„Read what I see“: Samstagmittag
Es ist Samstag. 13:05 Uhr. Drei Frauen, die ich innerlich sofort mit der Bezeichnung „Madämchen“ versehe, betreten das Café. Woran liegt es, dass ich sie sofort in eine bestimmte Schublade stecke? Vermutlich an ihrem Verhalten, welches erkennen lässt, dass sie nicht allzu oft in einem Bäckerei Café mit Selbstbedienung verkehren?
In einer Dreierfront stehen sie geschlossen, auf die Getränke- und Speisekarte an der Wand gegenüber blickend, an der Selbstbedienungstheke.
Alle drei tragen Spangenschuhe mit kleinem Absatz, enge bunte Hosen mit passender Oberkleidung und den identischen Haarschnitt: Einen Bubbikopf. Jede trägt ihn in einer anderen Blondierung. Die Sonnenbrille ist im Haar aufgesetzt oder befindet sich noch auf der Nase. Die großen Handtaschen trägt eine jede unter die Achsel geklemmt. Kleine Risse und aufgeplatzte Nähte an den Handtaschen lassen erkennen, dass sie älter oder schon lange in Gebrauch sind.
Die Kleinste von ihnen erhebt ihre Stimme und fragt: „Haben Sie auch eine Karte?“
„Leider nicht. Hier oben ist alles aufgeführt. Inklusive aller Getränke.“
„Machen Sie noch Frühstück?“
„Ja, selbstverständlich.“
Die Köpfe werden zusammen gesteckt. Ich höre ein leises: „Ich möchte aber ein Spiegelei.“ Eine andere sagt: „Mir ist es egal.“
Plötzlich wackeln alle drei Bubbiköpfe.
Eine von ihnen bestellt: „Wir möchten des:“ (Was ist „des“?)
„Ein Kaffee mit Brezel reicht.“
Mir ist nicht klar, ob diese Entscheidung aus finanziellen Gründen getroffen wird oder um der Figur willens.
Der Versuch den Kaffee mit Zucker zu versehen ist vorerst nicht von Erfolg gekrönt. Es scheint, als wären sie es nicht gewohnt ihren Zucker selber zu dosieren und einzufüllen.
Sie zahlen getrennt und tragen ihr Tablett mit der Butterbrezel und dem Kaffee nach draußen auf die Terrasse. Die Stühle werden umgestellt, so dass jede auf die Straße blicken kann. Eine Sitzposition wie ich sie in den ersten Reihen der Cafés in Paris erlebt habe. Die Brezeln werden auseinandergerissen und getunkt.
Plötzlich schnellt die Größte von ihnen hoch: „Ich muss mein Auto in den Schatten umsetzen“, verschwindet und parkt ihren Fiat 500 ein paar Meter weiter unter einen Baum.
Anschließend nimmt sie wieder neben den beiden anderen Platz. Alle haben die Beine übereinander geschlagen, tragen ihre Sonnenbrillen nun auf den Nasen und zünden sich eine Zigarette an. Auf die Entfernung meine ich die Sorte Eve 120 zu erkennen. Nun erlebe ich endlich Frauen, die diese Sorte rauchen.
Während ich meinen Latte Macchiato genieße und in einem Buch lese, gleitet mein Blick immer wieder zu den drei Frauen hinüber. Ja, sie benehmen sich als wären die Menschen in ihrem Umfeld Bedienstete. Wie passt dann der Fiat 500 ins Bild? Ein Auto umsetzen, damit es sich nicht aufheizt, obwohl es normalerweise über eine Klimaanlage verfügt?
Sie erinnern mich an Frauen, die einmal im Jahr im Rotary Club einen Flohmarkt veranstalten um dann generös den Erlös zu spenden. Sie erinnern mich an Frauen, wie ich sie in den 90er Jahren im Tennis Club erlebte. Doch wer sind sie wirklich? Wer könnten sie sein? Drei Frauen, die ein sehr kleines Klassentreffen ehemaliger Pensionats Schülerinnen abhalten? Ex-Frauen, die sehr viel bessere Zeiten erlebt haben. „Frau Doktor“ oder „Frau Geschäftsführerin“, die nach der Scheidung nicht ihrem gewohntem Standard entsprechend abgefunden wurden?
Wie wird der Tag für sie weiter gehen? Werden sie ihn schwitzend und kichernd bei einer kleinen Landtour über die Schwäbische Alb im Auto verbringen? Kichernd vermutlich nicht. Die ganze Zeit sah ich nicht eine von ihnen lächeln. War das Brezelfrühstück für sie das heutige Highlight?
Ich werde es nicht erfahren.
Irgendwie kann ich mir vorstellen, dass sie von hier zum Vorsprechen nach Wien fahren. Für die nächste Staffel der „Vorstadtweiber“. In den Rollen der aus der Versenkung auferstandenen Schwiegermütter. Bessere Zeiten erlebt hatten und sich wieder bessere Zeiten, mit allen ihren Wirrungen und Irrungen, wünschend.
Kolumne: Beschämende Szenen im Café
Ich vergewisserte mich, dass sich die Mutter und Freundin eines kleinen Jungen etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch) und so verließ ich das Café.
Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.
Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.
Ich schäme mich.
Einige Zeit zuvor: Es war der vergangene Mittwoch: Bergfest, wie manche gerne sagen. Die Sonne schien an diesem Wintertag und trieb die Menschen in Mengen in die Stadt und in die Fußgängerzone. Auch ich traf mich mit einer Freundin in ihrer Pause in dem großen Bäckerei-Café gegenüber der Kirche in Reutlingen.
Wir plauderten ein wenig und sahen zwei kleine Kinder in der Spieleecke. Ein blondes Mädchen und einen kleinen dunkelhaarigen Jungen. Ich maß dem keine Bedeutung zu.
Nachdem meine Freundin wieder zur Arbeit ging, schmökerte ich ein wenig in einem Buch, als mich ein weinendes Kind aus meiner Lektüre riss. Ein erwachsener Mann hatte diesen kleinen, vielleicht zweieinhalbjährigen, Jungen heftig geschlagen und schimpfte laut auf dessen Mutter ein.
„Sie haben Ihr Kind nicht erzogen, der hat meine Tochter gehauen, natürlich kann ich ihn schlagen, wenn Sie ihr Kind nicht erziehen!“
Weinend saß der Kleine auf dem Schoß seiner Mutter, die mit, leicht, ausländischem Akzent und zitternder Stimme dem Mann versuchte Einhalt zu gebieten.
„Ich schlage mein Kind nicht und Sie haben meinen Jungen geschlagen. Das dürfen Sie nicht. Warum machen Sie das?“
Wie im Laufe der nächsten Minuten, wiederholte und wiederholte er sich.
„Natürlich kann ich Ihr Kind schlagen. Er hat meine kleine Tochter beim Spielen gehauen. Ich darf das, wenn Sie Ihr Kind schon nicht erziehen.“
Inzwischen kam die Mutter des Mädchens hinzu und unterstützte ihren Mann. Beide betonten laut, mit von mir inzwischen als hysterisch empfundenen Stimmen, dass es in Ordnung ist, wenn ein erwachsener Mann ein Kleinkind heftig schlägt.
Die Ausgangssituation war: Zwei kleine Kinder spielten und der Junge hatte das kleine Mädchen gehauen. Eine Situation, die sich in Kindergärten und Kinderzimmern sicherlich täglich nicht nur einmal ereignet. Selbst für mich als Nicht-Mutter ist dies ein kindgerechtes Verhalten, welches keinen Eingriff eines Erwachsenen bedurfte.
Die Mutter des kleinen Jungen fragte weiterhin: „Warum haben Sie mein Kind geschlagen? Warum machen Sie so etwas? So etwas macht man nicht mit einem Kind.“
Die Antwort bestand aus einer sehr angespannten Körperhaltung ihres Gegenübers und der Aussage, dass er es tun dürfte.
Das ganze zog sich über einige Minuten hin. Die Atmosphäre war mehr als angespannt und die sehr lautstarken Aussagen des Vaters wirklich nicht zu überhören. Die Situation schien zu kippen.
Niemand schritt ein. Versuchte zu deeskalieren oder der Mutter zu helfen. Zwischenzeitlich hatte ich mich auf den Tisch der Mutter zubewegt, an dem der Vater des kleinen Mädchens drohend stand. Während ich in meinem Kopf ebenfalls sehr lautstarke, an den Vater gerichtete, Sätze formulierte, die auch das eine oder andere Schimpfwort beinhalteten, blieb ich äußerlich ruhig. Stimmlich ebenfalls. Innerlich brodelte ich.
Meine Intuition sagte mir, mich eher ruhig zu verhalten. Diesen Mann schätzte ich so ein, dass es heute nicht bei dem einen Schlag einem Kind gegenüber bleiben könnte.
Ich versuchte die Mutter zu trösten, ihr ein Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht alleine ist, dass Hilfe geholt werden kann, dass ich da bleiben würde. Eine Freundin von ihr saß zwar ebenfalls mit am Tisch, hielt sich aber zurück.
Plötzlich legte der Vater erneut los. Wiederholte den Satz immer und immer wieder, dass er den Jungen hätte schlagen dürfen und arbeitete dann mit weiteren Argumente.
Dann schrie er es der Mutter des kleinen Jungen fast ins Gesicht:
„Vergessen Sie nicht: SIE sind nur Gast in unserem Land.“
Gefolgt von dem Satz, den er zuvor ständig laut gesagt hatte.
Er setzte sich mit seiner Frau und seiner Tochter wieder an seinem Platz in die Mitte des Cafés und brüllte von dort aus weiter.
Wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen empfand ich die Gäste des Cafés. Die Angestellten des Cafés. Niemand tat auch nur irgendetwas in irgendeiner Form.
Im Gegensatz zu den drei Affen konnten sie den Vorgang beobachten und taten dies teilweise sehr neugierig.
Im Gegensatz zu den drei Affen hörten sie, was geschah und tuschelten darüber.
Im Gegensatz zu den drei Affen hätte ein jeder, eine jede den Mund öffnen können.
Nichts geschah.
Gewünscht hätte ich mir:
Vom Personal: Vom Hausrecht Gebrauch zu machen oder die Polizei zu rufen.
Der Mutter und ihrer Freundin einen neuen heißen Tee zu servieren und sie zu trösten.
Von den Gästen: Dem Mann Paroli zu bieten.
Stattdessen kam: Nichts.Nichts.
Von mir hätte ich mir gewünscht: Die Gäste direkt anzusprechen und sie zu bitten unterstützend einzugreifen.
Warum beschreibe ich diesen Vorfall so ausführlich? Die Ausgangssituation war ein sonniger Tag mitten in der Woche. Viele Menschen gingen in die Innenstadt, ein Café war gut besucht, zwei Kinder spielten, ein kleiner Junge mit dunklen Haaren hatte ein kleines, blondes, Mädchen leicht gehauen, wie es viele kleine Kinder untereinander tun.
Eine Mutter, die mit einem leichten ausländischen Akzent sprach, saß mit einer Freundin – beide bekleidet mit einem Kopftuch – in diesem Café.
Ein Gast wird einem Kleinkind gegenüber handgreiflich, beschimpft die Mutter, schafft eine sehr bedrohliche Situation, in der niemand agiert. Ich handelte etwas zu spät.
Die ganze Situation hätte wirklich eskalieren können. Hätte irgendjemand Zivilcourage gezeigt? Ich behaupte nein.
Meine Idee, die Polizei zu rufen und dem Vater des Mädchens beim Verlassen des Cafés zu „verfolgen“, um mitteilen zu können wo er weiter anzutreffen wäre, wollte die Mutter des Kleinen nicht umsetzen.
Die Wut und auch der Ekel aus diesem Erlebnis sind weiterhin nicht verschwunden. Ja, ich verurteile die Menschen, die nicht eingegriffen haben. Die der Mutter etwas Trost gespendet haben oder dem Vater des Mädchens entgegengetreten sind. Sicherlich beschrieb ich die Situation zuvor als angespannt. Doch hätten einige Besucher zusammen gehandelt, wäre die angespannte Situation zu überwinden gewesen.
So empfinde ich ihr Nichtstun als feige. Als widerlich.
Nachdem ich mich vergewisserte, dass Mutter und Freundin des kleinen Jungen sich etwas gefangen hatten (der kleine Junge weinte immer noch), verließ ich das Café.Langsam ging ich hinaus. Dabei schaute ich fast jedem Gast lange in die Augen.
Sah Schadensfreue, ein wenig Scham, Desinteresse.
Ich schäme mich.
Andreas Gruber: Todesmärchen
Klappentext:
In Bern wird die kunstvoll drapierte Leiche einer Frau gefunden, in deren Haut der Mörder ein geheimnisvolles Zeichen geritzt hat. Sie bleibt nicht sein einziges Opfer. Als der Profiler Rudolf Horowitz das spezielle Zeichen entdeckt, dass der Mörder in der Haut des Opfers hinterlassen hat, fordert er umgehend Maarten S. Sneijder vom BKA Wiesbaden an.
Dieser äußerst exzentrische niederländische Profiler trifft wenig später zusammen mit seiner jungen Kollegin Sabine Nemez in Bern ein. Gemeinsam untersuchen sie Tatort und Leiche, und bald weist alles darauf hin, dass dieser Mord nur der erste in einer Reihe von äußerst blutigen Taten ist und mit einer anderen Serie von Verbrechen zu tun hat, die Sneijder vor Jahren aufgeklärt hat. Damals brachte Sneijder den ebenso intelligenten wie grausamen Serienmörder Piet von Loon nach einer mörderischen Hetzjagd hinter Gitter..
Van Loon sitzt jetzt in einer Haftanstalt auf einer kleinen Felseninsel in der Flensburger Förde ein. Dort soll die junge Psychologin Hannah eine Theatergruppe leiten, der auch Piet van Loon angehört. Zwischen den beiden beginnt ein intensives Katz- und Mausspiel, das die aktuellen Ermittlungen beeinflusst.
Dort folgen Sneijder und Sabine inzwischen der blutigen Spur des Mörders. Doch um den Täter endgültig zu überführen, fehlt ein letztes Puzzleteil – und das scheint irgendwo in Maarten S.Sneijders Vergangenheit verborgen zu sein.
542 Seiten lang zog mich dieser Thriller in seinen Bann. Die Nacht wurde durchgelesen und mit dicken Augen und einer kräftigen Tasse Kaffee versorgt, kann ich nun beschreiben, warum mich dieses Buch so fesselte. Die Handlung wird im Klappentext bereits gut dargelegt.
Eine Frauenleiche ruft den Profiler Maarten S.Sneijder auf den Plan, der mit seiner Kollegin Sabine Nemez den Fall bearbeitet. Weitere Morde folgen.
Die Krimihandlung, beginnend ca. 2 Jahre nach „Todesurteil“ ist in 7 Teile unterteilt und spielt an verschiedenen Orten. Im Prolog wird kurz auf eine 5 Jahre zurückliegende Situation eingegangen, im Epilog auf…. Dazu später mehr.
Erzählt wird die Handlung vorwiegend aus der Sicht der jungen Psychologin Hannah Norland und der, inzwischen forensischen Fallanalytikerin, Sabine Nemez. Etliche Nebenfiguren erweitern die Handlung. Das i-Tüpfelchen der Charaktere ist und bleibt Maarten S.Sneijder. Ein sehr spezieller Charakter, der unter Cluster Kopfschmerzen leidet und diese ungewöhnlich bekämpft.
In Rückblenden wird Bezug auf Geschehnisse von vor 5 Jahren genommen. Doch dauert es sehr lange, bis der Leser auch nur ein wenig die Puzzlestücke zusammenfügen kann. Nahezu 250 Seiten bleibt er unwissend und erhält die Erkenntnisse nur in kleinen Dosierungen.
Irgendwann wurde auch mir klar, dass es um einen Fall geht, in dem Sneijder privat involviert ist. Nicht nur, weil er damals den Serienkiller fasste, dessen Morde nun nachgeahmt werden. Oder die r sogar selbst begeht? Doch wie, wenn er auf einer kleinen Felseninsel in Haft ist?
Mehr kann kaum beschrieben werden, ohne zu viel von der Handlung zu verraten. Wäre ich eine Amerikanerin, würde ich sagen: Ein Pageturner durch und durch. Da ich es nicht bin, kann ich nur sagen. Ein sehr sehr spannender Thriller, der mich dazu brachte, die Nacht durch zu lesen. Begeistert von der Handlung und der Figur des Maarten S.Sneijder war es logisch das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen.
Am Ende dachte ich: Puh, welch ein Ende. Doch dann, dann kam der Epilog. Der führte bei mir zu einer kurzen Schnappatmung und zu einem: „Verflucht, Andreas Gruber, warum machst Du das mit mir? Mit Deinen Lesern?“
Fast war ich dem Autor ein wenig böse.
Dann las ich die Danksagung und nun bin ich irre gespannt auf das nächste Buch mit Maarten S.Sneijder.
Nein, ich verrate nichts über den Epilog oder die Danksagung.
Nur über den Thriller: Ein Thriller mit Nägel-Abbeißgarantie.