Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

Klappentext:
Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneiges auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von achtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, entsteht etwas unter diesen Menschen, das niemand für möglich gehalten hätte.

Ein Leben mehr ist ein wundersam beseelter und berührender Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe, die Freiheit und die Natur. Ein Roman wie das Leben selbst: traurig und schön.
Was soll ich nur sagen? Ich habe ein wunderschönes Buch gelesen, welches ich jedem ans Herz legen mag.
Woran liegt es? Gibt es Bücher, in denen mit Respekt und ganz viel Einfühlungsvermögen über das hohe Alter geschrieben wird? Die meisten Bücher sind doch eher lustig, geschweige respektvoll geschrieben.
Sehr feinfühlig wird über drei Männer geschrieben, die sich in einem Wald in Kanada zurückgezogen haben. Sie wollen selbstbestimmt Leben, diesem Leben etwas abgewinnen, dem Tot entgegentreten und wenn es so weit ist, selbstbestimmt sterben.
Sie leben frei.
Ihre Ruhe wird gestört, als die Fotografin auf der Suche nach Boychuck zu ihnen stößt. Sie vermutet, dass der letzte Überlebende der Großen Brände bei den drei Männern lebt, bzw. einer von ihnen ist.
Kurz darauf kommt Marie hinzu. Eine kleine, zierliche Dame von über 80 Jahren , die fast ihr ganzes Leben in der Psychiatrie verbrachte. Hier kann und wird sie würdevoll leben.
Nun geht es in diesem poetischem Büchlein (die 192 Seiten ergeben wirklich nur ein dünnes Büchlein) auch um die Liebe.
Mehr mag ich über das Buch nicht schreiben, außer: Lesen und sich in den Bann ziehen lassen. Das Titelbild auf sich wirken lassen. Den Gedanken der alten Männer folgen, sich davon inspirieren lassen und die Essenz für sich ziehen.

„Read what I see“: Schwarzwälder Kirschtorte

„Ich habe meine Vitaminspritze schon gekriegt und ja, dann hat er mir noch einen Termin beim Urologen gemacht. Nee, Viagra brauche ich noch nicht.“
Ungewollt wird mir dieser Satz in einer Lautstärke um die Ohren geworfen, dass alle Nebengeräusche übertönt werden. Ich sitze in einem Straßencafé, trinke einen Milchkaffee und versuche mich in mein neues Buch einzulesen. Leider gelingt es mir nicht, denn der nächster Satz wird erneut sehr laut in das Telefon gebrüllt: „Immer wenn ich die Spritze gekriegt habe….“
Ja, was geschieht dann? Sucht dieser laut sprechende Mann ein Café auf und teilt seine Spritzenerfahrung sofort lauthals dem- oder derjenigen am Ende des Telefons mit? Wer mag am Ende des Hörers lauschen und sich instinktiv den Hörer eventuell sehr weit von der Ohrmuschel entfernt halten? Vielleicht würde den Gästen im Café das geführte Telefonat nicht so auffallen, wenn dieser Mann nicht mit einem sehr ausgeprägten sächsischen Akzent sprechen, bzw. brüllen, würde? Leider kann ich diesen Akzent schriftlich nicht wieder geben.
Ich schaue mir den Schreihals an. Ein sehr schlanker Mann in den 50ern, mit ausgeprägt schütterem Haar, die dünnen Beine in enge Jeans gekleidet, sitzt mit aufgestützten Armen und einer Zigarette im Mundwinkel an einem kleinen Tisch. Zwischen der Brüllerei nimmt er einen Zug von der Zigarette oder trinkt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Die Schwarzwälder Kirschtorte steht noch unberührt auf dem Tisch. Anscheinend zieht er das Telefonat der Torte vor.
„Nö, ich bewahre meine Brückentage. Ich fahre nicht weg.“
„Nein, ich nehme meine Brückentage dieses Jahr nicht:“
„Nö, ich behalte meine Brückentage.“
Das Telefonat scheint einen Schlenker von der Vitaminspritze, über den Urologen zu den Brückentagen genommen zu haben, die ihm anscheinend sehr wichtig sind.
Während ich hinüber schaue und mir wünsche, dass er sein Telefonat beenden würde bemerke ich für mich, dass ich noch nie einen Mann Schwarzwälder Kirschtorte habe essen sehen. Sehe ich diese Torte gleiten meine Gedanken zu betagten Frauen, Kaffeekränzchen, Omis mit Dackel an ihrer Seite, Häkeldeckchen im Wohnzimmer, Plüschsessel oder Cafés in denen die Kellnerinnen noch in einer weiß gestärkten Servierschürze bedienen, hinüber. Schwarzwälder Kirschtorte und jeder Art von Torte, die mit Eierlikör benetzt ist, verbinde ich eben mit Kaffeekränzchen und älteren Damen.
Nun sehe ich zum ersten Mal diese Torte auf einem Teller vor einem Mann stehen. Ein ungewohnter Anblick. Oder ein ungewohnter Gedanke für mich.
Mein Buch habe ich zur Seite gelegt.
Der Mann mittleren Alters telefoniert weiter. Es fallen wieder Begriffe wie Viagra, Spritzen und Urologe. Mit seinem sächsischen Dialekt dominiert er die Unterhaltung im Café.
Kurz bevor ich meinen Milchkaffee ausgetrunken habe, legt er sein Handy zur Seite und schiebt sich mit der Gabel ein großes Stück der Torte in den Mund. Irgendwie schaue ich fasziniert zu. Für mich verbinde ich diese Torte gedanklich weiterhin als „Torte für Frauen“ und habe heute doch das Gegenteil gelernt.

Übrigens begann ich das Buch endlich zu Hause in Ruhe zu lesen. Die Buchbesprechung hierzu folgt bald.

Kolumne: Restaurantbesitzer und ihre Definition von „barrierefreien Räumlichkeiten“:

… oder von einer, die auszog ein barrierefreies Restaurant für eine Familienfeier zu suchen und schnell merkte, dass diese Aufgabe auch bei einem größeren Aktionsradius nicht so leicht zu lösen ist.
Naiv vermutete ich zu Beginn, dass es nicht schwer sein kann, ein Restaurant für eine Familienfeier zu finden, welches für Rollstuhlfahrer geeignet ist. Es gibt Restaurants, die sich rühmen barrierefrei zu sein und dies bewerben. Es gibt sogar Restaurants, die sich mit dem Vermerk „Für Rollstuhlfahrer geeignet“ in Restaurantführer aufnehmen lassen. Bis heute ist mir nicht klar, nach welchen Kriterien diese Aufnahme erfolgte. Oder ob jemand diese Aussagen überprüfte.
Schüttelte ich zu Beginn der Suche noch den Kopf, packte mich zwischendurch die Wut. Bevor ich mir angebotene Räumlichkeiten anschaute lernte ich schnell, dass ein Telefonat zuvor unnötige Fahrtzeit ersparen und unnötigen Frust vermeiden könnte.
Meine Standardfragen an die Gastronomen lauteten meist:
„Ihre Räumlichkeiten sind für Rollstuhlfahrer geeignet?“ „Ihr Lokal verfügt über ein behindertengerechtes WC?“
Wirbt ein Restaurant damit für Rollstuhlfahrer geeignet zu sein, ist es für mich logisch, dass es über ein dementsprechendes WC verfügt. Nein, dem ist bei weitem nicht so.
„Unser Zugang zum WC ist nur 50cm breit, da kommt kein Rollifahrer rein.“Die meisten Rollstühle beginnen mit einer Breite von 63cm, es ist nur logisch, dass das nicht funktionieren kann.
„Unser Lokal ist super ausgestattet für Rollstuhlfahrer. Wenn sie die fünf hohen Eingangsstufen bewältigen können.“
Klar, Rollstuhlfahrer können ihren Rollstuhl wie einen fliegenden Teppich nutzen und ´mal eben in die Lokalität einfliegen.
„Schauen Sie sich gerne unser Lokal an. Innen ist alles barrierefrei.“ Die Betonung auf innen ließ mich aufhorchen. Wie mag es außen ausschauen?
„Draußen haben wir 18 Stufen. Unsere kräftigen Kellner tragen die Rollstuhlfahrer immer rein.“ Am liebsten wäre ich mit einem Gast vorbei gekommen, der einen elektrischen Rollstuhl nutzt. Eine kleine Armee an kräftigen Kellnern kann einen solchen Rollstuhl nicht hoch heben.
„Natürlich können wir Ihnen ein Buffet anbieten. Dann kann aber nur ein Gast im Rollstuhl anwesend sein und der muss an seinem Tisch sitzen bleiben, ansonsten ist alles zu eng.“
Aha, es werden nur sich nicht bewegende Rollstuhlfahrer gewünscht?
Es wurden Kellerräume angeboten, es gab aber keinen Aufzug um dorthin zu gelangen. Oder Räume in den oberen Etagen, die auch nur über Treppen zu erreichen waren. Diese Beispiele wiederholten sich in der Kontaktaufnahme zu den Gastronomen immer wieder und zogen sich wie ein roter Faden durch die Suche. Weiterlesen

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