„Read what I see:“ Sonntagmorgen

10 Uhr früh an einem Sonntagmorgen. Die Sonne scheint und die ersten Menschenmassen stürmen das Café, um sich mit Brot und Brötchen zu versorgen. Lag es an einer falschen Planung oder an einem kleinen Menschenansturm zuvor? Die ersten Backwaren sind ausverkauft. Normale Brötchen sind im Angebot nicht mehr vertreten. Das schwäbische Nationalgericht, die Brezel, ist ebenfalls ausverkauft. Leise, leise Aufschreie sind zu hören. Nicht jeder Kunde hat Verständnis. Die Frustrationsgrenze ist, je nach Ausschlafmodus, verschieden ausgeprägt. Manche laufen nur ein paar Meter weiter, um sich zu versorgen, während andere mit hängenden Schultern zu ihrem Auto gehen. Werden sie auf dem Balkon, im Garten oder in einer überhitzten Wohnung ihr Frühstück zu sich nehmen? Oder ihre Nacht verlängern und gemütlich im Bett frühstücken?
Im Café herrscht hingegen eine entspannte Atmosphäre. Kaffeeduft zieht durch die Räumlichkeiten. Die Terrasse ist gut besucht. Entspannt sitzen einige vor ihren Croissants, die in den Kaffee gestippt werden oder mit Marmelade belegt in Zeitlupe zum Mund geführt werden. Andere trinken einen frisch gepressten Orangensaft oder stoßen sich mit einem Piccolo zu. Die Kinder betteln um eine weitere Portion Nutella und lassen sich diese von der Kellnerin bringen. Nach einer kurzen Nacht genieße auch ich einen Kaffee mit viel Milch. Mein Croissant kann sich noch nicht entscheiden, ob es von mir in den Kaffee gestippt werden möchte oder einfach pur den Weg in meinen Magen finden möchte.
Ich spüre eine Veränderung in der Atmosphäre noch bevor ich es sehe. Schlauchlippe (siehe http://schreiben-von-innen.de/read-what-i-see-sollen-wir-heute-den-hund-grillen/) betritt mit ihrer Mutter, Ehemann und einem Chihuahua das Café. Alle drei umweht ein starker Duft nach Schweiß, feuchtem Keller und nassen Hund. Ein wenig bin ich verärgert. Sonntagmorgens möchte ich entspannen und nicht von unangenehmen Düften umweht werden. Den Hund stramm an der Leine hinter sich herziehend, entern sie die Terrasse. Tische werden für die drei Personen zusammengeschoben und der Hund unter einem Tisch platziert. Schlauchlippe hat ihre Beine in eine pinkfarbene ¾ Hose gezwängt, der Oberkörper ist mit einem bunten Top bekleidet. Sämtliche Muttermale, Falten, lockeres Gewebe und Achselhaare werden unvorteilhaft zur Schau gestellt. Die Füße sind in Trekkingsandalen gequetscht worden. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie und Anhang noch einen Spaziergang oder eine Runde im Wald drehen würden, wo die Trekkingsandalen einen sinnvollen Einsatz finden könnten. Alle drei beginnen zu frühstücken. Überrascht nehme ich die besondere Möglichkeit wahr ein belegtes Brötchen zu verzehren. Die Mutter nimmt ihr Brötchen in die Hand, beugt ihren Mund zu diesem und zieht mit ihren Zähnen die Wurstscheibe in den Mund. Es liest sich nicht nur so befremdlich, es sieht auch befremdlich aus. Die Wurstscheibe wurde vernichtet und mit drei großen Bissen geht das Brötchen den selbigen Weg. Ab in den Bauch, und zwar schnel,l lautet vermutlich die Devise? Sie führt die Kaffeetasse zu ihrem Mund und verzieht das Gesicht. Heißer Kaffee lässt sich nicht so schnell trinken. Das drei Schlucke Prinzip funktioniert hier nicht. Schlauchlippe vernichtet ihr Frühstück ebenfalls in einem atemberaubenden Tempo. Ob sie ausgehungert ist oder ihre Finger schlichtweg die Sehnsucht verspüren wieder auf ihr Smartphone zu hacken, kann ich nicht beurteilen. So voll ihr Mund auch sein mag, es hindert sie nicht abfällig über andere Gäste und nicht anwesende Menschen zu sprechen. Ihre Mutter pflichtet ihr stets bei, der Ehemann schweigt. Der kleine Hund schaut mit treuen Blick von seinem Platz unter dem Tisch zu ihnen hinauf. Ob er auf einen Krumen hofft oder ihre Unterhaltung auf ein anderes Thema lenken möchte, kann man nur erahnen. Mir stellt sich die Frage, ob sich die Tiere ihre Herren/Herrinnen aussuchen oder umgekehrt? Was mag der kleine Kläffer nur verbrochen haben, um bei diesem Dreigestirn zu landen?

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Kolumne: Menschen im Hotel – im Frühstücksrestaurant

Es geht doch nichts darüber das Frühstücksrestaurant im Hotel mit nüchternem Magen zu betreten. Nachdem man der Dame am Stehpult die Zimmernummer genannt hat, die geflissentlich abgeglichen wird, strömt einem bereits die übliche Duftwolke aus Damen- und Herren Eau de Toilette entgegen. Dazu eine Prise Haarspray, das Aroma der zuvor verwendeten Duschgele, die Mischung verschiedener Eierspeisen und über all´ dem der Duft von frischem Kaffee. Wie kann ich da noch von Duft schreiben? Es mieft und es trifft meine Magengrube als hätte mir jemand einen leichten Schlag verpasst. Kaum sitze ich bequem und nippe an meinem Kaffee, ist dieses Duftdurcheinander vergessen. Ich nehme es nicht mehr war, sondern sitze mitten drin. Meine im Gehirn für die Registrierung von Gerüchen zuständigen Synapsen machen gerade eine Pause. Während ich den Kaffee trinke, wundere ich mich über die Menschenschlange am Frühstücksbuffet. Ich muss mich korrigieren, weniger über die Schlange, sondern über das was den Weg auf die Teller findet. Ob es Eierspeisen, Backwaren oder Käse ist – Hauptsache die Portionen sind groß. Der Weg zur Müslibar oder der weitläufigen Ecke mit Obst wurde dabei noch nicht einmal abgegangen. Was treibt die Gäste sich so über die Auswahl zu stürzen? Hunger. Oder der Gedanke nicht zu wissen, wann es die nächste Mahlzeit gibt. Oder lockt die sehr appetitlich angerichtete Auswahl. Oder liegt es daran, dass das Frühstück Teil der Übernachtungsgebühr ist und das bestmögliche herausgeholt werden muss. Man hat ja schließlich dafür bezahlt. Vielleicht trifft ein Punkt zu, vielleicht mehrere.
Mir Gegenüber sitzt ein Mann, dessen Tischmanieren so ungewöhnlich sind, dass ich immer hinschauen muss. Zwar versuche ich mich hinter der Tageszeitung zu verstecken, es gelingt mir leider nicht. In kurzen Hosen und mit einem T-Shirt bekleidet sitzt er breitbeinig auf dem Stuhl. Er unterhält sich mit einem weiteren Gast. Die Sprache verstehe ich kaum, wenige Worte erinnern mich an meinen Russischunterricht. Vor ihm liegt ein großer Teller, auf dem sich ein Stapel mit Käse und ein Stapel mit Schinken befindet. Mit aufgestützten Ellenbogen knallt er die Gabel in die „Berge“ und schaufelt sie sich in den Mund. Bisher war mir nicht bekannt, wie schwer eine Gabel beladen werden kann. Der Mund ist noch fast gefüllt, da wird die nächste Fuhre eingeführt. Fasziniert beobachte ich, wie schnell diese Mengen in den schlanken Körper rutschen. Dieses Spiel findet seine Fortsetzung über einige Tellerladungen. Ich habe keine Idee, warum er nur diese einseitige Nahrung in diesen Mengen zu sich nimmt. Vielleicht unterzieht er sich einer Cortisonbehandlung und leidet unter Nahrungsmittelallergien?
Endlich bediene ich mich ebenfalls am Buffet und lege am Tisch die Zeitung beiseite. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann mit strahlendblauen Augen und Drei-Tage-Bart. Der Anzug passt zu seiner Augenfarbe und ich stufe ihn als attraktivsten Mann im Raum ein. Er nippt an seinem Kaffee, verzieht den Mund und wendet sich wieder seinem Laptop zu. Mit einer Affengeschwindigkeit schlägt er auf die Tastatur, stöhnt zwischendurch, tippt weiter, schaut kurz in den Raum, um dann erneut zu tippen. Wer mag er sein? Ein Vertriebler, der zum Quartalsende noch Umsatz vorweisen muss? Ein Fundraisingmanager, der sich mit unwilligen Sponsoren herumschlägt? Ein sich in Scheidung befindlicher Ehemann, der sich mit seinem Rechtsanwalt austauscht? Oder mit seiner Noch-Ehefrau? Zumindest ist er jemand, der früh am Morgen noch nicht seine Ruhe gefunden hat oder sie bereits verloren hat. Wer in diesem Raum konnte den Tag ruhig starten? Wer steckt bereits in seiner täglichen Tretmühle? Wo würden sie sein, wenn sie sich nicht in diesem Hotel aufhalten würden? Wir sehen jemanden und denken, was könnte er machen? Wer könnte er sein? Was macht er in seinen eigenen vier Wänden?
Darüber wird am nächsten Freitag nachgedacht.

„Read what I see“: Im Dorfwohnzimmer

Beim Walken hörte aus dem Gespräch zwischen zwei Frauen heraus den Satz: „Treffen wir uns nachher im Dorfwohnzimmer?“ Im Dorfwohnzimmer? Als Dorftreffpunkte waren mir Begrifflichkeiten wie der Dorfbrunnen geläufig, oder der Fußballplatz, doch was mochte ein solches Wohnzimmer sein? Ich war überrascht. Der Ort ist beileibe kein Dorf, die Einwohnerzahl überschreitet deutlich den fünfstelligen Bereich. Welcher Treffpunkt kann hier als Dorfwohnzimmer genutzt werden? Zu dem Zeitpunkt konnte ich es mir nicht vorstellen.
Einige Tage später sah ich die beiden Frauen wieder. Sie saßen auf der Terrasse der örtlichen Eisdiele. Die Eisdiele betrachteten sie also als ihr Dorfwohnzimmer. Die letzten Monate ging ich oft an dieser vorbei. Der Anblick der Rattanstühle auf der Terrasse, die abgesplittert und teilweise schief waren, luden mich nicht zu einem Besuch ein. Die große, hohe Dekoeiswaffeltüte vor der Eingangstür hatte ebenfalls bessere Zeiten gesehen. Die Farbe war verblasst und das Loch in der Mitte verführte einige Kinder ihren Müll dort hinein zu entsorgen.
Durch den Begriff Dorfwohnzimmer neugierig geworden, nahm ich auf der Terrasse Platz. Sicherheitshalber auf einen Stuhl, dessen Rattanstäbe mich nicht in den Rücken bohren konnten und dessen Standhaftigkeit stabil wirkte. Ein Mitarbeiter brachte die Karte. Ohne einen Blick in diese geworfen zu haben, bestellte ich mir einen Latte Macchiato und ein Glas Leitungswasser dazu. Ich erntete einen ungläubigen Blick und spürte das Gedankenkarussell rattern: „Leitungswasser, dafür kann ich ja nichts berechnen.“ Ich fühlte mich unwohl. Er ging in die Eisdiele, gab vermutlich die Bestellung auf. Anschließend sah ich ihn in die Wohnung gegenüber laufen, aus der er gefüllte Eiswannen trug. Das kam mir merkwürdig vor. Speiseeis in einer privaten Wohnung herzustellen oder zu lagern empfand ich nicht als sehr hygienisch. Ein Mann in einer kurzen Hose und mit Achselshirt bekleidet, brachte mir den Latte Macchiatto und das kleine Glas Leitungswasser. Innerlich musste ich grinsen: Das verwendete achteckige Tablett war tief zerkratzt und erinnerte mich in der Aufmachung an jene, die in den 80er Jahren verwendet wurden. Ungefragt erzählte der Mann, dass er der Cousin vom Chef ist und ihm aushelfen würde. Chef würde gerade das Eis von Gegenüber holen.
Aha.
Als ich die Eiskarte aufschlug, schmunzelte ich weniger. Inhaltlich war sie übersichtlich gestaltet. Die angebotenen Eisbecher waren der Beschreibung nach wirklich nichts Besonderes. Eisspezialitäten wurden aufgeführt, die seit 30 Jahren Standard sind. Die gedruckten Preise waren allerdings happig. Orientiert an denen, wie sie in Großstädten zu finden sind. Eher nicht in einer Kleinstadteisdiele. So verhielt es sich ebenfalls mit meiner Latte Macchiato. Die knappen 150ml, die in der Aufmachung eher einem Milchkaffee entsprachen, ähnelten preislich einer großen Latte in Stuttgart oder Berlin.
Merkwürdig oder strotzte hier jemand vor Selbstbewusstsein?
Mutig bestellte ich mir beim Cousin einen Amarenaeisbecher. Eins, zweimal im Jahr gelüstet es mich nach diesen süßen Amarenakirschen. Während ich die Bestellung aufgab, versuchte ich nicht auf die vollbewachsenen Achseln zu schauen, die sich bei jeder Bewegung bemerkbar machten und in Konkurrenz zu dem inzwischen feuchtem Achselshirt standen. Fast zwanghaft musste ich hinschauen. Ich drehte mich um. Die zwei Frauen plauderten. Vor sich eine Tasse Kaffee und in der rechten Hand hielten sie jeweils eine Zigarette. Aus irgendeinem Grund musste ich lachen. Hier würde es passen, wenn der Besitzer, bei einer Bestellung über eine Tasse Kaffee, den Gästen antworten würde: „Draußen gibt es nur Kännchen.“
An einem anderen Tisch saß ein Pärchen mit zwei Kindern. Die Kinder schleckten an einer Eistüte, die Erwachsenen tranken etwas. Eines der Kinder biss unten ein Stück der Waffeltüte ab und ich wartete auf den Moment, in dem dicke Eistropfen auf sein Shirt tropfen würden. Zwei, drei Männer saßen vereinzelt an den Tischen. Ein Bier und einer Zigarette vor sich und unterhielten sich mit dem Cousin.
Mein Amarenabecher wurde serviert. Öh, wo waren die Amarenakirschen? Auf Nachfrage wurde mir erklärt, dass hier der Eisbecher mit Amarenawackelpudding serviert wird, nicht mit eingelegten Amarenakirschen. Schön, dass ich es erfuhr, nachdem ich den Löffel bereits eingetunkt hatte. Auch dieses verwendete kleine Tablett war verkratzt und hatte deutlich bessere Zeiten gesehen. Die aufgelegte Papierserviette, auf der der Eisbesser stand, war hauchdünn. Ich bekam den Eindruck, dass mit wenig Einsatz bei hohen Preisen der größtmögliche Gewinn erzielt werden sollte. Dazu gehörte es anscheinend auch, dem Cousin keine gescheite Arbeitskleidung zu verordnen.
Meine kleine Latte hatte ich bereits ausgetrunken und den Eisbecher in Angriff genommen, Die zweieinhalb Kugeln Eis, mit ein wenig Sahne und dem bereits angesprochenen Wackelpudding versehen, ließ ich fast unberührt stehen. Das Eis schmeckte mehr als alt (ja, ich kann es beurteilen), die Sahne war fast dünnflüssig und den Wackelpudding beschreibe ich nicht weiter.
Mein Blick wanderte umher. Nun wunderte es mich nicht mehr, dass die meisten Gäste nur Getränke auf ihren Tischen stehen hatten. Vermutlich kannten sie diese Eisdiele und den Geschmack der Eissorten bereits?
Doch warum wurde sie als Dorfwohnzimmer bezeichnet?
Weil der Cousin, mit nun inzwischen verschwitztem Achselshirt und in kurzen Hosen gekleidet, in Birkenstocksandalen bediente und sich ungefragt zu den Gästen setzte? Kannte man etwa einen solchen Anblick von daheim?
Weil man eventuell Bekannte treffen würde?
Oder sich den Magen an dem alten Eis verderben konnte?
Keinen Koffeinschock aufgrund der kleinen Latte Macchiato Portionsgröße bekommen würde?
An dem Tag erhielt ich auf meine Vermutungen keine Antwort.

 

Foto:pixabay.com, stevenpb

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