Weihnachtsgeschichte 2024: Und der Mond schaut zu

Es war erst ein paar Stunden her, da saß Wilhelm noch auf seinem Lieblingsplatz: Auf der Theke neben der Kasse im Tante-Emma-Laden von Oma Gertrud. Neben dem Adventskranz, der inzwischen die meisten Nadeln verloren hatte. Dort hatte er noch der Frau Mayer, mit „ay“ ein Kompliment zu ihren frisch ondulierten Haaren gemacht. Ein Kompliment, welches sie nach jedem Friseurbesuch von ihm zu hören bekam. Ihn freute es, dass sie sich darüber freute. Ihn erfreute auch die darauffolgende Tüte mit Süßkram: „Gertrud, pack dem Jungen für 50 Pfennig Süßkram in die Tüte.“
Er mochte diese Routine.
Die Wangen mit Bonbons vollgestopft, verabschiedete er eine andere Kundin: „Tschüss, Frau Erkelenz.“
„Junge, das heißt „Auf Wiedersehen“. Tschüss sacht man nicht.“
„Oma, die Marta sagt aber immer tschüss.“
„Seit wann nennst Du Fräulein Busche Marta?“
„Oma, sie hat gesagt, ich bin jetzt groß genug, um sie Marta zu nennen. Und zum nächsten Tanzabend wird sie mich mitnehmen.“
„Junge, Du kannst doch nicht einmal tanzen. Und überhaupt, was willst Du denn anziehen?“
„Dein schönes Unterkleid oder Opas Anzug.“
Als sich Oma Berta kopfschüttelnd umdrehte, dabei murmelte: „Woher kennt der Junge mein Unterkleid?“, wechselte Wilhelm das Thema.
„Oma, soll ich noch eine Flasche Eierlikör für nachher mitnehmen?“
„Wenn eine reicht? Wenn nicht, musst Du nachher noch mal rüber laufen.“

Jetzt saß er im Lieblingssessel von Opa Albert. Die Kerzen am Weihnachtsbaum wackelten, da Oma Gertrud mit ihrem Albert zu ihrem Lieblingslied tanzte.
Sie hielt es wie die Holländer. Keine einzige Gardine hing in den Fenstern, so dass Nachbar Anton und der Mond ihre sicheren Tanzschritte sehen und vermutlich ihren Gesang hören konnten.
Trug sie hinter der Kasse in ihrem Tante-Emma-Laden immer einen geblümten Kittel, dazu ihre neuen bequemen Birkenstock Schuhe, die sie am liebsten nicht mehr ausziehen wollte, so hatte sie sich nun in Schale geschmissen. Die Pantoffeln gegen Spangenschuhe mit einer schicken Schleife vorne getauscht und ein wunderschönes, schwingendes rot gepunktetes Kleid angezogen. Es fehlte nur noch der kleine Hut, den sie sonst auf Beerdigungen trug, den Wilhelm allerliebst fand. Damit sah sie aus wie eine Prinzessin. Eine ältere Prinzessin.
Wie es mit der üblichen Schiesser Feinripp Unterhose aussah, konnte nur vermutet werden.
Noch war ihr Gesang nicht so schräg, dass der Mond sich hätte riesige Kopfhörer aufsetzen wollen.

Feierschichten, Rußlungen, rußgefärbte Häuser, der Smog oder die Forderung Willy Brandts, der den Himmel über dem Ruhrgebiet wieder blau haben wollte: All das war für den Moment vergessen, wenn Oma Gertrud in Opa Alberts Arm zum Mond von Wanne-Eickel tanzte und dem Plattenspieler schwindelig wurde, vom wieder und wieder aufsetzen der Nadel auf die Platte.

Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai (hmmm).
Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.

Diese Zeilen sang Oma Gertrud immer wieder mit. Hörte man genau zu, konnte man leises Fernweh erahnen? Wünschte sie sich manchmal weit weg von ihrem Tante-Emma-Laden, der ihr ein und alles war und dennoch einzwängte?

Wilhelm suchte die gute Flasche Eierlikör raus, nach diesem Sport würde Oma ein Likörchen brauchen. Oder auch zwei. Wenn es drei wurden, bot sie ihm meist das dritte Pinnchen zum Ausschlecken an.
Für Opa Albert holte er die Flasche Asbach aus dem Wohnzimmerschrank. Er kannte den Opa gut. Um in den Genuss einer Tanzpause, oder Hörpause, zu kommen, würde er nicht nein zu einem Gläschen sagen.

Inzwischen war es dunkel. Zeit Schnittchen für die gleich eintreffende Sippe zu machen. Doch ein Tanz musste noch sein.

Der Mond von, ja von wo, schaute zu. Sowie die Nachbarn.

Heiligabend 2024:
Getrud Becker
1905 – 1986
steht auf dem Grabstein

„Prost, Oma Gertrud.“

Wilhelm, der inzwischen auch Opa ist, stellt ein Glas Eierlikör auf ihrem Grabstein ab, während er seins auf Ex leert.

Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel,
die ganze Luft ist erfüllt von ew’gem Mai (hmmm).
Und jede Nacht am Kanal von Wanne-Eickel
ist voller Duft wie die Nächte von Hawaii.

Ich kenn’ die ganze Welt von Rio bis Port Said,
ich war zu Gast im Zelt beim Ölscheich von Kuwait.
Ich kenn’ die Cote d’Azur, die Rosen von Athen,
Mallorca, wo am Kai Germanen Schlange steh’n.

Und jeder staunt ganz ungemein,
doch ich sag’ nein, nein, nein, nein, nein – ich sage nein!

Nichts ist so schön….

Frau Adelgunde Schmidt, die schwärmte jedes Jahr,
wenn sie aus Spanien kam, wie schön der Mondschein war.
Denn sie hat nachts am Strand bei Vollmond noch entdeckt,
dass jeder Kuss direkt nach Tarragona schmeckt.

Und jeder staunt ganz ungemein,
doch ich sag’ nein, nein, nein, nein, nein – ich sage nein!

Nichts ist so schön….

„Read what I see“: Früh am Sonntag im Café

„Die Maschine iss kaputt. Deshalb können wir das nich machen. Deshalb hat die Maschine unten auch noch das Loch drinne.“
„Sie wollen mir damit sagen, dass Sie mir heute keinen frisch gepressten Orangensaft machen können?“
„Genau, die Maschine iss kaputt.“
„Von Hand pressen?“
„Des kenn ich nich.“
Ich muss den Blick nicht heben, um altbekannte Gesichter im Café hinter der Kuchentheke und als Gast im Café zu sehen. Menschen, die ich bereits hier beschrieb. http://schreiben-von-innen.de/read-what-i-see-sonntagmorgen/ 
„Des kenn ich nich“ kommt aus dem Mund der Mitarbeiterin, der ich weiterhin unterstelle ihre Arbeitskraft besser als Magd auf einem Bauernhof einzusetzen. Nur nicht im direkten Kundenkontakt. Bei uns im Dorf hätte man sie früher als Trampel bezeichnet.
„Weisse, ich mach´ das hier nur nebenbei,“ klärt sie den Auszubildenden auf. „Die Woche unter schaff´ ich auf dem Rathaus.“ Meine Fantasie reicht nicht aus, um sie mir als Mitarbeiterin einer Behörde vorzustellen. Oder doch? Hat sie Kundenkontakt und jeder zweite Satz, den sie ausspricht lautet: „Von den gelben Säcken gibbet aber nur einen.“

Peng, peng. Was ist das? Erschrocken fahre ich aus meinem gemütlichen Sessel hoch. Kein Pistolenschuss, sondern ein großer Besen, der von der besagten Mitarbeiterin durch die hintere Backstube geführt wird. Anscheinend sieht sie ihre Aufgabe darin jede Ecke und jede Kante mit dem Besenstiel zu schlagen? Zu erschlagen? Peng, peng geht es weiter. Nicht nur ihr Stimmorgan ist sehr laut, auch die Besenführung. Mit dem Besen fegt sie hinter der Kuchentheke weiter und ich befürchte schon, dass die ersten Scheiben in der Theke zerbersten. Peng, peng, peng.
Ich habe mich meinem Buch gewidmet und werde abgelenkt.
„Brötchen warm kann ich nich belegen,“ höre ich. „Nich, dass die Wurst schlecht wird.“
Ich schaue auf.
„Dann nehme ich halt eines mit Salami,“ kommt es aus Richtung eines jungen Mannes.
„Ach, das gehet ja. Salami wird auf der Pizza ja auch immer warm und man wird davon nicht krank.“
Der Kunde, ein vom Fußball spielen einkehrender junger Mann, schaut mich an, verdreht die Augen und kann sich ein Grinsen nur schwer verkneifen. Mir ergeht es ebenso.
Ich trinke meine zweite Latte, als mich ein lauter Schwall an Sätzen aus meinem Lesegenuss reißt.
„Wir hab´n nix mehr. Die wollten heute Morgen schon alle Brötchen.“
Wer sind alle? Ja, es ist Sinn einer Bäckerei Brötchen zu verkaufen, oder?
„Ich hab´ da schon angerufen. Ob wir noch was kriegen, weiß ich doch nich.
Komm´ se nachher mal wieder.“

Nicht nur ein Kunde verlässt kopfschüttelnd das Café mit angeschlossener Bäckerei. Als sie schreit: „Kaufen Sie statt 8 Weckle doch 8 Stück Kuchen, schmeckt doch auch,“ ist es für mich an der Zeit meine Ohren auf Durchzug zu stellen. Diese Frau ist die Umsatzbremse und Kundenverscheucherin schlechthin. Wurde sie eventuell von der Konkurrenz eingeschleust? Mein Detektivsinn ist erwacht. Parallel kreist im Kopf weiterhin der Gedanke als was sie im Rathaus tätig sein könnte.
Auf der Terrasse bekomme ich Gesprächsfetzen von Kunden mit, die sich am kleinen Brunnen vor dem Café gesammelt haben.
„Kuchen statt Weckle, auf welchen Schmarrn die kommt.“
„Hier kannst Du sonntags keinen Kaffee trinken gehen, wenn sie arbeitet. All´ die Interna, die sie laut raus brüllt, das will ich doch nicht hören. Eigentlich müsste man mal in der Zentrale anrufen und dort Bescheid geben. Sie würden uns sicher einen Brezelorden verleihen.“
„Ich gehe hier sonntags eigentlich nicht mehr hin. Die lebendige Betriebs-Läster-Zeitung auf zwei Beinen muss ich mir nicht geben. Man will doch nur einen Kaffee trinken gehen oder ein paar Weckle holen, aber nicht mit Ohropax ein Café betreten müssen.“
Ohne Weckle, ohne Kuchen ziehen alle von dannen.
Ich fühle mich mit meinen Empfindungen nicht alleine.

Maddalena Vaglio Tanet: In den Wald

Klappentext:
»Gleich mit dem ersten Satz hat uns Maddalena Vaglio Tanet gefangen – und dann entführt sie uns mit ihrer olivgrünen Sprache und erzählt mitreißend von der Tiefe der Ängste und der Weite des Herzens. Als seien Elena Ferrantes Heldinnen in das karge Norditalien gekommen, um sich zwischen zarten Sehnsüchten und herben Enttäuschungen am Ende doch selbst zu finden.« Florian Illies

Eines Morgens verschwindet die Lehrerin im Wald. Während das Klassenzimmer leer bleibt und ihre Verwandten Straßen und Bäche absuchen, scheint sie immer mehr mit der sie umgebenden Natur zu verschmelzen. Um sie herum streifen Keiler durch das Unterholz, über den Wipfeln der Birken erklingt der Gesang wilder Vögel. Immer tiefer versinkt sie in einer Decke von Moos und Erinnerungen – sie muss um alles in der Welt den tragischen Tod ihrer Lieblingsschülerin vergessen, der sie in den Wald trieb.
Hinter den geschlossenen Fensterläden und in den Straßen des piemontesischen Ortes Biella ist man unterdessen ratlos: Was ist mit Silvia geschehen? Und wer ist sie wirklich? Die gutmütige Lehrerin, für die sie alle halten, oder doch eine Außenseiterin, die etwas zu verbergen hat? Als ein Junge aus der Schule bei einem Streifzug durch den Wald auf die Lehrerin stößt, scheint die Suche ein Ende zu nehmen. Aber was macht man mit einer vermissten Frau, die nicht gefunden werden will?
In den Wald ist ein schillernder Roman über unausgesprochene Wahrheiten. Mit perfekt kalibrierter Spannung erzählt Maddalena Vaglio Tanet von dem Kampf einer Frau gegen ihre Geister – und von einem Wald, der Phantasmen heraufbeschwört und Wunden heilt.

Mit einem gewaltigen Cover aufwartend, welches einen Baum zeigt und mir sofort den Eindruck vermittelte in einem Wald zu sein, geht dieser starke erste Eindruck mit dem ersten Satz des Buches weiter: „Statt in die Schule ging die Lehrerin in den Wald.“
Mit diesem Satz wird der Leser direkt in die Handlung „geschleudert.“

Als die Lehrerin Silvia auf dem Weg zur Schule vom Suizid ihrer Schülerin erfährt, geht sie schnurstracks in den Wald und wendet sich vom Leben ab. Sie verschmilzt mit ihm, um mit dem Verlust und den Schuldgefühlen fertig zu werden. In der Hütte ergibt sie sich ihren Erinnerungen, dem aufwachsen bei der Großmutter und ihrem Cousin. Dabei reflektiert sie ihr Leben. Auch das in der Klosterschule und das aktuelle als Lehrerin, in dem sie sich einsam fühlt.

Währenddessen suchen ihre Familie und das Dorf erfolglos nach ihr.

Zufällig findet ihr Schüler Martino sie und versorgt sie mit Lebensmitteln und Wasser. Er ist im Dorf ein Außenseiter und seht sich nach seinen Freunden und dem Leben in der Großstadt zurück.
Maddalena Vaglio Tanet hat für mich über 304 Seiten ein kleines Meisterwerk geschaffen, wobei die Handlung etwas weniger Raum für mich einnimmt als die bildgewaltige Sprache. Die kurzen Kapitel, die sich auf mehreren Zeitebenen abspielen erzählen das Leben in einem kleinen Dorf in Italien der 70er Jahre. Wie geht das Dorf mit dem Verschwinden der Lehrerin um? Die nun doch als merkwürdig oder einsam bezeichnet wird. Wie wächst Martino über sich hinaus und ist hin und hergerissen zwischen Geheimnis über den Aufenthaltsort der Lehrerin zu bewahren oder es zu verraten, um sie zu retten?

Das Buch, in dem Scham und Schuld und der Umgang mit Schicksalsschlägen einen großen Platz einnehmen, ist sicherlich nicht nur ein Buch für die Herbstzeit.
Es macht nachdenklich. Gleichzeitig ist es ein wenig märchenhaft, wenn sich die Figuren Geschichten erzählen oder beschrieben wird, wie die Lehrerin mit ihrem Cousin früher in den Wald ging, um Pilze zu sammeln.
Ob der Leser für sich die Lehrerin oder Martino als Hauptfigur entdeckt, möge jedem selber überlassen sein.
Übrigens beruht die Geschichte auf einer wahren Begebenheit aus der Verwandtschaft der Autorin

Katja Oswald: Die vorletzte Frau

Klappentext:
Die Geschichte einer großen Liebe und ihrer Verwandlung
Sie lernt ihn kennen, als sie noch jung ist und er beinahe schon alt. Er, der berühmte Schriftsteller. Sie, die mit dem Schreiben gerade anfängt und Mutter einer kleinen Tochter ist. Sie wird seine Schülerin, seine Geliebte, seine Vertraute, und beide schwören, sich einander zuzumuten „mit allen Meisen und Absonderlichkeiten“. Eine Beziehung voller Lust und Hingabe und Heiterkeit.  
Dann aber, als die Tochter mitten in der Pubertät steckt, erhält er eine Diagnose, die alles ändert. Die Beziehung wird zum Ausnahmezustand und sie von der Geliebten zur Pflegerin. Sie will helfen, sie hilft, doch etwas schwindet, ihr Lebensmensch entfernt sich, die Zeit der Abschiede beginnt. Und noch etwas: ein neues Leben. 
Katja Oskamp erzählt zärtlich und rückhaltlos von den Verwandlungen, die das Dasein bereithält, von brüchigen Lebensläufen, von den Rollen einer Frau und den Körpern in ihrer ganzen Herrlichkeit und Hässlichkeit.  
Vor allem aber erzählt sie die Geschichte einer großen Liebe.

Gleich von der ersten Zeile fühlte ich mich in die Geschichte hineingezogen. Die autobiographische Erzählung kommt in kurzen Geschichten daher, die nicht immer chronologisch erzählt werden.
Die Ich-Erzählerin, eine 30-jährige Frau mit Tochter und Putzwahn, verheiratet mit einem älteren Mann, dem GMD (Generalmusikdirektor), lernt den 19 Jahre älteren Schriftsteller Tosch kennen, der mit einer Schauspielerin ohne Rollen verheiratet ist.
Beide trennen sich von ihren Partnern und werden für 19 Jahre ein Paar. In getrennten Wohnungen lebend, aber ihren Weg gemeinsam gehend.
Seine Bedürfnisse bestimmen die Beziehung. Sie nimmt an seinem Leben teil, er an ihrem weniger.
Um diesen Abschnitt des Lebens der Ich-Erzählerin geht es in „Die vorletzte Frau“.
Das Buch ist in fünf Abschnitte unterteilt, diese in kleine Kapitel, die sehr kurz sind und selten mehr als zwei Seiten umfassen. Dadurch wirken sie auf mich wie Tagebucheinträge.

Zu Beginn fiel es mir dadurch schwer einen Leserhythmus zu finden. Irgendwann gelang es, um ihn ab der Mitte des Buches komplett zu verlieren. Dadurch musste ich mich, trotz des an sich interessanten Inhalts zwingen das Buch bis zum Schluss zu lesen. Das empfand ich als sehr, sehr schade.
Ungefähr ab der Mitte des Buches wird über Toschs Erkrankung geschrieben. Detailliert und mit vielen intimen Informationen. Hätte weniger mehr sein können? Vermutlich ja.

Mit: „Geworfenheit. Erst regiert der Krebs, dann das Finanzamt,“ welches das Ende der Beziehung ankündigte geht es weiter.
Während die Tochter einen Auslandsaufenthalt absolviert, Tosch als Schriftsteller wieder aufersteht, macht die Ich-Erzählerin eine Ausbildung zur Fußpflegerin. Eine Autorin ohne Veröffentlichung muss schließlich von etwas leben.
Mit ihrem späteren Erfolg kommt er nicht zurecht.
Das Buch ist nicht nur die Geschichte über eine Liebe. Es geht auch um Alter, Krankheit, sich verändernde Körper, Sexualität, Mutter sein, Geliebte sein, Partnerin sein uvm. Das alles in einer knackigen Sprache. Kurz, ohne Schnörkel, mit Humor und häufig auf den Punkt gebracht.

Mich störten die sehr, sehr kurzen Kapitel. Ich mag es nicht, wenn ich mich, unabhängig vom Inhalt, durch ein Buch quälen muss.

Kuhl + Sandrock: Das Dickicht

Klappentext:
Ein smartes Ermittlerduo, auf das die Krimiwelt gewartet hat, und ein Twist, bei dem sich die Nackenhaare aufstellen …
Ein Must-have für alle, die richtig gute Spannung lieben.
Juha Korhonen und sein Kollege Lucas «Lux» Adisa vom LKA Hamburg werden zu einem Entführungsfall hinzugezogen. Schnell merkt Juha, dass der Fall frappierende Parallelen zu einem fast zwei Jahrzehnte zurückliegenden Verbrechen aufweist, einem seiner ersten Einsätze beim LKA, der ihn bis heute nicht loslässt. Damals wurde der vierzehnjährige Daniel Boysen in einer Kiste im Wald vergraben und konnte nur noch tot geborgen werden. Der Täter beging Suizid.
Bei den Ermittlungen entdeckt Lux Unstimmigkeiten in der Akte Boysen. Warum hat der damalige Kommissar nach Abschluss des Falles weiterermittelt, bevor er kurz darauf starb? Juha und Lux folgen seinen Hinweisen immer tiefer ins Dickicht der Vergangenheit. Hat man sich seinerzeit vorschnell mit der falschen Lösung zufriedengegeben? Stück für Stück offenbart sich eine Tragödie, in der Opfer zu Tätern wurden und umgekehrt – und die ihren Schatten bis in die Gegenwart wirft …
 

Juha Korhonen vom LKA ermittelt mit seinem Kollegen Lucas Adisa (Lux) in einem Entführungsfall, der auffällige Parallelen zu einem Cold Case aufweist.
Vor nicht ganz zwanzig Jahren, ganz zu Beginn seiner Tätigkeit beim LKA fand er mit seinem Vorgesetzten Werner Swoboda ein vierzehnjähriges Mordopfer. Daniel Boysen. Erstickt in einer vergrabenen Holzkiste im Wald.
Nach dem Suizid des angeblichen Täters galt der Fall als abgeschlossen.
Die aktuelle Entführung klärt sich schnell auf. Es stellt sich heraus, dass der damalige Kommissar Swoboda vor seinem Tod privat weiter in dem Fall Boysen ermittelte. Mit diesen Hinweisen eröffnen Korhonen und Lux den Cold Case. Weiterlesen

Tana French: Feuerjagd

 

Klappentext:
Zwei Männer kommen nach Ardnakelty. Einer kommt nach Hause. Einer kommt, um zu sterben. Und ein junges Mädchen steht zwischen allen Fronten.
Ein ungewöhnlich heißer Sommer hat Irland im Griff. Die Farmer sind nervös, die Ernten bedroht. Die 15-jährige Trey hat an das kleine Dorf schon ihren Bruder verloren. Etwas Sicherheit bietet der Außenseiterin nur der ehemalige Polizist Cal, der sie liebt wie eine Tochter. Da kommt nach Jahren der Abwesenheit unerwartet Treys Vater zurück. Mit offenen Armen empfängt ihn niemand, doch er bringt einen verheißungsvollen, gefährlichen Plan mit. Und einen Fremden. Cal versucht, Trey zu schützen, aber Trey will keinen Schutz. Sie will Rache.

»Herausragend. Welch ein Glück für uns Leser!« Stephen King
»Einzigartig stimmungsvoll … außergewöhnlich … wer immer noch glaubt, French müsse sich an die Regeln halten, hat ihre bemerkenswerten Romane nicht verdient.« Washington Post
»Tana Frenchs Dialoge gehören zu den besten der Branche. Sie zeigt das banale Böse hinter dem lächelnden Gesicht des Dorfes und erinnert uns daran, dass wir solche Orte auf eigene Gefahr unterschätzen.« New York Times
»Vielschichtig erzählt, eindringlich und atmosphärisch … Die Figuren werden so lebendig, dass ich mich noch lange nach der Lektüre frage, wie es ihnen geht – ein Beweis für die Meisterschaft der Autorin.« Guardian
»Vielleicht Tana Frenchs bester Roman bisher. Spannend und intelligent erkundet die Autorin Fragen von Loyalität, Instinkt und Gemeinschaft. Meisterhaft legt sie Geheimnisse frei, die wir aus Liebe oder Rache bewahren, und erforscht, wie weit wir gehen, um unsere Familie zu schützen, sei sie blutsverwandt oder gewählt.« CrimeReads
»Eine fesselnde Geschichte von Vergeltung, Aufopferung und Familie – von der Königin der irischen
Spannungsliteratur.« TIME

 Schwer beeindruckt fällt es mr schwer meine Begeisterung in Worte zu fassen.

Der Vorgänger, „Der Sucher“, war bereits ein grandioses Buch. Bewusst spreche ich von Buch und nicht Krimi, da es für mich kein klassischer Krimi war. Ein Roman, der mich in vielen Bereichen an einen Western erinnerte. Nie hätte ich damit gerechnet, dass Tana French einen zweiten Band, ebenfalls grandios, schreiben würde.
Während eines heißen Sommers kommt Treys Vater zurück ins Dorf. Er bringt einen reichen Engländer mit, der in dem Ort nach Gold suchen möchte.
Dies beschreibt oberflächlich die Handlung, die ein Buch von 528 Seiten füllt. Spannend füllt.
Die Spannung wird nicht durch Aneinanderreihung von blutigen Morden erzeugt.
Im Gegenteil. Die Beschreibung von Familie, Natur und Bewohnern und der Dynamik im Dorf ließen mich jede Seite schnell umblättern.

Der amerikanische Ex-Polizist Cal ist inzwischen im Dorf angekommen und liebt Trey wie eine eigene Tochter. Trey hat sich in den zwei Jahren entwickelt, vergisst und verzeiht dem Dorf die Schuld an dem Tod ihres Bruders Brendan nicht. Rache verzehrt sie.
Mir fiel es sehr schwer das atmosphärisch dichte Buch aus der Hand zu legen. Ich hätte stundenlang die facettenreiche Beschreibung der Dorfbewohner, der Natur weiterlesen können. Oder weitere Dialoge, die sehr gutgeschrieben sind, lesen mögen. Die Figuren sind dermaßen lebendig, dass es schwer fällt mit ihnen keine eigenen Dialoge mit ihnen zu führen.

 

„Read what I see“: Der Anblick von viel Frau aus der Sicht von Leo

Leo ist ein kleiner blonder Junge im Alter von 3 Jahren. Ein kleiner Charmebolzen, der mich immer an eine Astrid Lindgren Figur erinnert, die noch nicht geschrieben wurde.
Ohne seine Polizeimütze auf dem Kopf habe ich ihn kaum gesehen, kaum mit schlechter Laune erlebt. Wenn ihm etwas auf dem Herzen liegt, dann stellt er Fragen. Wenn ihm etwas nicht gefällt, dann sagt er es. Wenn er vor mir steht, ausführlich und sehr ausdrücklich erzählt, dass er Polizist werden möchte, dann glaube ich es ihm auf ’s Wort. Wobei ich die leichte Vermutung habe, dass vielleicht auch der Beruf des Feuerwehrmannes ins Spiel kommen könnte.
Leo hat mir gegenüber keinerlei Hemmungen mich Löcher in den Bauch zu fragen. Der folgende Auszug gibt einen Überblick darüber, wie groß diese Löcher sein können.
Als ich das erste Mal bei seiner Familie war, wurde ich erst einmal in Augenschein genommen. Dann sah ich, wie es in seinem Kopf arbeitete und schon stellte er mir, sehr charmant, seine Fragen. Vollkommen aus dem Zusammenhang heraus:
Leo: „Frau Sabine, wann kommt Dein Baby?“
Sabine dreht sich um, verkneift sich das Lachen:
„Leo, das ist kein Baby, das ist mein dicker Bauch.“
Leo: „Nicht schlimm, mein Papa hat auch einen dicken Bauch.“

Leo: „Frau Sabine, wo sind Deine Kinder?“
„Leo, ich habe keine Kinder.“
Leo: „Keine Kinder. Gibt es nicht.“

Leo: „Und wo ist Dein Mann? Im Auto?“
„Ich habe keinen Mann.“
Leo ist irritiert. „Frau Sabine, aber wenigstens Hühner hast Du?“
„Nein, Leo, ich habe keine Hühner. Ich habe keinen Garten dafür.“
Leo: „Frau Sabine, keine Hühner? Egal, Du darfst trotzdem wiederkommen.“
Drehte sich um, knallte seine Hacken wie ein Soldat vor seinem Oberst zusammen und wackelte mit der viel zu großen Mütze auf dem Kopf von dannen.
Und hinterließ eine sehr amüsierte Sabine.

Beim nächsten Besuch war Leo inzwischen 4 Jahre alt. Die Polizeimütze ist immer noch viel zu groß und ich erstaune ihn wegen meiner Körperfülle immer noch?
Leo erzählte ganz stolz von seinem schwarzen Huhn. Dieses Mal war ich ein wenig vorgewarnt und es hätte mich eher enttäuscht, wenn ich mein Fett nicht abbekommen hätte. Schneller als ich denken konnte, ging sein Gedankenkarussell wieder los.
Leo:“ Mein Huhn Valentina ist bald so dick wie Du Frau Sabine.“
„Leo, man sagt den Menschen aber nicht ins Gesicht, dass sie dick sind. Dann sind die traurig.“
Leo: „Aber Frau Sabine, ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der einen so großen Bauch und Popo hat wie Du.“
„Leo, das solltest Du mir so nicht sagen. Ich lache darüber, aber es gibt Menschen, die sind dann traurig, wenn man ihnen sagt, dass sie dick sind.“
Leo: „Aber Frau Sabine, Du bist doch dick!“
„Leo, ich habe eine Freundin, die hat noch einen dickeren Popo als ich. Die wäre ganz traurig, wenn Du ihr sagst, dass sie dick ist“
Leo: „Einen größeren Popo als Du Frau Sabine? DAS gibt es wirklich nicht. Aber Du hast nicht einen so großen Busen wie meine Oma. Der ist nämlich riesig.“
Damit schien das Thema vorerst erledigt.

Er hörte Musik, malte, und erklärt, dass er das Kinderzimmer neben dem Bad bekommen hat, da er nachts manchmal ganz schnell auf die Toilette muss. Mit dem nun kurzen Weg passiert ihm nicht so schnell ein Malheur.
„Leo, das kann doch mal passieren. Der Sohn von meinem Bruder hat im Kindergarten manchmal in die Hose gemacht. Dann haben ihn die anderen Kinder Hosenscheißer genannt.“
Leo: „Frau Sabine, das ist aber ganz, ganz gemein!“
„Ja Leo und wenn Du zu Menschen sagst, dass sie dick sind, ist das auch gemein.“
„Oh Frau Sabine, ja das ist richtig gemein.“ Und schüttelt seinen blonden Lausbubenkopf dazu…..
Dreht sich um und hat etwas gelernt?
Auf die Fortsetzung unseres nächsten Dialoges bin ich sehr gespannt.
Zum Abschied bekam ich ein selbst gemaltes Bild von ihm. Für ihn stelle ich irgendwie ein Phänomen dar. Er kennt Frauen mit dickem Bauch nur, wenn sie schwanger sind. Eine Frau ohne Mann ist für ihn ebenfalls unbekannt. Nun repräsentiere ich einige Bereiche, die ihm unbekannt sind: Dick, kein Mann und man beachte: Keine Hühner.
Um ehrlich zu sein: Seine offenen Fragestellungen ohne dabei Hemmungen zu haben, seine Verwunderungen anzusprechen, amüsieren mich. Mir machen sie Spaß. Nein, sie verletzen mich nicht und erinnern mich daran, wie meine Außenwirkung sein kann. Ja, viel Frau wird von den Menschen sicherlich verschieden wahrgenommen. Und von vielen Männern gemocht.

 

 

Foto:privat

John Ajvide Lindqvist: Refugium

Klappentext:
Der Auftakt der spektakulären neuen Spannungstrilogie aus Skandinavien.»Einfach großartig, wie John Ajvide Lindqvist mit seinem glitzernden Monstertruck in die Krimilandschaft donnert.« Aftonbladet
Ein explosives Ermittler-Duo. Sie: Expolizistin und Krimiautorin im Karrieretief. Er: ein Hacker mit gequälter Seele. Sie ziehen einander an. Sie stoßen einander ab, aber sie müssen einander vertrauen.
Ursprünglich sollte Kim Ribbing, der die Spuren eines tiefen Traumas in sich trägt, die ehemalige Polizistin Julia Malmros bei Recherchen unterstützen. Doch dann erschüttert ein Verbrechen das sommerliche Leben in den Schären.
Mittsommer. Der längste Tag. Die dunkelste Nacht.
Nicht weit von Julias Ferienhaus werden die Gäste eines Mitsommerfests grausam hingerichtet. Nur Astrid Helander, der Tochter der Familie, gelingt es, sich zu retten. Aber das junge Mädchen ist verstummt. Für Julia ist die Zeit gekommen, zu handeln.
Mit Gespür für dichte Atmosphäre und die psychologischen Feinheiten seiner Figuren schreibt John Ajvide Lindqvist einen vielschichtigen Thriller, der unter die Haut geht.
Während Kim sich auf die Spur der Täter setzt und ihnen im World Wide Web und rund um den Globus folgt, nutzt Julia ihre Kontakte zur Kriminalpolizei. Ausgerechnet ihr Exmann Johnny ist mit den Ermittlungen betraut. Wer steht hinter den Auftragskillern? Und was hat Kim Ribbing zu verbergen, der immer wieder im Alleingang arbeitet.
Für alle Fans der Millenium-Reihe und Leser:innen von skandinavischer Spannung.

Die dem Buch beigefügte Leseprobe war für mich nicht nötig, um meine Gier auf Band 2 anzustacheln.
Die Handlung ist „schnell“ erzählt: Eine Autorin, Julia Malmros, benötigt Unterstützung für Recherchen. Sie soll eine Fortsetzung der „Millenium“ Reihe schreiben. Kim Ribbing klärt sie über die Hackerwelt auf.
Während sich beide später in Julias Ferienhaus aufhalten, werden während der Feierlichkeiten zur Mittsommernacht ihre Nachbarn ermordet. Die 14-jährige Tochter überlebt. Die Ermittlungen führt Julias Ex-Mann Johnny.
So weit so gut.
Reicht diese Rahmenhandlung wirklich aus, um einen Thriller mit 528 Seiten zu füllen? Spannend zu füllen? Mich der Fortsetzung entgegen fiebern zu lassen?Und wie!
Der Thriller lebt natürlich von seinem Plot, der einige Wendungen nimmt. Genauso lebt er von seinen Charakteren. Zum einen gibt es die Autorin Julia, die ein Ersatzbuch schreiben muss, zum anderen den reichen, traumatisierte Hacker Kim Ribbing, dessen Geschichte stückchenweise in dem Buch entblättert wird. Doch beileibe nicht komplett. Seine Alleingänge führen letztendlich zur Lösung des Falls, doch wie gesagt, ist das nur ein Aspekt der Handlung.
Die Charaktere werden ausführlich beschrieben, sie haben Ecken und Kanten, Geheimnisse und sind einfach lebendig.
Mir trinken einige zu viel. Lassen sich Handlungen nicht beschreiben, ohne dass ständig eine Flasche Wein gekippt wird?
Mit „Refugium“ wurde ein fulminanter Start hingelegt, dessen Fortsetzungen vermutlich ein jeder Leser sehnsüchtig erwartet. Sei es, um die Geheimnisse und Vergangenheit um Kim Ribbing zu erfahren? Kann er sich weiterentwickeln, um zu leben?
Immer wieder wird auf die Millenium Reihe“ verwiesen. Beginnend mit dem Klappentext und später im Buch, da Julia Malmros eine Fortsetzung der Reihe schreiben soll. Nein, es ist mit der Millenium Reihe nicht vergleichbar. Qualitativ nicht vergleichbar. Der hier erwähnte Hacker verfügt über ein Trauma, die Autorin hängt zeitlich zwischen zwei Büchern fest.

Dieser Vergleich ist zu gewollt.

Zwischendurch musste ich beim Lesen darüber schmunzeln, nach Beendigung des Buches bin ich der Meinung, dass diese ständige Anspielung überflüssig ist. Die Handlung hätte gut für sich alleine stehen können, ohne sich an Millenium Charaktere anzubiedern.

„Read what I see”: Die REHA Whistleblowerin

Wenn einer eine Reise macht, so hat er viel zu erzählen?
So – oder so ähnlich – wurde es zu analogen Zeiten behauptet.

Kann man dies außerhalb von analogen Zeiten übertragen? In den REHA-Bereich? Nein, nein, es geht hier nicht um erotische Beschreibungen der Kurschatten. Sich finden, heimlich mit dem Piccolo unter dem Arm in die kleinen Einzelzimmer der Angebeteten, die damals vermutlich der heutigen Größe eines Doppelzimmers entsprechen, zu verschwinden und sich mit noch intakten Hüften miteinander vergnügen – davon sind wir hier weit entfernt.
Ja, ich schreibe von wir. Wobei doch nur ich schreibe: Die „REHA-Whistleblowerin“.

Der ungeschönte Blick hinter die Kulissen. Von modernisierten Speisesälen, deren maximaler Aufenthalt dort nicht einmal einer Halbzeit einer Fußballmannschaft vom Dorf entspricht. Den dort eingesetzten Thermoskannen mit Tee, die Erinnerungen an Schulausflüge in Jugendherbergen der 80er Jahre und früher wecken. Von Wandfliesen im Schwimmbad, die mit Gaffatape fixiert sind und kritisch beäugt werden.

Vom nichtexistierenden Freizeitangebot, was die momentan wenig mobilen Menschen aggressiv macht. Von Teilnehmern der Gesundheitswoche, die auch mit „Gervais Pampe“ als Quarkspeise zum Dessert abgespeist werden. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Von Behandlungen, Nichtbehandlungen, von Liegewiesen, die man nur mit gesunden Knochen nutzen kann und von viel Frust. Viel Frust in der Luft.

Von schwarzem Humor als Überlebensstrategie, weil man hofft: „Aber morgen wird es besser. Ganz bestimmt.“ Weiterlesen

„Read what I see“: Brief an eine Freundin aus der Eisdiele in H.

Liebste Freundin,

ich sitze in der Eisdiele in H., in der wir uns bereits mehrmals zum Frühstücken getroffen haben. Ja, genau die, in der eine Mitarbeiterin solch eine komische Quietsche Stimme hat. Die Sonne scheint, also packte ich mein Notizbuch ein, um dort einen Cappuccino zu trinken. Natürlich in der Erwartung, dass es dort etwas zu beobachten gibt und sich die Seiten meines Notizbuchs füllen werden.

Wie es ausschaut, wird meine Erwartung erfüllt. Noch wurde der Cappuccino nicht serviert und ich muss mir das Lachen verkneifen. Oder einen überraschten Blick? Ich sitze im Thekenbereich auf der letzten Bank. So habe ich alles im Blick, wie – wer kommt, wer geht – bekomme die Eisbestellungen der Schulkinder mit und höre das Meckern der Kellnerin, die draußen Getränke servieren möchte, ihr jedoch niemand der eintretenden Gäste die Tür öffnet. So muss sie erst ihre Tabletts abstellen, die Tür öffnen, die Tabletts erneut in die Hand nehmen und schwupps knallt ihr ein neuer Gast wieder die Tür vor der Nase zu.

Was verursacht mir ein Lachen? Am Tisch gegenüber sehe ich eine alte Frau. Ihr Hut ist mit einer großen Nadel auf ihren perfekt sitzenden Haaren, oder Perücke, befestigt. Ihr Gesicht ist von vielen Falten und Pigmentflecken durchzogen. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Stuhl, schaut durch ihre beschlagene Brille auf ihren Eisbecher und löffelt genüsslich mit sehr langsamen Armbewegungen einen Löffel Eis nach den anderen und qualmt. Aus den Ohren. Ja, sie qualmt aus den Ohren!
Ich nippe an meinem Cappuccino, den ich inzwischen bekommen habe, nehme meine Brille ab und schaue erneut zu der Frau hinüber. Meine Brille ist nicht beschlagen, ich sehe richtig. Aus ihren Ohren steigt Qualm auf.
Um ehrlich zu sein, zweifele ich ein wenig an meinem Verstand. Im Kopf überschlage ich meine Medikamenteneinnahme. Nein, in keinem Beipackzettel sind Halluzinationen als Nebenwirkungen aufgeführt.
Diszipliniert vermeide ich es sie anzustarren. Erneut hebt sie mit einer langsamen Bewegung den Löffel mit Eis, und etwas Rotem darauf, zum Mund. Ein klein wenig wendet sie dabei ihren Kopf und plötzlich gibt es keine Nebelschwaden mehr aus ihrem Ohr.

Sie isst einen Eisbecher, den ich nur noch aus den 80er Jahren, vielleicht noch aus den 90er Jahren kenne, doch nicht mehr in der Gegenwart: Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Wie früher werden sie in einer Sauciere serviert. Diese Himbeeren müssen sehr heiß sein, da noch immer Dampf aus ihnen hervorsteigt. Je nachdem, wie die alte Dame ihren Kopf hält, wirkt es, als würde der aufsteigende Dampf aus ihren Ohren strömen.
Puh, diese schnelle Auflösung verhindert, dass ich heute eventuell verrückt werde.