Eric Wrede: The End – Das Buch vom Tod

Klappentext:
Der Tod. Er erwischt uns irgendwann alle. Aber wer weiß, wie das geht? Sterben, beerdigen und trauern. Erklärt hat es uns niemand. Im schlimmsten Fall treten die Kirche und die Bestattungsbranche als Gralshüter einer „Kultur“ auf, die vor allem ihnen selbst nützt. Eric Wrede war Musikmanager und wurde Bestatter. Er will etwas ändern an der gängigen Trauerkultur. Er begleitet Menschen auf ihrem letzten Weg frei von Konventionen. In seinem Buch zeigt er anhand vieler Beispiele aus der Praxis, wie die Alternative aussehen kann.
»Wenn man einen Tag mit Eric Wrede verbringt (…), verliert der Tod einiges an Schrecken.« ― Johanna Adorján, Süddeutsche Zeitung

Nach dem Lesen des Buches kann ich mich der Stimme der Kritikerin anschließen, dennoch verliert der Tod nicht alles an Schrecken. Insbesondere, wenn er im Krankenhaus erfolgt. Einiges ahnte ich, einige Details wurden gut beschrieben.
Dank dem Autor ist mir nun bekannt, dass eine Aufbahrung und Abschied zu Hause noch möglich sind.

Sterben, beerdigen und trauern sind die Themen des Buches, denen in verschiedenen Kapiteln nachgegangen wird. Dies geschieht in einem erfrischendem Erzählstil, der dazu ermutigt sich bereits früh mit den Themen auseinanderzusetzen. Weiterlesen

Der 9. Mai im Jahr 2025 – zum fünften Mal ohne Dich

Es ist Freitag und wieder gibt es Deinen Geburtstag ohne Dich. Zum fünften Mal. Manchmal ging er einher mit dem Muttertag, in diesem Jahr würdest Du beide Tage separat begehen können. 74 Jahre wärst Du nun. Manch einer würde sagen: „Das ist doch noch kein Alter.“ Es wurde bereits so gesagt, als Du mit 69 Jahren gestorben bist. Du, Dein Körper, wollten, konnten nicht mehr.

Erst letzte Woche habe ich den kleinen Brief auf dem Laptop gefunden, den ich Deinem Paket im Juni 2020 beigelegt hatte. Du konntest meine Schrift nicht mehr so gut lesen.
Diese Dinge aus dem „Off“, Songs, die Du gerne gehört hast und verdammt noch mal sogar Dinge, die Du gerne gegessen hast (ich erwähnte bereits, dass  im Supermarkt oder auf dem Wochenmarkt oder ähnlichen Gelegenheiten die Tränen durch die Erinnerungen hochkommen) erinnern an Dich.
Du würdest jetzt über mich lachen.

War Dir jemals bewusst, wie oft „You are the one, that I want“ im Radio gespielt wird? Gefühlt täglich.

Rückwirkend bin ich froh, dass Du unbedingt noch einmal mit mir telefonieren wolltest. Ich hätte Dich weiterschlafen lassen. Du warst lieb, klar – solche Telefonate führten wir nicht mehr so häufig.

Du hast weiterhin Deine kleine Ecke in meiner Wohnung. Mit einem Buddha, Kerze und immer frischen Blumen. Manchmal einem Gesteck. Ja, manchmal spreche ich mit dem Foto oder erwische dabei die Kerze. Erzähle von Dingen, die mich beschäftigen, was ich erlebt habe. Es gibt keine Antwort. Allerdings auch keine Widerrede. Gut, ich bin ehrlich, manchmal kommen auch Dinge zur Sprache, die ich Dir lieber Face to face gesagt hätte. Zuletzt im Rahmen von Biographiearbeit.

Ja, es gibt die Momente, in denen ich denke, ach, das möchte ich Mama zeigen. Das würde ihr gefallen. Oder Dich zu einer Veranstaltung mitnehmen. Keine Angst, der Besuch eines STOPPOK Konzerts würde nicht darunterfallen.

Diese gemeinsamen Momente wird es nicht mehr geben.

Wo immer Du bist, ich wünsche Dir dort eine schöne, schmerzfreie Zeit.

Miss you.

Deine Tochter.

„Alles hat seine Zeit. 
Es gibt eine Zeit der Freude, des Glücks, 
eine Zeit beisammen zu sein, eine Zeit sich zu trennen. 
Eine Zeit der Stille,
eine Zeit des Schmerzes,
der Trauer,
eine Zeit der dankbaren Erinnerung.“

P.S.: Wurde ein Gänseblümchen bei Dir abgelegt, so besuchte Dich Deine jüngste Tochter.

Weihnachten in der Fremde – Rudolf

Es war noch nicht so lange her, da ging er aus dem Haus, um sich Zigaretten zu holen. Die Tage zuvor schimpfte sie noch mit ihm, weil er im Alter diesem Laster wieder neu frönen musste.
Im Sandkasten lernten sie sich damals kennen, in den Kriegstagen wuchsen sie auf und verloren sich nie aus den Augen.
Nun, mit über 80 Jahren, nahm er manchmal ihr Gesicht in die Hände, schaute sie an und flüsterte zärtlich: „Was dem Helmut seine Loki, das bist Du für mich.“
Mehr als 60 Jahre waren sie miteinander verheiratet. Sie wünschten sich Kinder, doch die Natur hatte es nicht gewollt. Letztendlich waren sie sich beide genug. Sie sahen vieles von der Welt und ihr Haus war ein offenes Haus. Freunde hatten sie reichlich, sofern sie noch lebten.
Von dem letzten Zigarettengang kam er nicht zurück. „Herzinfarkt. Er wird keine Schmerzen gespürt haben.“ So erklärte man es ihr später.
Ihr Rudolf war nicht mehr bei ihr. Sie war nicht mehr seine Loki.

Ihre Sprache hatte sie in den vergangenen Wochen, schon vor dem Umzug in dieses schöne Seniorenstift, verloren. Das letzte Wort sagte sie bei seiner Beerdigung. Der Kopf so klar, ihre Gefühle so klar, doch der Mund weigerte sich einen Ton von sich zu geben.
Ihre Freunde besuchten sie gelegentlich, doch der ausgesprochene Trost erreichte sie nicht. Sie spürte, wie ihre Freunde mit ihrer Sprachlosigkeit nicht umgehen konnten.

Trauer kann so schmerzen. Sie möchte schreien und konnte wieder nur den Mund tonlos öffnen.

Sie ging zum Schallplattenspieler und legte den Tonträger auf die LP von „Mario Lanza“. Seit vielen Jahren hörten sie ihn gemeinsam an Heiligabend. Ein kleines Ritual, bevor die Geschenke ausgepackt wurden. Ja, auch nach allen gemeinsamen Jahren hatten sie immer noch Ideen für Geschenke, mit denen sie den anderen überraschten.

Beide waren gesundheitlich auf der Höhe. Es ziepte ein wenig hier und dort, aber  es reichte  immer noch, um auf dem Spielplatz in der Nähe eine Runde zu schaukeln und sich die Welt von oben anzuschauen. Keiner rechnete damit, vor dem anderen zu gehen.
Sie erinnerte sich noch gut an Ostern. Mit Rudolf besuchte sie das neue thailändische Restaurant. Das Curry mit der Erdnusssauce schmeckte ihr hervorragend. Bis sie vom Stuhl fiel und erst in der Notaufnahme aufwachte. „Lebensgefährlicher anaphylaktischer Schock.“ sagte ihr der Notarzt später. Dass sie noch einmal richtig Glück gehabt hätte. Seitdem führte sie immer ein Notfallset mit der Adrenalinspritze und den Medikamenten mit sich. Eines bewahrte sie in ihrer Handtasche, eines im Wohnzimmerschrank auf.

Heute Morgen nahm sie ihre beiden Notfallsets, legte sie auf den Boden und zertrat sie mit ihren Schuhen. Die zerstörten Reste lagen nun im Abfalleimer.
Sie setzte sich auf das alte, rote Sofa. Wie oft saß sie gemeinsam mit ihrem Rudolf darauf? Sie unterhielten sich, schauten einander an, tranken ihren Tee und waren sich selber genug.
Ein altes Sofa in einer Wohnung im Seniorenstift ergab kein neues zu Hause. Auch der frisch zubereitete Tee oder der Blick auf ihre Weihnachtsdekoration ergaben kein Gefühl von daheim sein. Das einzige Gefühl, welches sie spürte, war die Sehnsucht nach Rudolf.

Das hier war nicht ihr zu Hause. Nichts war ihr zu Hause ohne Rudolf.

Sie legte den Tonträger erneut auf, holte das kleine Pillendöschen aus der Handtasche und setzte sich wieder auf das Sofa. Mit geschlossenen Augen stellte sie sich vor neben Rudolf zu sitzen. Jetzt spürte ihre linke Hand seine Hand. Mit den Falten und den Altersflecken, die sie alle einzeln kannte. Ihr Zeigefinger erspürte seinen Ehering. Wie gerne würde sie diese Hand noch einmal an ihrem Gesicht spüren, wie gerne würde sie noch einmal seine Worte hören.
Sie saß dort weiterhin mit geschlossenen Augen und hörte Mario Lanza zu. Als das letzte Lied erklang, hielt sie fest Rudolfs Hand und öffnete mit der rechten Hand ihre kleine Pillendose.

Sie musste nicht hinein schauen, um zu wissen, dass die Erdnuss noch in ihr lag.

 

Foto:pixabay.com PICNIC-Foto

Slide 1

 

Slide 2