„Read what I see“: Sollen wir heute den Hund grillen?

Ich bin ein Spanner. Korrekt gesagt eine Spannerin. Eine, die im Caféhaus nicht die Ohren verschließen kann und deren Augen vieles aufmerksam betrachten. Häufig registriere ich diese Beobachtungen erst später richtig.
Ich kann nicht anders.
So auch heute. Eine Frau um die 70 Jahre, mit dicken aufgespritzten Lippen, sitzt in meiner Nähe. Ich sehe sie nicht zum ersten Mal. Ihr rechtes Handgelenk ist stets mit breiten Goldarmbändern behangen, die ich üblicherweise nur als Halsschmuck bei Rappern kenne. Links trägt sie eine sehr große himmelblaue Armbanduhr aus Plastik. Ihren Mittelfinger ziert ein sehr klobriger Ring. Das rosa T-Shirt sitzt eng, die darüber getragene rote Kapuzenjacke beißt sich farblich mit dem T-Shirt. Die Haare sind silberfarben gefärbt und glänzen an manchen Stellen in einem leichten lila Ton. Die Brille passt sich der Haarfarbe an, die Sneakers der Uhr.
Ihr Gegenüber sitzt ein älterer Mann, der kaum auffällt. Fast unscheinbar wirkt. Nur wenn er redet, wirkt er lebendig. Ich vermute in ihm ihren Ehemann.
Betreten beide das Café, so setzt sie sich an einen Platz, während er das Frühstück und den Milchkaffee für beide holt. In der Zeit greift sie zu ihrem Smartphone und tippt etwas hinein. Etwas? Dieser Vorgang ist nicht zu überhören. Zum einen klappern die dicken Goldarmbänder, zum anderen klappert jede Buchstabeneingabe unerträglich laut. Sie hat den Ton am Smartphone bei der Ziffern- oder Buchstabeneingabe nicht deaktiviert. So selig, wie sie beim Tippen lächelt, vermute ich dass dieser Ton in ihr irgendwelche erogenen Zonen aktiviert? Anders kann ich es mir nicht erklären, wie sie ohne Pause minutenlang irgendetwas eintippt, während ich schier verrückt werde. Mich törnt dieser Ton in dieser Frequenz und in dieser Häufigkeit überhaupt nicht an. Im Gegenteil. Ich werde unruhig und möchte ihr das Smartphone entwenden und versehentlich in den Gulli fallen lassen. Ihr Mann tritt an den Tisch, verteilt das Frühstück und für einen kurzen Moment kehrt Ruhe ein.
Stille.
Sie sprechen nicht miteinander. Rühren Zucker in den Milchkaffee, trinken ihn und schlürfen dabei ein wenig. Laute, die ich als eine Wohltat gegenüber dem „Tipp,tipp“ empfinde.
Die Brötchen werden mit Butter beschmiert, Marmelade darauf verteilt und langsam hinein gebissen. Fast. „Ich bin unterzuckert“ sagt sie und schiebt sich das halbe Brötchen auf Ex, an den aufgespritzten Lippen vorbei, in den Schlund.
Ich halte mich bereit, um notfalls das Heimlich-Manöver anwenden zu können. Weiterlesen

Anne

Anne saß in ihrem großen, roten Ohrensessel in ihrer Wohnküche. Mit ihren weit über 80 Jahren fror sie immer, so dass der Kachelofen auch im Sommer brannte. Der Holzhändler freute sich darüber, wenn er ihr wieder eine große Fuhre Kleinholz anlieferte. Ihr war es egal. Eine kleine Marotte durfte sie sich in ihrem Alter doch leisten. Ihre Wohnküche mutierte zu ihrem Lebensmittelpunkt. Die Haustür war nie verschlossen, so dass ein jeder der wollte sie besuchen konnte ohne dass sie die Tür öffnen musste.
Sie mochte ihr betagtes, kleines Haus. Das Wohnzimmer wurde höchstens noch an Weihnachten benutzt, ihr Schlafzimmer nur noch zum Umkleiden. Ihr reichte die alte Küchencouch zum Schlafen. Tagsüber machte sie, auch wenn die halbe Verwandtschaft um sie herum schwirrte, ein Nickerchen in ihrem Ohrensessel. Manchmal wurden es auch zwei Nickerchen. Sie hörte den Unterhaltungen um sie herum, und gelegentlichen Streitereien, in denen es häufig um Kinkerlitzchen ging, nicht zu. Es interessierte sie nicht. Anne interessierten die Menschen, nicht ihre Verstrickungen untereinander.
Das letzte Nickerchen war heute nicht so erholsam. Sie träumte, dass Eimerweise Flugsand über sie geschüttet und sie ersticken würde. Als sie wach wurde, merkte sie, dass ihre Katze es sich auf ihrem Kopf gemütlich gemacht hatte und ihr dicker Schwanz Anne die Nase verstopfte. Blödes Viech. Sie so zu erschrecken und aus dem Schlaf zu reißen. Anne unterstellte ihr schon eine gewisse Absicht. Die Katze lief ihr vor einigen Wochen zu und mochte es nicht, dass Anne sie auf den Namen „Eisbär“ taufte. Bei dem weißen Fell eine logische Entscheidung, dachte sich Anne. Eisbär boykottierte die Entscheidung, indem sie mit keck aufgerichtetem Schwanz nur kam, wenn frisches Futter bereitgestellt wurde. Auf alle weiteren Rufe reagierte sie nicht.
Während Anne in ihrem Ohrensessel an einer Decke, bestehend aus Granny Squares, häkelte, dachte sie an die gestrige Unterhaltung mit ihrer Tochter. Anna hatte wieder einmal einen Kontrolltermin bei ihrem Hausarzt vergessen. Was heißt vergessen? Es ziepte nirgends in ihrem Körper und ihr Verstand war mopsfidel (wie sollte sie sich auch anders die schwierigen Häkelmuster ausdenken und ohne Notizen gemacht zu haben, los häkeln können?).
Daher sah sie nicht ein, den Landarzt aufzusuchen.
Ihre Tochter schimpfte und nahm gleich das böse Wort Demenz in den Mund. Ach, soll sie doch schimpfen und Modeworte verwenden. Letztens sprach ihre Tochter sogar davon, dass sie bald auf einen Burn Out zusteuern würde, wenn sie ihren Stresslevel nicht endlich senken würde. Anne war auf diesem Ohr taub und wechselte das Thema.
Nein, Anne hatte ihre Zeit viel sinnvoller verbracht. Über den Sommer weilte der Vater des netten Nachbarn beim Sohn und sie ging viel lieber mit ihm an den Rapsfeldern entlang spazieren, als in einer vollen Arztpraxis Stunden warten zu müssen.
Während dieser Spaziergänge fror sie auch nie. Vielleicht lag es daran, dass er sie immer keck anlächelte, wenn er in ihre Küche kam, um sie abzuholen?

Schreibübung zu den folgenden vorgegebenen 8 Wörter:
Kinkerlitzchen, Weihnachten, Flugsand, häkeln, keck, Eisbär, eimerweise, mopsfidel

Kolumne: Rituale, denen wir seit der Kindheit folgen

Immer wieder führe ich Gespräche mit Freunden und Bekannten, in denen wir uns an unsere Kindheit erinnerten. Wir erinnerten uns an Dinge, die es heute nicht mehr käuflich zu erwerben gibt und an Dinge, an die wir uns als Kinder selbstverständlich heran gewagt haben. Irgendwann sprachen wir auch über Rituale und schnell fiel folgendes auf: Ein jeder lächelte, schaute verträumt und brachte Bezeichnungen wie „Lassie“, „Wetten, dass“, „ZDF-Sommerprogramm“ oder „Nüsse für Aschenbrödel“ ins Spiel.
Ja, wir Erwachsenen, aus den 60er Geburtenjahrgängen verbinden Rituale in der Kindheit oft mit Fernsehen. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass das Anschauen einer Fernsehsendung ein kleines Familienevent war? Dass es nicht ein Rund-um-die-Uhr Fernsehprogramm gab? Ja, dass es sogar ein Standbild gab oder nur ein rauschen nach der letzten ausgestrahlten Sendung? Nein, ich bin keine 100 Jahre alt, sondern „erst“ 50 Jahre.
Mit Freundinnen wurde in der Vorweihnachtszeit „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ in geschaut und an Walnüssen geknabbert, während auf das Happy End gewartet wurde. Zu dem Zeitpunkt wurden tschechische Filme von uns geliebt. Sie verfügten über eine Detailtreue und über schöne Kostüme. Sie waren irgendwie anders und dadurch umso schöner.
Auch dieses Jahr werde ich mir den Film anschauen. Eingemummelt auf dem Sofa sitzen, mit einem Becher Tee und Strickzeug. Und nichts, so gar nichts, darf mich in dieser Zeit stören. Wie viele Menschen werden sich den Film anschauen, an ihre Kindheit denken, vielleicht einige Dialoge mitsprechen können und trotzdem neue Details im Film erkennen?
Mit der Familie wurde die „Hitparade“ geschaut. Der Ablauf dort war meist gleich: Dieter Thomas Heck sprach schnell und hektisch ins Mikrofon, insbesondere am Ende der Sendung.
Manchmal wurde ich enttäuscht, dass ich Howard Carpendale nicht erneut sehen konnte, da er mit seinem aktuellen Lied bereits dreimal aufgetreten war. Nach dreimal war Schluß mit den Auftritten..
Wurde dort nicht mehrmals eine Frau im Publikum angesprochen, die bei jeder Sendung der „Hitparade“ im Publikum war?
Stets schrieb ich die Autogrammadressen mit. Manchmal wurden sie mir von meiner Mutter oder meinem Vater diktiert. Ich konnte sei meist nicht so schnell alleine mitscheiben. Mein Büchlein war gefüllt mit Autogrammadressen verschiedenster Künstler. Nicht eines habe ich mir bestellt, doch das mitschreiben gehörte dazu. Genauso wie die Hebebühne, die die Künstler (meist die auf Nr.1 Platzierten) in die Höhe hob. Nicht zu vergessen die Windmaschine, die einige Male das lange Haar der verschiedensten Sängerinnen durch die Luft wirbelte.
Lange ist es her. Heute schaue ich mir noch nicht einmal VIVA oder MTV an, denn Musik bekomme ich dort nicht zu hören. Weiterlesen

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