Franky sind vier Jugendfreunde, die mit dem Fall der Mauer die Chance zum großen Erfolg wittern und es wagen, sie zu ergreifen.
Die ersten tausend Mark verdient Olaf mit den Würstchen aus seiner Imbissbude. Dann kommen Spielautomaten, ein Fitnesscenter und ein Puff dazu. Doch spätestens mit der Eröffnung der eigenen Großraumdisco beginnt für die Freunde eine neue Ära, denn jetzt steigen sie auch in das Drogengeschäft ein.
Frank Willmann hat in langen Gesprächen das Vertrauen aller Beteiligten gewonnen. Erstmals wird hier die ganze Geschichte erzählt. Unglaublich, aber wahr.

Ein paar Freunde tun sich in den 90er Jahren in Neuruppin zusammen, um reich zu werden. Beginnend mit der Pommesbude, über Automatenaufstellungen, Spielhöllen, Puff und Drogenhandel sind sie recht flexibel unterwegs. Zum Schluss „seriös unterwegs“ holt sie die kriminelle Vergangenheit ein, da zwei Kronzeugen aussagen. Bekannt wurden sie als „XY“ Bande, benannt nach ihren Autokennzeichen.
Mir war weder die „XY“ Bande bekannt noch der Prozess oder Neuruppin. Oder der Autor.

Frank Willmann beschreibt das Milieu aus Sicht einiger Bandenmitglieder. In chronologischer Reihenfolge erzählen sie plastisch abwechselnd von der Kindheit bis zum Prozess und dem Gefängnisaufenthalt. Dabei wird auf die moralische Keule und Bewertung durch den Autor verzichtet.

Das Buchmit seinen 228 Seiten habe ich in einem Rutsch gelesen, da der Inhalt spannend war. Durch die verschiedenen Schreibstile, je nachdem wer erzählt, wird es nie langweilig. Manchmal musste ich schmunzeln, manchmal wunderte ich mich, wie leicht Drogenschmuggel und -verkauf sein konnten. Die Jahre schienen so selbstverständlich leicht zu sein. Als Leser bekam ich einen authentischen Eindruck dieser Zeit.

Schön hätte ich es gefunden zu lesen, wie es den erzählenden Protagonisten heute geht. Die Freundschaft existiert noch, doch wie leben sie jetzt. Von Olaf Kamrath ist es bekannt.