Rocky
„Das frisch geduschte, blonde männliche Muskelpaket fuhr rasant und betrunken mit dem Fahrrad zur Apotheke, da es ein Mittel gegen den drohenden Kater benötigte und legte sich bei dem Schneetreiben samt Fahrrad prompt auf die Fresse.“
Oma Else setzte sich irritiert ihre Lesebrille auf, um diesen Abschnitt im Lokalteil der Tageszeitung erneut zu lesen. Ein seltsamer Artikel, der im Bereich der Unfallmeldungen veröffentlicht wurde. Ein Kürzel, aus dem der Name des Redakteurs ersichtlich wurde fehlte ebenfalls. Welch` merkwürdige Sprache wurde hier verwendet? Das passte alles nicht zu ihrer Tageszeitung. Handelte es sich hier gar um „Fake News“? So recht konnte sie mit dem Begriff nichts anfangen. Lieber las sie über Einbrüche in der Nachbarschaft oder welcher Rammler den Wettbewerb beim örtlichen Kaninchenzüchterverein gewonnen hatte. Wenn sie den Politikteil abgetrennt hatte, diesen unter die Holzscheite im kleinen Kachelofen legte und das Feuer brannte, setzte sie sich gerne an ihren Küchentisch und las bei einer starken Tasse Kaffee die Todesanzeigen. Ein kleiner Keks durfte dazu nicht fehlen. Manchmal gab es auch ein kleines Stück Butterkuchen. Selten gestand sie sich ein, dass sie dieses Ritual mochte. Zu erfahren, dass es niemanden aus ihrem Bekanntenkreis oder aus der ehemaligen Schulgemeinschaft getroffen hatte, gab ihr ein gutes Gefühl.
Dieser Artikel irritierte sie weiterhin. Ihr Enkel sprach kürzlich davon, dass die Russen den komischen Trump im Wahlkampf unterstützt und irgendwelche Dinger gedreht hätten, so dass er gewonnen hätte.
Ob hier auch gedreht wurde? Interessierten sich die Russen etwa für Bochum? Wollten sie die Tageszeitung übernehmen und den Schröder gar zum Chefredakteur machen? Da gab es doch diese Geschichte mit Gas und so. Die Genossen nahmen es ihm so übel. Vielleicht wollten die Russen ihn nun auf einen ruhigen Posten abschieben? Wer öffentlich sagte: „Hör mal, hol` mir mal ´ne Flasche Bier, sonst streike ich hier“ (so ähnlich hatte doch der Raab darüber gesungen), der würde auch … prompt auf die Fresse schreiben?
Ach, vielleicht sollte sie die ersten Seiten doch nicht immer gleich verfeuern und sie stattdessen lesen?
Muskelpaket? Wer benutzte noch solch einen Ausdruck? Else kramte in ihrem Gedächtnis und sie konnte nur einen Zusammenhang mit Arnold Schwarzenegger herstellen. Lange war es her. Damals trugen die Frauen noch Schlaghosen. Viel schlimmer: Die Männer ebenfalls.
Plötzlich schmunzelte sie. In ihrer Erinnerung gab es ein weiteres Mannsbild, welches man als Muskelpaket bezeichnen konnte: Den blonden Rocky in der Rocky Horror Picture Show. Geschaffen von dem genialen Frank N. Furter. Er, also Rocky, verzauberte die Frauen in dem Film und auch sie als Zuschauerin zog ihn eindeutig dem Frank oder dem ungelenken Brad vor. Ihre Freundin fand Eddie bedeutend attraktiver. Bedauerte sein Ableben im Film. Es musste kurz vor ihrem 30. Geburtstag gewesen sein, als sie mit besagter Freundin zum ersten Mal die „Rocky Horror Picture Show“ im Kino anschaute. Als sie sich im Winter endlich trauten im Dienstmädchenkostüm mit einem leichten Trenchcoat bekleidet den Film zu sehen, lief er bereits monatelang, Die Kinoschlange war lang und das Schneetreiben draußen heftig. Ihre Freundin erwarb mit der Kinokarte eine kleine Flasche Sekt und war bereits ein wenig betrunken, als sich der Vorhang hob. Sie fror nicht mehr. Auch heute wärmte sie ein Piccolo mehr als eine halbe Stunde heiß zu duschen.
Nicht nur sie beide, der gesamte Kinosaal amüsierte sich, hatte Spaß, sang und machte bei den Szenen mit.
Langsam fuhren sie später auf ihren Fahrrädern den Abhang herunter. Bei dem Wetter verzichteten sie auf die übliche rasante Wettfahrt. Ihre Freundin kam unten meist als Erste an. Else war ein kleiner Angsthase und trat zwischendurch zu oft auf die Bremse.
Im Laufe ihres Lebens sah sie den Film häufig. Manchmal mit Freundinnen, manchmal mit ihrem verstorbenen Mann. Inzwischen fühlte sie sich zu alt dafür. Das Dienstmädchenkostüm war ihr zu klein geworden. Doch lief „The Time Warp“ im Radio, so zuckten ihre Füße weiterhin zum Takt der Musik.
Erneut las Else den Artikel. Sie beschloss sich keine weiteren Gedanken mehr über ihn zu machen. Sonst würde sie Kopfweh bekommen. Sie hatte keine Lust zur Apotheke zu fahren und Kopfschmerztabletten holen zu müssen. Wenn der Schröder den Artikel geschrieben hat, dann hat er ihn eben geschrieben. Vielleicht würde sie morgen wieder auf solch einen komischen Text stoßen?
Heute Abend würde sie ihren Enkel anrufen. Er würde bestimmt ein Kino finden, in dem der Film laufen würde. Und ihr Dienstmädchenkostüm ließe sich sicherlich verbreitern.
“Let’s do the time-warp again.”
Schreibübung zu den 8 Wörtern: Schneetreiben, Fahrrad, betrunken, rasant, Apotheke, blond, Muskelpaket, duschen
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Hans Pleschinksi: Königsallee
Klappentext:
Sommer 1954: Thomas Mann kommt zusammen mit seiner Frau Katia nach Düsseldorf, um aus dem „Felix Krull“ zu lesen, der sich zum Bestseller entwickelt. Im selben Hotel, dem „Breidenbacher Hof“, ist gleichzeitig Klaus Heuser, auf Heimaturlaub aus Asien, mit seinem Freund Anwar abgestiegen, ein Zufall, der es in sich hat. Denn Klaus Heuser, den er 1927 kennengelernt hatte, gehört zu Thomas Manns großen Lieben. In der Figur des Joseph hat er ihm ein Denkmal gesetzt. Nun sorgt die mögliche Begegnung der beiden für größte Unruhe, zusätzlich zu dem Aufruhr, den der Besuch des ins Exil gegangenen Schriftstellers im Nachkriegs-Deutschland ohnehin auslöst. Erika Mann mischt sich ein, Golo Mann und Ernst Bertram verfolgen ihre eigenen Ziele, und die Honoratioren der Stadt ringen um Haltung. Dazwischen die ewigen Fragen der Literatur, nach Ruhm und Verzicht, der Verantwortung des Künstlers und dem Preis des eigenen Lebens, nach dem Gelingen und Rang. Anschaulich und dezent, auf der Folie realer Vorkommnisse und bisher unbekannter Dokumente, dabei mit einem Anklang an „Lotte in Weimar“, lebendig und kenntnisreich, atmosphärisch und voll sprechender Details und unvergesslicher Figuren erzählt Hans Pleschinski in diesem großen Roman von Liebe, Verantwortung und Literatur – und von den 50er-Jahren in Deutschland.
Dieses Buch lieh ich mir ursprünglich aus, da es hier um Düsseldorf in den 50er Jahren geht.
Dass es sich um Thomas Mann und seinen ersten Besuch in Deutschland nach dem Krieg handelte, war für mich eher nebensächlich.
Sicherlich hatte ich Bücher von Thomas Mann gelesen, doch kann ich in seiner Biographie eher über die tragischen Selbstmorde einige seiner Kinder erfahren. Er selber, oder seine Frau, waren mir als Person nicht so wichtig. Biographien, die angelesen wurden, wurden wieder weg gelegt, da sie mir zu trocken waren.
Doch nun stieß ich auf „Königsallee“. Da ich einige Jahre in Düsseldorf lebte, kannte ich natürlich diese Straße und ja, ich kenne den Breidenbacher Hof nicht nur von außen.
Diese Geschichte interessierte mich. Wie war das Hotel in den 50er Jahren? War es in dieser Zeit auch so steif? So würdevoll?
Dieses Bedürfnis mehr darüber zu erfahren wurde auf den ersten 70 Seiten gut gestillt. Letztendlich wurde nur beschrieben, wie sich das Hotel auf den Besuch vorbereitet. Auf „ihn“.
Sehr sehr nett zu lesen.
Dem folgte die Einführung der Figur des Klaus Heuser. Jemand den Thomas Mann als 18-jährigen auf Sylt kennen lernte und später in sein Haus nach München einlud.
Dort küsste Thomas Mann Klaus Heuser und es wurde klar, dass Klaus Heuser eine der großen Lieben im Leben Thomas Manns war. „Verewigt“ in der Figur des Joseph.
Klaus Heuser ist nun das erste Mal nach vielen Jahren auf Heimatbesuch in Düsseldorf, begleitet von seinem Freund Anwar Batak Sumayputry.
Nun setzen sowohl Erika Mann (Tochter) als auch Katia Mann (Ehefrau) alles daran, dass der 79-jährige Thomas Mann im Hotel nicht auf seine ehemalige große Liebe stößt.
So besucht Erika Klaus Heuser und Partner in deren gemeinsamen Schlafzimmer, erzählt und hält lange Monologe. Zeigt ihr schauspielerisches Talent. Für meinen Geschmack hätten diese Seiten etwas kürzer ausfallen dürfen, andererseits habe ich so einiges über die Mann´s erfahren.
Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, erhält Klaus Heuser anschließend Besuch von Ernst Bertram. Patenonkel von Thomas Manns Tochter Erika, 70-jähriger Kriegsverbrecher und Dichter. Unter anderem verbrannte er Bücher mit Ausnahme derer von Thomas Mann.
Er möchte Verzeihung von Thomas Mann und möchte Klaus Heuser als Vermittler nutzen.
Doch dieser will nicht vermitteln.
Puh, diese Begegnung fand ich anstrengend, für das Buch aber wichtig.
Letztendlich taucht auch der Beisser, Golo Mann, bei Klaus Heuser auf. Auch er möchte etwas von ihm: Dass Klaus Heuser nach der Lesung Thomas Manns diesem sein neues Buch überreicht.
Klaus Heuser verweigert all´ diese Gefälligkeiten. Genießt die Zeit mit seinem Freund, genießt den Aufenthalt und nimmt letztendlich an dem Empfang nach der Lesung statt und trifft auf seinen alten Freund und „erfüllt“ alle Aufträge, um die er gebeten wurde.
Ein tolles Buch, welches mich sehr in den Bann gezogen hat.
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„Appes Bein“ (Dornröschen)
Wieder einmal saß Elfriede Machewsky auf der alten Bank im verrotteten Freizeitpark in Bottrop. Sie mochte die morbide Atmosphäre dieses Parks. Grünzeug überwucherte die verrosteten Geräte, die Wurzeln auf den ehemaligen Gehwegen brachten sie zum Stolpern. Die große, dornige, Hecke ließ ihre Gedanken abschweifen.
Schloss sie die Augen, zu fühlte sie sich wie Dornröschen. Kein wunderbares Schloss erträumte sie sich, eher ein kleines Hexenhäuschen. Gelegentlich träumte sie von einem Prinzen auf dem weißen Ross.
Vor einiger Zeit fiel sie in die Dornenhecke, die Wurzeln auf dem Gehweg waren einfach zu heimtückisch und brachten sie zu Fall. Kein Prinz befand sich in der Nähe, der den Stachel aus ihrem rechten Oberschenkel heraus zog. Ihr Prinz, Gerd Schmolke, war daheim und übersah ihn als sie zurückkam. Später ärgerte sich der Prinz, dass er nicht zur Stelle war, als der böse Stachel seine Elfriede so quälte.
Allmählich führte der Stachel zu einer Blutvergiftung. Viel zu spät suchte sie die Notaufnahme auf. Der liebe Chefarzt in der Notaufnahme sprach nur: „Schnell. Amputieren bis zum Oberschenkel.“
Dornröschen hörte es nicht. Das letzte was sie sah, war „Edward mit den Scherenhänden“. Als sie aufwachte wusste sie, Edward hatte sich um ihr Bein gekümmert und eine schicke Narbe genäht, die dem Dr. Mang vom Bodensee alle Ehre machen würde.
Elfriede gewöhnte sich an ihr appes Bein. Ja, die Elfriede hatte keine AOK Prothese, die jedem das Eigenleben zeigte. Nein, dem Dornröschen gebührte eine Vollprothese. Schick verkleidet und dem bleichen linken Bein in nichts nachstehend.
Ihr schicker Erwin halt.
Wenn sie so auf ihrer Bank im ehemaligen Freizeitpark saß, hielt sie schon mal Zwiegespräche mit ihrem Erwin. Fragte ihn auch wie denn der schöne rote Chanel Nagellack besser auf den Zehen halten könnte.
Ihr Gerd nuckelte gerne an ihren Zehen. Noch beklagte er sich nicht darüber, dass ihm ihr linker Fuß weiterhin besser mundete, als der Plastikgeschmack ihres Erwins. Sie fand aber, dass es ziemlich blöde aussah, wenn sich nach seiner Nuckelei rote Nagellackreste zwischen seinen gebleichten Zähnen befanden. Es erinnerte sie an ältere Frauen, deren Lippenstift allzu oft den Weg von den Lippen auf die Zähne fand.
Küssen mochte sie Gerd Schmolke anschließend nicht mehr.
Was ihr appes Bein gar nicht mochte, war, wenn Elfriede wieder einmal Schmetterlinge im Bauch hatte. Die Schmetterlinge blieben einfach nicht im Bauch. Sie flogen rum und schwupps kribbelte es in der Hüfte. Zu viel kribbeln führte dazu, dass das Bein abfiel.
Sah Elfriede einen gut trainierten Bauarbeiter mit einem verschmitzten Lächeln, war es um sie geschehen. Es kribbelte, sie verlor ihren Erwin und schwupps lag sie auf dem Gehweg.
Gerd Schmolke fand das gar nicht gut. Musste er Elfriede vom Gehweg auflesen, war ihm klar, dass wieder die Schmetterlinge im Spiel gewesen waren.
In seiner Gesellschaft hatte sie ihren Erwin zuletzt vor 8 Wochen verloren. Es geschah in dem Moment als er vor ihr kniete, ihren linken Fuß leicht im Mund, und sie mit einem Blick betrachtete, der sagte: „Du mein Dornröschen, bist die schönste, liebenswerteste Frau der Welt.“
Der Blick änderte sich auch nicht, als er eine Zehe von Erwin in den Mund nahm. Spätestens da wurde ihr bewusst, dass sie keinen Prinz auf dem weißen Ross benötigen würde. Sie hatte ihren Prinzen. Ihr Hexenhäuschen war die 3 Zimmer Wohnung in Bottrop, ihr Prinz der Gerd.
Ihr Erwin eine Art Stallknecht, der dafür sorgte, dass sie weiterhin gut zu Ross, äh Fuß, war.
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