Eine Weihnachtsgeschichte im Jahre 2023

Hannelore und Franz saßen in der guten Stube und schauten sich an. An den Händen haltend, lauschten sie andächtig „Weihnachten mit Peter Alexander“. Nachdem sie Annemarie ins Bett gebracht hatten, die seit nunmehr fast 40 Jahren darauf bestand, dass diese LP an Heiligabend aufgelegt wurde, wollten sie diese ein letztes Mal gemeinsam hören.
Die Wachskerzen am Weihnachtsbaum dimmten die gute Stube in ein gemütliches Licht. In diesem Jahr beschenkten sie sich nicht. Annemarie bekam eine neue Puppe. Ihre war nach über 60 Jahren zerbrochen und zerfleddert. Einen Puppendoktor, der sie hätte reparieren können, gab es nicht mehr. Hannelores Weitsichtigkeit verhinderte es, wenigstens das Puppenkleid auszubessern.
Monatelang suchten sie nach einer neuen Puppe, bis sie mit der Qualität zufrieden waren. Die mühselige Suche hatte sich für die wenigen Stunden der Verwendung gerechnet. Annemarie jauchzte und ließ ihre Puppe, die sie sofort „Emma Zwei“ taufte, nicht mehr los. Nun lagen beide schlafend im Bett.

Ihre Annemarie: 1960 gab es Komplikationen während ihrer Geburt, so dass sie nie ein eigenständiges Leben führen konnte. Mit knapp sechs Jahren lernte sie laufen, mit zehn Jahren sprechen. Lesen nie. Die ganzen Jahre blieb sie geistig auf dem Stand eines Kleinkinds.
Hannelore und Franz liebten ihr Kind. Wuchsen gemeinsam mit ihr, wurden gemeinsam mit ihr alt. Es gab Momente, in denen sie ihr ein Leben mit Mann und Kindern, oder sich wenigstens während der sexuellen Revolution in den 70ern ausgetobt haben zu können, wünschten. Doch was nicht möglich war, war nicht möglich.

Franz stellte eine neue Kanne mit Tee auf den Tisch. Es war eine Mischung, die Hannelore jeden Herbst mit den getrockneten Kräutern aus dem Garten zusammenstellte.
Die letzte gemeinsame Tasse Tee.
„Erinnerst Du Dich noch an unseren ersten Weihnachtsbaum hier im Haus?“
„Ja“, erwiderte Franz. „Für Annemarie schmückten wir ihn. Das viele Lametta verdeckte die schönen Glaskugeln. Doch sie jauchzte und lachte den ganzen Abend.“
„Unser erstes Weihnachtsfest hier war ein besonderes Weihnachtsfest. Wir dachten darüber nach, noch ein Kind zu bekommen.“
„Dann hätten wir Annemarie nicht gerecht werden können.“
Hannelore dachte an ihre geliebte Annemarie. Ein Kind im Körper einer alten Frau. Mit ihren 62 Jahren war ihr Gesicht von Falten übersät, ihr Rücken krümmte sich. Für Hannelore blieb sie immer ihr kleines Mädchen, welches stundenlang mit ihrer Puppe spielte.

Sie schaute Franz an und erging sich in Erinnerungen. Beide wurden 1935 geboren und wuchsen in einem kleinen Ort auf. Eine typische Sandkastenliebe. In der Grundschule saßen sie nebeneinander, solange es die Schule noch gab.
Sobald sie ihrer Mutter in der kleinen Wohnung geholfen hatte oder mit den Lebensmittelmarken stundenlang anstand, traf sie sich mit Franz zum Spielen. Manchmal standen sie gemeinsam mit ihren Müttern an und spielten in der Schlange fangen. Zum Verdruss der anstehenden.
Sie besuchte noch nicht die Grundschule, als die ersten grauen Busse durch den Ort fuhren. Manch Einwohner weinte und rannte vergeblich in dem Versuch hinterher, ihn einzuholen. Die meisten Einwohner jedoch schauten, im Gegensatz zu Frau Müller von der Metzgerei, weg. „Wird Zeit, dass die Deppen wegkommen. Das Essen reicht schon so nicht für alle.“
Nie vergaß sie das Gesicht eines dunkelhaarigen Jungen hinter einer der Fensterscheiben, der stotternd nach seiner Mama schrie.
Erst sehr viel später verstand sie, dass die grauen Busse die behinderten oder psychisch kranken Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer aus der Umgebung und aus anderen Teilen Deutschlands abholten.
Vom dunkelhaarigen Jungen träumte sie seit mehreren Jahren regelmäßig.

Nach dem Krieg zog sie mit Franz in die erste gemeinsame Wohnung. Klein, kalt und windig war es dort. Dank seiner guten Stellung und ihrem Gehalt zogen sie bald in ihr Haus um. Bis in die 70er Jahre buchten sie einen Weihnachtsmann, begruben den Weihnachtsbaum unter Lametta und Annemaries Bett ebenfalls. Sie liebte es an Heiligabend in das nun knisternde Bett zu steigen. Das erste Auto ließ nicht lange auf sich warten und der erste Auslandsurlaub ebenfalls nicht. Mit Annemarie auf dem Schoß fuhren sie nach Italien. „Bella Italia“. Bei der Erinnerung leuchten ihre Augen. Italien, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Florida und viele Länder mehr bereisten sie in den weiteren Jahrzehnten.
Sie dachte an Annemarie und wurde wehmütig. In den 90ern Jahren kamen die ersten Ängste auf, in welche Richtung ihr Land driftete. Ängste, die auch Annemarie galten.
Später verlor sie diese, um vor knapp zehn Jahren erneut drastisch an die Oberfläche zu sprudeln. Seitdem der rechte Salvini Innenminister in Italien war, reisten sie nicht mehr ins Land, spendeten für verschiedene Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer.

Mit dem Erstarken der AfD dachten sie an Auswanderung. Italien und Holland fielen aus. Das englische Gesundheitssystem schaffte es kaum die Engländer zu versorgen. Könnte es sie versorgen? Der Brexit machte ihre Auswanderungspläne endgültig zunichte.
Häufig diskutierte sie mit ihrem Franz über Höckes Reden. Sie lasen „Niemals zweimal in den gleichen Fluss“ und erkannten die Gefahr. Die letzten Hochrechnungen zur Landtagswahl in den neuen Bundesländern verursachten ihr Angst und Atemnot.
„Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen.“ Bei diesem Satz wurde ihr übel und ihr Herz stolperte.
Die vielversprochene Brandmauer gegen rechts gab es nicht mehr. Merz log und brachte bewusst Begriffe wie Leitkultur ins Spiel. Früher musste sie ihn immer aufgrund seiner Optik anstarren. Er war und ist so hässlich. Zuerst äußerlich, inzwischen innerlich. Sein Totenkopfkopf wirkte, als wäre das Fruchtfleisch einer dicken, matschigen Birne darübergestülpt worden. Dieser dumme Kopf stieß nun täglich auch dumme Aussagen und Lügen aus. Bewusste Hetzen gegen Migranten, Zuwanderung führten zu einer Spaltung und weiterem erstarken der AfD.

Es schauderte sie.

Kinder sollten nicht vor ihren Eltern gehen. Es sollte umgekehrt sein. Nun gehen sie gemeinsam.

Seine Hannelore. Hübsch und klug wie am ersten Tag ihres Kennenlernens. Er schaute sie an und spürte ihre Angst. Vermutete, welchen Erinnerungen sie nachhing.
Er dachte an die ersten Jahrzehnte ihrer Ehe. Früher war nicht mehr Lametta. Dank Annemarie mussten sie weiter an gewissen Traditionen festhalten, da Routine wichtig für Annemarie war und ist. Hannelore und er gewöhnten sich daran.
Franz bemerkt Hannelores leuchtende Augen. Sicherlich befindet sie sich gedanklich in Italien. Riecht das Meer und spürt den Sand unter ihren Füßen.

Gleich werden sie in den Keller gehen. Neben dem grauen, verschlossenen Stahlschrank befindet sich das Regal mit den Pokalen. Franz war ein guter Sportschütze. Hannelore war besser. Belegte er einen guten zweiten Platz, so belegte sie in der Damenmannschaft einen ersten Platz. In all´ den Jahrzehnten besiegte er sie nicht ein einziges Mal.
Sie tranken beide den letzten Schluck Tee, löschten die Kerzen am Baum und vergewisserten sich, dass die Briefe dort lagen, wo sie liegen sollten. Viele waren es nicht.
Sie schauten sich an und gingen langsam händchenhaltend in den Keller. Öffneten den Stahlschrank, schraubten jeder einen Schalldämpfer auf und stiegen, erneut die Kellertreppe hinauf.

Sie müssen ihre Tochter vor den grauen Bussen retten.

Eltern sollten ihre Kinder nicht überleben.

 

Foto:pixabay.com

Charles Lewinsky: Rauch und Schall

Klappentext:
Goethe kommt zurück aus der Schweiz und hat zu Hause in Weimar plötzlich eine Schreibblockade. Da kann sein kleiner Sohn August noch so still sein und seine Frau Christiane noch so liebevoll um sein Wohl besorgt. Ausgerechnet sein Schwager Christian August Vulpius, ebenfalls Schriftsteller und von Goethe verachteter Viel- und Lohnschreiber, kommt ihm in dieser Situation zu Hilfe. Zu einer Hilfe, die Goethe nicht will und doch dringend braucht.

Wie soll man über ein Buch schreiben, welches mir so viel Spaß bereitet hat, es zu lesen? Gelangte ich ans Ende einer Seite, so war ich bereits auf die nächste gespannt. Im Grund konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Charles Lewinsky Goethe und die damalige Zeit ein „wenig auf die Schippe nimmt“ und versuchte so viele Infos wie möglich über Goethe ganz nebenbei unterzubringen.

Wie soll ich über ein Buch schreiben, welches mit Hämorrhoiden beginnt und mit diesen endet? Selbstverständlich haben sich diese am Ende des Buches gebessert. Weiterlesen

Victoria Kiellland: Meine Männer

Klappentext:
Was macht eine Frau zur Mörderin und wie erzählt man davon? Mit einzigartiger Sprachkraft taucht Victoria Kielland ein in die Psyche der ersten amerikanischen Serienmörderin Belle Gunness, die um die Jahrhundertwende von Norwegen in die USA auswanderte. Die literarische Sensation aus Norwegen und der internationale Durchbruch für eine junge, mutige Autorin, die mit ihrem Erzählen neue Wege beschreitet.
Die siebzehnjährige Brynhild kann die schreiende Welt in ihrem Inneren nicht zur Ruhe bringen. Sie arbeitet als Magd auf einem Großbauernhof und beginnt eine intensive Affäre mit dem Hoferben. Doch ihre unermessliche Leidenschaft findet bald ein grausames Ende. Brynhild flieht von Norwegen nach Amerika, um ein neues Leben zu beginnen. Dort wird sie sich, eine Getriebene ihres unstillbaren Sehnens, einen neuen Namen geben und bei zahlreichen Männern Zuflucht suchen, die jedoch alle bald auf rätselhafte Weise sterben. Ihr Leben wird zu einem Gefängnis der unheilbaren Wunden, aus dem es für sie kein Entkommen gibt.
Eine der aufsehenerregendsten neuen Stimmen Norwegens betritt die literarische Bühne: Meine Männer ist ein dichter, bildgewaltiger Roman, der vor roher Sinnlichkeit vibriert und einen mitreißenden Sprachrausch erzeugt.

 Meine Männer ist eine literarische Fantasie, frei inspiriert von tatsächlichen Ereignissen“.

Liest man den Namen Belle Gunness und den Begriff Serienkillerin, so erliegt man schnell dem Trugschluss, dass es sich hier um einen Krimi oder eine Biografie handeln könnte. Dem ist bei weitem nicht so. Erzählt wird die Geschichte der jungen Magd Brynhild, die eine gewaltvolle Affäre mit einem Hoferben eingeht. Als sie ihm von ihrer Fehlgeburt erzählt, erleidet sie, aufgrund seiner Prügel, eine Fehlgeburt. Und verliert ihr Vertrauen in Männer.
Anschließend wandert sie zu ihrer Schwester nach Amerika aus. Dort heiratet sie und tötet ihre Ehemänner und Anwärter, um mit dem Geld ihre Kinder zu ernähren.
Ja, Belle Gunness war die erste Serienkillerin Amerikas und ich glaubte darüber und über ihre Motivation in diesem Buch zu lesen.
Stattdessen wird die Handlung um Brynhild, die sich später Belle nennt, sehr verworren erzählt. So gut wie nichts wird im Detail beschrieben. Es wird angedeutet, dabei lange Schachtelsätze verwendet, die es schwer machen dem Inhalt zu folgen. Dadurch ist Belles einsetzender Irrsinn erkennbar, aber nicht nachvollziehbar. Vieles bleibt schwammig. Nicht nur die Personen.
Wer nun glaubt, die 184 Seiten lassen sich schnell lesen, der irrt. Die gewaltige und bildhafte Sprache, die jeden Satz prägt, erfordert ihren Tribut. Man genießt sie, oder verzweifelt daran. Dies in Verbindungen mit den Andeutungen, machte es mir schwer die Person Belle zu fassen. Ich wurde nicht warm mit ihr und blieb distanziert. Dadurch kam mir das Buch auch an Seiten umfangreicher vor als es tatsächlich war.

Ja, der Schreibstil ist besonders. Mir war er auf Dauer zu anstrengend.

Slide 1

 

Slide 2