„Read what I see“: Ein Tag am See

Der Tag am See begann mit dem üblichen Aufbau der Luftmatratze, dem verteilen des Buches auf dieser und der Suche nach der Sonnenbrille. Ihr Revier unter einem schattigen Baum auf der leeren Wiese war markiert.
Noch leerer Wiese.
Bereits auf dem Parkplatz wunderte sie sich über die Anzahl der geparkten Autos. Das Publikum verlief sich auf dem Gelände um den See, so dass frühmorgens alles noch recht ruhig war.
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Ferdinand von Schirach: Strafe

Klappentext:
Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Wie wurden wir, wer wir sind?
Ferdinand von Schirach beschreibt in seinem neuen Buch „Strafe“ zwölf Schicksale. Wie schon in den beiden Bänden „Verbrechen“ und „Schuld“ zeigt er, wie schwer es ist, einem Menschen gerecht zu werden und wie voreilig unsere Begriffe von „gut“ und „böse“ oft sind.
Ferdinand von Schirach verurteilt nie. In ruhiger, distanzierter Gelassenheit und zugleich voller Empathie erzählt er von Einsamkeit und Fremdheit, von dem Streben nach Glück und dem Scheitern. Seine Geschichten sind Erzählungen über uns selbst.
 

Beim Öffnen des Buches fiel mir gleich die Schriftgröße auf. Auch ein Leser mit wenig Sehkraft wird diese Geschichten, Dank der großen Schrift, lesen können. Durch die Schriftgröße und den vielen eingeschobenen Absätze erhielt ich schnell den Eindruck, dass dieses Buch mit seinen wenigen 189 Seiten künstlich gestreckt wurde. Soll vermieden werden, dass dem Leser sehr schnell auffällt, dass für den Kaufpreis von 18€ recht wenig Inhalt geliefert wird? Diese Frage beantworte ich mit ja.
Die Geschichten habe ich in einer Nacht weg gelesen. Ich mag den Schreibstil. Die Erzählperspektive und die kurz gehaltenen Sätze. Doch mehr auch nicht. Nachdem ich „Schuld“ und „Verbrechen“ gelesen hatte, war ich bereits von den Romanen enttäuscht. Nun las ich die erste Geschichte und dachte, nachdem ich sie gelesen hatte: Das war es nun? Ich hielt diese für einen Ausrutscher in dem Buch und begann die nächste. Das Ergebnis änderte sich nicht. Das Buch wurde von mir nur deshalb in einer Nacht gelesen, weil ich die Hoffnung hatte, gleich kommt eine Geschichte, die so gut ist, wie in den anderen Büchern. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. In den Geschichten wird viel über Einsamkeit geschrieben und es geschieht auch der eine oder andere Mord. Darüber wird mit einer Nonchalance geschrieben, die mich ein wenig an Ingrid Noll erinnert. Insgesamt wirken die Geschichten, insbesondere „Tennis“ als unausgegoren, lieblos und nicht ausgereift.
Ich kann mich einfach des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Geschichten nur veröffentlicht worden, um etwas zu veröffentlichen. Wäre ein anderer Schrifttyp verwendet worden, würde dieses Buch keine 150 Seiten umfassen. In Zusammenhang mit dem o.g. Preis eine Unverschämtheit.

„Read what I see:“ K-Ä-W-I-N oder Im Freibad

Der Sonntagmorgen im Freibad begann leise und unaufgeregt. Die Schwimmer und Schwimmerinnen grüßten sich noch, wenn sie aus dem Schwimmerbecken stiegen oder man sich unter den Duschen begegnete.
Langsam füllte sich das Freibad mit Freizeitschwimmern, Sonnenanbetern und mit Kevin, Louis und Leo. Diese Jungen waren mir zuvor unbekannt, im Laufe des Tages kannte ich mindestens die lauten Rufe ihrer Mütter. Louis Mutter setzte sich so auf eine Holzbank, dass sie sich mit dem Rücken an ein Gitter anlehnen konnte und verharrte für mehrere Stunden in dieser Stellung. Sie platschte dort und bewegte sich keinen Zentimeter, schrie gerne herum. Benötigte sie ein Papiertaschentuch, so ging es folgendermaßen. „Louis“ wurde lauthals gebrüllt „hol´mir ein Tempo.“ Hörte Louis nicht sofort, so schrie sie seinen Namen einmal, zweimal oder auch dreimal. Je nachdem aus welcher Ecke des Freibads er kam und der Weg zu ihr dementsprechend lang war. Dann griff er in die Badetasche und reichte ihr das gewünschte. Den Namen des zweiten Jungen erfuhren die Badegäste nicht, da sie nie nach ihm rief. Durch ihr Geschrei wurde die Aufmerksamkeit vieler Badegäste auf sie gelenkt. Der eine nahm nur die schwarz lackierten Fußnägel wahr und fragte sich sicherlich, ob Louis ihr die auch hat lackieren müssen. Die Beine waren komplett mit dicken Krampfadern durchzogen, die Bräune kaschierte etwas die stark ausgeprägte Orangenhaut. Der Haarschnitt hatte bereits bessere Zeiten gesehen. Der Badeanzug ebenfalls. So saß und saß sie dort über Stunden. Wenn sie etwas benötigte, schrie sie nach Louis, der es ihr brachte. Als die beiden Jungs sie baten ein Eis kaufen zu dürfen, verneinte sie es. Nicht leise. Oh Mann, ihr schreien war schon ohrenbetäubend, doch ihre Kodderschnauze nicht weniger unangenehm anzuhören. Louis durfte eine Tüte mit Zwiebelringen aus einer Tasche holen. Die Durstmacher. So war es nicht verwunderlich, als die Jungs kurz darauf wiederkamen und um etwas zu trinken baten. Laut wurde es verneint und ich weiß nicht, wo sie ihren Durst stillen konnten. Als sie mit ihren beiden Jungs das Freibad verließ wurde es bedeutend ruhiger in der Ecke.
Bis Kevin kam. Ein kleiner, braun gebrannter Junge mit Hüftspeck über der Badehose. Im Alter von ca. 10 Jahren. Begleitet von einer Mutter, die in einem schwarzen Badekleid gekleidet war und deren dauergewelltes und blondiertes Haar vor zwanzig Jahren modern gewesen war. Der Vater trug ebenfalls schwarze Badekleidung und ähnelte seinem Sohn optisch sehr. Oder umgekehrt. Für mich war es eine Überraschung den Namen Kevin zu hören. Ich hatte wirklich gedacht, dass der Name unter den Kindern bis zehn Jahre ausgestorben wäre. Kevin nahm seine übergroße Wasserpistole, stellte sich auf die Kinderrutsche und machte sich ein Vergnügen daraus, kleine Kinder, die noch in Windeln herumliefen, ins Gesicht zu spritzen. Oder Kinder, die rutschen wollten, so lange zu bespritzen, bis sie weinend davonliefen. In wenigen Minuten wurde er der Herr über Rutsche und Sandkasten. Keine Kinder hielten sich dort mehr auf. Also bespritzte er größere Kinder, die sich hätten wehren können. Nun bemerkten auch seine Eltern, dass es für Kevin eng werden könnte.  „K-Ä-W-I-N“ schrie sein Vater. „Komm her.“ Das war Kevin egal. Er schaute seinen Vater an, der weiter an seiner Bierflasche nuckelte, und bewegte sich keinen Zentimeter. Als wüsste er, dass auch sein Vater sich nicht von der Stelle bewegen würde. Kevin ging zum Kinderschwimmbecken, füllte seine große Wasserpistole auf und nahm Jugendliche ins Visier. „K-Ä-Ä-Ä-W-I-N“ brachte schier mein Trommelfell zum Platzen. Nun brüllte auch die Mutter. Der Junge bewegte sich weiterhin nicht, seine Eltern ebenfalls nicht. Inzwischen sprachen Erwachsene Kevin an, doch er reagierte nur mit weiteren Stößen aus seiner Wasserpistole. Vermutlich konnte sich niemand der Anwesenden dafür entscheiden, ob sie den unerzogenen Kevin nervig fanden oder die brüllenden Eltern, die sich keinen Zentimeter von ihren Liegen bewegten, während sie die Bierflaschen leerten. Ich verpasste den Augenblick als jemand Kevin die Wasserpistole entzog. Nun gab es erneutes Gebrüll. Allerdings ohne Namensnennung. Kevin brüllte sich die Seele aus dem Leib. Irgendwann stand sein Vater auf und zog Kevin zu seiner Liege. Auf eine rabiate Art und Weise zeigte der Jungen sein Missfallen darüber, indem er seinen Vater ins Gemächt boxte. Nicht nur ich verkniff mir ein Lächeln. Wenige Minuten später wurde es still. Kevin mit Anhang hatte das Bad verlassen.
Entspannt saß ich auf meiner Liege, trank einen Kaffee, las in meinem Buch und beobachtete über die Sonnenbrille schielend den Bereich um das Kinderschwimmbecken. Auffällig viele Männer mit Brüsten kamen auf ihrem Rückweg vom Kiosk daran vorbei. Badehosen in verschiedensten Neonfarben passierten auf zwei Beinen den Weg am Becken und manch einer konnte es nicht abwarten sofort seine Pommes zu naschen. Mit der Bierflasche in der rechten Hand, der Schale mit Pommes in der linken, gestaltete es sich ein wenig schwierig. Also wurde der Mund in die Pommes getunkt, mit den Zähnen zwei, drei verschlungen und die Mayonnaise fand den Weg an die Nasenspitze. Die Nasenspitze entsprach farblich nun der Farbe des Oberkörpers.
Das Kinderschwimmbecken füllte sich wieder mit Kindern, die plantschten, die Fontänen zu bändigen versuchten und einfach ihren Spaß haben wollten. Ein Mädchen kam mit ihrem kleinen Bruder dazu. Sie spritzten sich nass und er setzte sich auf eine Fontäne. Nun ging es los. Sobald er etwas machte, kommentierte er es mit lauten Schreien und gutturalen Lauten. Verließ er die Fontäne: schreien. Kam seine Schwester oder ein anderes Kind in seine Nähe: schreien. Innerhalb weniger Minuten hatte er das Kinderbecken leer geschrien. Auffällig war, dass er dabei immer in Richtung des großen Beckens schaute und schrie. Plötzlich wurde er still. Nein, sein Kopf war nicht unter Wasser geraten. Eine Frau, die nur auf ihr Smartphone stierte, näherte sich. Von nun an sprach er in ganzen Sätzen. Machte sie auch nur Anstalten, wieder weg zu gehen, schrie er. Er schrie sich schier seine Mutter herbei. Sie musste nur anwesend sein und dabei noch nicht einmal mit ihm sprechen oder ihn gar anschauen. Er erzählte ihr alles, was er gerade tat. Unabhängig davon, dass sie ihm nicht antwortete, sondern sich nur mit ihrem Smartphone beschäftigte. Mir tat der Junge leid. Als die Mutter wieder zu ihrem Liegeplatz ging, schrie er auf Kommando los und die inzwischen wieder eingetroffenen anderen Kinder verließen erneut das kleine Becken. Irgendwann nahm seine Schwester ihn an die Hand und sie gingen.
Es wurde so still.
Das Kinderbecken füllte sich erneut. Ich  begann einige Runden im großen Becken zu drehen bis mir ein großer, übergewichtiger Mann beim seitlichen einspringen ins Becken fast auf den Kopf sprang.
Ein Zeichen das Freibad für heute zu verlassen.

Kolumne: Warum bin ich so wütend?

Nachdem ich ein halbes Jahrhundert alt wurde, erhielt ich eine Einladung zum „Mammographie Screening Programm“ in einem Zentrum in meiner Nähe. Mit der Einladung kam die Erinnerung an eine Situation vor einigen Jahren hoch. Meine behandelnde Ärztin fand es nach einer Untersuchung wichtig, dass ich mich einer Mammographie unterziehen sollte. Damals rief ich in dem Zentrum an, für das ich nun eine Einladung erhalten hatte. Eiskalt wurde ich am Telefon abgebügelt: Termine würden frühestens wieder in einem Jahr vergeben. Ausnahmen würden nicht gemacht werden. Lange telefonierte ich verschiedene Stellen ab, bis ich eine Untersuchung machen konnte.
Mit der Einladung kam die damals gefühlte Hilflosigkeit wie auf Abruf hoch. Den in der Einladung vorgeschlagenen Termin konnte ich online ändern. Dabei konnte ich in der Terminübersicht sehen, dass es noch sehr, sehr viele freie Termine im 15 Minuten Rhythmus in den nächsten Wochen geben würde. Der Tag der Untersuchung stand an. Ich betrat das Gebäude. Im Erdgeschoss ließen sich in den Praxisräumen hinter Milchglas viele Gemälde erahnen. Anderes Mobiliar, oder Angestellte, waren nicht zu erkennen. Die Fläche war nicht klein. An einem Fenster hing ein Hinweisschild. „Anmeldung in der dritten Etage.“ Dort betrat ich eine sehr große Praxis. Auch hier fielen mir die großen, teilweise leeren, Räumlichkeiten auf. Komfortable Ledersessel befanden sich nicht nur im Wartezimmer, welches ebenfalls über sehr viel Platz verfügte. Die Räume waren hell und der Boden mit einem Belag belegt, der Holzoptik vortäuschte. Während ich das Patientenformular ausfüllte, herrschte ein Kommen und Gehen an Patientinnen. Die zwei Seiten waren schnell ausgefüllt. Ich ahnte es. Dieses Mammographie Screening Programm ist für den, der ein solches Zentrum betreibt eine wahre Gelddruckmaschine. Die Durchschleusungsrate an Patientinnen ist hoch. So verwunderte mich die große Schale, gefüllt mit Hachez Schokoladentäfelchen, die auf dem Tisch im Wartezimmer platziert ist, nicht. Aus dem kindischen Bedürfnis heraus den Gewinn meiner Untersuchung zu minimieren, nahm ich zwei Täfelchen Schokolade. Zu dem Kugelschreiber, der sich noch in meiner Hand befand. Meine Untersuchung ging schnell vonstatten und ich verließ nach knapp 15 Minuten die Praxis mit dem folgenden Vorsatz: „Wenn ich einmal im Lotto gewinne, kaufe ich mir drei Ärzte, einen Professor und eröffne auch solch ein Screening Zentrum.“ Mit dem Gewinn kann ich dann Unmengen an günstigen Wohnungen für Alleinerziehende bauen und vermieten.
Boh,war ich wütend.
Doch warum war ich so wütend? So schön die Praxisräumlichkeiten auch eingerichtet waren, so erinnerten sie mich trotzdem irgendwie an eine Produktionshalle, in der Arzthelferinnen die Patienten wie am Fließband versorgten, Ein Arzt oder Ärztin war nirgends zu sehen. Mochten die Gästehandtücher auf dem DamenWC oder die kleinen Schokoladentäfelchen den oberflächlichen Eindruck von Luxus erwecken, so konnten sie nicht darüber weg täuschen, dass es hier nur um Massenabfertigung ging. Abfertigung von Patientinnen, die über das Screening Programm direkt dorthin geschleust wurden.
Bevor ich den Termin wahrnahm rief ich unter einem anderen Namen an und bat um einen Termin für eine Mammographie, da meine Ärztin mich überwiesen hätte. Auch dieses Mal erhielt ich die Aussage, dass die Wartezeit auf einen Termin mindestens ein Jahr beträgt. Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, ob die vor einigen Jahren gemachte Erfahrung nun eine andere sein würde. Sie war es nicht.
Diese Aussage im Hinterkopf, den Terminkalender mit den vielen freien Terminen im Gedächtnis, die Massenabfertigung live erlebt, führte zu dieser Wut, die vermutlich eher eine Art von Hilflosigkeit war. Wie viele Frauen mögen dieses Zentrum angerufen haben und mit der Aussage, dass Termine frühestens in einem Jahr frei werden, abgewimmelt worden sein? Wie viele Frauen sitzen mit einer Überweisung und einem Befund hilflos am Telefon, weil sie eine Mammographieuntersuchung benötigen und keinen Termin bekommen? Wie viele Frauen machen sich Gedanken, haben Ängste und bei wie vielen kann eine frühere Untersuchung schlimmeres verhindern?
Ich weiß es nicht. Doch zu wissen: Dort ist ein Zentrum und verfügt über freie Termine die sie an Frauen, die gerade nicht am Screening Programm teilnehmen, nicht vergeben – das macht mich verdammt wütend!

Foto: Sabine Ganowiak

 

Utopia

Mein Utopia ist in mir. Es ist mein inneres Utopia. Ich spüre es bei einer geführten schamanischen Reise. Nur dort erlebe ich es. Es ist kein Ort in der Fremde oder eine Gesellschaftsform, sondern eine Reise in die Anderswelt.
Wie beginne ich die Reise in die Anderswelt?
Während der Schamane, oder die Schamanin trommelt, beginne ich meine schamanische Reise. Ich spüre den Zugang zu dem wunderbaren Wasserfall und betrete die Anderswelt, indem ich unter ihm entlang gehe und das Wasser auf mich regnen lasse. Manchmal erscheint dahinter eine grüne Wiese auf der ich gefühlte Stunden barfuß spazieren gehe. Wenn ich den Wasserfall durchschritten habe, treffe ich meist bereits dort auf mein Krafttier, meinen Seelengefährten. Es begleitet mich auf den Reisen in diese Welt, beschützt mich, führt mich und gibt Heilungsimpulse. Nie habe ich es gesucht. Es war einfach da.
Bei meinen ersten schamanischen Reisen war mein Krafttier ein Frosch. In seiner ganzen Körpergröße ging er mir bis zum Knie. Meist gingen wir nur spazieren, während er mich anlächelte. Oder ich setzte ihn auf meine Schultern und hüpfte mit ihm durch die Gegend und strich seine Beine, die herunter hingen. Aus diesen Begegnungen ging ich sehr gestärkt, aber auch mit einem großen Gefühl an Geborgenheit hervor. Dies hält lange über die jeweilige schamanische Reise hinaus an.
Später wurde er von einem Bären abgelöst. Einem großen, braunen Bären, der mir meist auf seinen Hinterpfoten entgegentrat und mich mit seiner Größe überragte. Er trug eine verkehrtherum getragene, rote, Baseballmütze auf seinem Kopf. Bei unserer ersten Begegnung fand ich diese Mütze merkwürdig, doch scheint sie irgendwie zu ihm zu gehören. Er stellte sich als „Shaggy“ vor. Bei diesem Namen blieb es.
Selten stellte ich ihm Fragen, meist bekam ich ungefragt Antworten oder Umarmungen.
Nach einer solchen Reise mit „Shaggy“ fühle ich mich ebenfalls gestärkt, entspannter, nachdenklicher und meine Seele wurde intensiv berührt. Ja, hier wird meine Seele berührt.
Auf einer meiner ersten schamanischen Reisen, die ich während einer Phase körperlicher und psychischer Erschöpfung machte, bekam ich den Impuls endlich eine berufliche Entscheidung zu treffen. Nachdem ich den Wasserfall passierte, holte mein Bär mich ab und wir gingen schweigend gemeinsam im Wald spazieren.
Immer wieder schaute er mich an und umarmte mich zwischendurch lange. Schlussendlich nahm er mich an die Hand und führte mich aus dem Wald heraus.
Wir schauten auf einen großen Firmenpark mit vielen großen und wenigen kleinen Bürotürmen. Ich schluckte, die Luft zum Atmen wurde mir für einen kurzen Moment knapp und dann weinte ich. Weinte und ließ endlich los.
Auch den Rückweg verbrachten wir schweigend. Als ich nach dieser schamanischen Reise aufwachte, fühlte ich mich nicht mehr so erschöpft. Spürte mich endlich wieder und von beruflichen Ängsten befreit. Ich traf nicht sofort eine Entscheidung. Doch die Saat wurde erfolgreich gelegt und ging zum richtigen Zeitpunkt auf.
Nach dieser kleinen Einführung möchte ich nun über meine letzte schamanische Reise erzählen. Sie war eine besondere Reise, die ich nie vergessen werde.
Es war ein Tag im Herbst, als wir uns im Wald trafen, um gemeinsam in einer Gruppe zu reisen. Ich mochte diesen Treffpunkt, der in der Nähe eines kleinen Baches lag. Zuvor ging ich zu dem Bach um innezuhalten, meine Füße einzutauchen und ein Dankesritual abzuhalten. Von dort lief ich zu der Gruppe, die damals aus 5 Personen bestand. Nach der Begrüßung breiteten  wir unsere mitgebrachten Decken aus auf die wir uns legten. Die Schamanin nahm ihre selbst hergestellte Trommel in die Hand und begann langsam und leise zu trommeln. Bereits mit den ersten Tönen entspannte ich mich und ließ los. Die erreichte Frequenz bewirkt bei manchen Schläfrigkeit. Mir helfen die tiefen und lauten Töne in Trance zu gelangen und meine geistige Reise zu beginnen. Als sich das Tempo steigerte, erreichte ich bereits meinen Eingang zur Anderswelt. Den Eingang zur unteren Welt. Meine Reise begann. Ich sah den rauschenden und hohen Wasserfall, der aus einer langen Bergwand floss. Unten sammelte er sich in einem kleinen, fußtiefen Teich. Neben dem Teich blühten viele Blumen, ähnlich denen, die man in Bauerngärten findet. Schaute ich nach oben, sah ich einen strahlendblauen Himmel, in dem viele Falken ihre Runden drehten. Ich durchschritt den Teich und stellte mich unter den Wasserfall. Blieb zuerst auf der Stelle stehen, um mich dann mit ausgebreiteten Armen lange um die eigene Achse zu drehen. Ich genoss den Wasserstrahl von oben, den Duft der Blumen neben mir und wollte den Wasserfall am liebsten nicht mehr verlassen. Einige Momente später durchschritt ich ihn und kam in einen Wald. Es war ein heller Wald mit vielen Bäumen, die sehr hoch und breit vom Umfang waren. Trotzdem ließen ihre Kronen viel Licht durch. Ich lehnte mich an einen der Bäume und wartete auf mein Krafttier, den Bären. Oft verbrachten wir unsere Begegnungen indem er mich gefühlte Stunden in den Armen hielt und mir über den Kopf strich, während ich ihn kraulte. Dabei schwiegen wir meist, es sei denn er stellte mir Fragen. Die Antworten auf diese fand ich selten sofort. Oft stellten sie sich erst Tage oder Wochen später ein. Er beschäftigte mich über die schamanischen Reisen hinaus und gab mir wertvolle Impulse. An diesem Tag war er lange nicht zu sehen. Ich blieb alleine im Wald, ging spazieren und berührte viele Bäume. Bei manchen verweilte ich länger, bei einigen weniger lange. Nach einiger Zeit kam Shaggy um die Ecke, stellte sich erst zu seiner vollen Höhe auf und umarmte mich lange. Dann drückte er mich, um folgend zu sagen: „Ich kann nicht bleiben, ich muss zu Anna.“ Er ließ mich los, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Die Trommel schlug schneller und holte mich aus der Anderswelt zurück. Ich setzte mich auf und dachte an Anna. Eine Freundin, die damals schwer erkrankt war. Den Zeitpunkt und Dauer dieser schamanischen Reise musste ich mir nicht notieren. Er blieb in meinem Kopf. Wir besprachen die Erfahrungen, die wir während dieser Reise gemacht hatten, doch verließ ich die Gruppe früher. Unruhe hatte mich gepackt. Vergeblich versuchte ich den Ehemann von Anna telefonisch zu erreichen. Im Krankenhaus vor Ort erhielt ich keine weitere Auskünfte, außer: „Wir haben die Angehörigen verständigt, es dürfen nur noch ihre Angehörigen zu ihr.“ Ich wusste, ihr Ehemann würde mich jetzt nicht zu ihr lassen.
Anna hatte zum zweiten Mal Leukämie bekommen. Beim ersten Mal wurde sie erfolgreich mit einer Chemotherapie behandelt. Doch wenige Jahre später kam die Leukämie zurück. Dieses Mal bekam sie Stammzellen transplantiert. Die Behandlung als Vorbereitung zur Transplantation zuvor war nicht ungefährlich und die Zerstörung des Immunsystems stellte ein immenses Risiko dar. Die Stammzellentransplantation lag nun eine Woche zurück. Einmal konnte ich sie besuchen und in einem kurzen wachen Moment mit ihr sprechen. Sie war ein kleines Häufchen Mensch, welches durch Schläuche an eine ganze Wand voller Geräte angeschlossen war. Es summte, piepte, rauschte in fast jeder Sekunde aus einem von ihnen. Ihr Mann blockte Besuch von Freunden zu dem Zeitpunkt meist ab und gab auch mir nur widerwillig Auskünfte über ihren Zustand. Drei Tage nach der Information „Es dürfen nur noch Angehörige zu ihr“ durfte ich sie kurz besuchen. Sie war intubiert, aber sie lebte. Von nun an ging es ihr langsam besser. Im Laufe der Wochen und Monate wurde sie nicht mehr intubiert und die Geräte an der Wand, die sie versorgten, wurden stets weniger. Sie kämpfte weiterhin mit den Nebenwirkungen der zuvor erhaltenen Chemotherapie und der jetzt eingesetzten Medikamente. Manchmal saß ich stundenlang an ihrem Bett und strickte, während sie schlief. Zu dem Zeitpunkt befürchtete sie, dass sie nicht mehr aufwachen würde, wenn sie tagsüber schlief und niemand neben ihr sitzen würde. Irgendwann erzählte sie mir, dass es eine Abstoßungsreaktion der Stammzellen gegeben hätte und sie daran fast gestorben wäre. In der letzten Sekunde konnten die Ärzte es in den Griff bekommen. Bei einem meiner späteren Besuche, als es ihr deutlich besser ging, plauderte sie ganz locker darüber, welch tolles Schmerzmittel Morphium wäre. Allerdings würde es ihr merkwürdige Träume bescheren. Kichernd erzählte sie mir von dem folgenden:
„Hi hi, einmal träumte ich sogar von einem großen Bären mit einer roten Baseballmütze, der mich ganz lange in den Arm nahm und dann mit mir Ewigkeiten tanzte. Ein tanzender Bär. Ich kann doch gar nicht tanzen. Aber es tat so gut, dass er mich in den Arm genommen hat.“
Ich schluckte und fragte mit leiser Stimme: „ Weißt Du noch, wann das gewesen ist?“
„Der Tag an dem ich fast gestorben wäre.“
Im Laufe unseres Gespräches tastete ich mich vorsichtig an die Details heran. An dem Tag meiner letzten schamanischen Reise verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand mittags dramatisch.
Während ich im Wald auf meiner Decke lag, der Trommel lauschte, kämpfte sie um ihr Leben.
Während ich mich in der Anderswelt aufhielt ging Shaggy, unser Krafttier, zu ihr.
Was an diesem Nachmittag im Oktober geschah: Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Shaggy war bei ihr.

 

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