Andrew

Andrew war wütend. Während sich seine Boys aufwärmten, inspizierte er die Bühne. Es war doch immer dasselbe in diesen Dorfbuden. Die Deko der gestrigen Veranstaltung stand immer noch in der Ecke herum. Die Landfrauen, die gestern ihren jährlichen „Applecrumble Wettbewerb“ mit anschließender Siegerinnenehrung durchführten, hatten vergessen einen Teil der Deko weg zu packen.
Er verstand nicht so recht die Verbindung eines „Applecrumble“ zu einem Weihnachtskaktus. Wahrscheinlich verwendeten die Landfrauen die Deko, die der Fundus her gab und stopften die Bühne damit voll. Schnell schob er den riesigen Weihnachtskaktus hinter die Bühne und ging in die Garderobe zu den Boys. Die noch am Boden liegende Lichterkette nahm er sicherheitshalber mit.
7 waren sie an der Zahl. Der Zahn der Zeit nagte auch an ihnen. Die Knochen knirschten, die ersten Zähne waren bereits ausgetauscht. Mangels Zahnarztbesuchen zuvor, war deren Lebensdauer deutlich reduziert.
Als sich ihr Fußballteam damals auflöste, waren sie auf der Suche nach einem neuen Hobby. Mit 40 Jahren wurden im Dorf grundsätzlich alle Sportteams aufgelöst. Sie wollten die „alten“ Männer vor weiteren Sportunfällen schützen.
Die jetzigen Unfälle entstammten meist aus den Schlägereien im Pub. Ab einem bestimmten Alkoholpegel gehörte das automatisch dazu.

Die 7 taten sich zusammen und tourten mit ihrer Show durch die Grafschaft. Sie waren alle Singles und erhofften sich, durch die Show, die nächste Ehefrau zu finden. Nach 10 Jahren hatte keiner von ihnen eine Mrs. Right gefunden. Manchmal bekam einer von ihnen eine Frau für eine Nacht ab, wenn sie genug Vanillekipferl gegessen hatte. Verlassen konnte man sich darauf aber auch nicht mehr. Bei all´ den Lebensmittelallergien, wollte die eine nichts mit Vanillezucker essen, die andere nichts mit Gluten.
Andrew war das egal. Er war der Bäcker unter den Boys und bekam dafür etwas mehr Gage. Auf dem Weg zur Garderobe dachte er daran, dass er das nicht mehr lange mitmachen wollte.

Mrs. Right mit einem anständigen Gehalt musste her.
In der Garderobe betrachtete er seine Boys: Die „Silver Boys“. Wer von ihnen noch Haare auf dem Kopf hatte, verweigerte sich diese zu färben. Das gesparte Geld wurde lieber in ein Ale investiert.
Die Boys beendeten ihre Aufwärmübungen, Andrew verzichtete darauf. An ihm, in ihm knirschte alles. Was sollte er sich noch quälen.
Stattdessen ließ er die große Keksdose herum gehen. Manch einer trank sich im Pub die Frauen schön, seine Boys naschten sich ihr Publikum schön. Unter drei Vanillekipferl betrat keiner die Bühne, denn nicht nur die Frauen mussten durch den Verzehr in eine erotisierende Stimmung versetzt werden.
Andrew aß nur zwei Kipferl. Ab dem Verzehr des dritten lief seine Nasenspitze rot an, so dass er sich zurück halten musste.
Einer der Boys verließ die Garderobe und verteilte draußen im Saal die Vanillekipferl unter den Frauen. Er war einfach der beste unter ihnen, der sie zu dem Verzehr  überzeugen konnte. Gleich würde er zurückkommen und in seine geflickte Uniform schlüpfen.
Gemeinsam standen sie nun hinter dem Vorhang. Die Musik ertönte. Wie üblich begannen sie mit YMCA und sprangen auf die Bühne.
Ein Blick ins Publikum genügte Andrew um die Anzahl der Besucherinnen zu schätzen. Ihm war das egal. Sie hatten eine feste Gage ausgemacht.
Gleich beim ersten Takt klatschten die Frauen, nach dem ersten Song standen sie auf den Stühlen und grölten bei jeder kleinen Bewegung der Boys.
An Andrew perlte das alles ab. Seine künstliche Hüfte spielte heute nicht mit. Der Schmerz brannte innerlich so hell wie die Lichterkette, die er sich aus einer Laune heraus um den rasierten Kopf geschlungen hatte.
Dennoch nahm er den Blick der in pink gekleideten Frau aus der ersten Reihe war. Betrachtete er ihre Figur, so hatte sie mindestens den halben Inhalt der Keksdose genascht. Betrachtete er ihren Blick, so verfehlten die Kekse bei ihr nicht die Wirkung.

Sein Abend schien gerettet zu sein, dachte er noch, bevor sie alle ihr letztes Kleidungsstück, den rosafarbenen Slip mit Elefantenrüssel, fallen ließen und das Licht ausging.
Ob sie akzeptieren würde, dass er heute nur auf dem Rücken liegen konnte?

 

Schreibübung zu den folgenden, vorgegebenen, Wörtern:

Lichterkette
Nasenspitze
abperlen

Lebensdauer
künstlich

Weihnachtskaktus
erotisierend

Vanillekipferl

Jakob Arjouni: Idioten. Fünf Märchen

Klappentext:

Was, wenn einem eine Fee einen Wunsch gewährt? Einziger Haken: Die Klassiker, also Wünsche betreffend Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld und Liebe, sind ausgeschlossen. Außerdem hat, wie alles im Leben, auch die Wunscherfüllung zwei Seiten. Fünf moderne Märchen über Menschen, die sich lieber blind den Kopf einrennen, als einen Blick auf sich selber zu wagen Menschen also wie Sie und ich.
Fünf moderne Märchen über Menschen, die sich mehr in ihren Bildern vom Leben als im Leben aufhalten, die den unberechenbaren Folgen eines Erkenntnisgewinns die gewohnte Beschränktheit vorziehen, die sich lieber blind den Kopf einrennen, als einen Blick auf sich selber zu wagen – Menschen also wie Sie und ich. Davon erzählt Arjouni lustig, schnörkellos, melancholisch, klug.
Stellen Sie sich vor, zu Ihnen käme eine Fee und Sie hätten einen Wunsch frei, Keine Fee, wie man sie sich normalerweise vorstellt, eher eine trockene Sachbearbeiterin mit prallem Terminkalender und Überstunden. Sie würde Ihnen erklären, dass Wünsche in den Bereichen Unsterblichkeit, Geld und Liebe ausgeschlossen sind. Und sie würde darauf hinweisen, dass Wunscherfüllungen nicht immer genau das bewirken, was sich die Wünschenden vorstellen.

„Idioten. Fünf Märchen“ habe ich mir in 2003 gekauft und lese es seitdem immer wieder. Jetzt war es wieder einmal an der Zeit. In 2003 erschienen, ist es ein noch immer zeitloses Buch, in dem in fünf Geschichten erzählt wird, sich seine Wünsche sehr genau zu überlegen.
Die Fee, deren Chef sie vom Sternschnuppendienst in den Kreis der Feen beförderte, weist darauf hin, dass der materielle Wert den Wert einer Spülmaschine nicht übersteigen darf. Diese sogar auf Platz vier der Wünsche liegt. Platz eins wird vom Wunsch „berühmt zu sein“ belegt. Hier ließ der Chef sich die Talkshows einfallen. (Man bedenke, dass das Buch in 2003 erschien)
Wie erwähnt, die Wünsche wollen gut überlegt sein. Wie erzählt die Fee: „Oder neulich wollte jemand Fleisch für Nordkorea, und der Chef ist dann auf die Idee mit der BSE-Krise gekommen und dass die Europäer ihre kranken Rinder rüberschicken….“
Erzählt werden mal lustig, mal nachdenklich, mal hart die Geschichten hinter den Wünschen. Vom Vizechef einer Werbefirma, vom jungen Filmregisseur, von der Mutter, vom Groschenromanautor und einem erfolglosen Journalisten. 153 Seiten werden gefüllt, die man in einem Rutsch lesen kann – lässt man sich keine Zeit die Geschichten zu reflektieren.

Ich genieße es immer wieder dieses Buch zu lesen.

Leider verstarb Jakob Arjouni viel zu früh in 2013. Ich bin fest davon überzeugt, er hätte noch viele weitere gute Bücher geschrieben.

Martin Suter: Melody

Klappentext:
In einer Villa am Zürichberg wohnt Alt-Nationalrat Dr. Stotz, umgeben von Porträts einer jungen Frau. Melody war einst seine Verlobte, doch kurz vor der Hochzeit – vor über 40 Jahren – ist sie verschwunden. Bis heute kommt Stotz nicht darüber hinweg. Davon erzählt er dem jungen Tom Elmer, der seinen Nachlass ordnen soll. Nach und nach stellt sich Tom die Frage, ob sein Chef wirklich ist, wer er vorgibt zu sein. Zusammen mit Stotz` Großnichte Laura beginnt er Nachforschungen zu betreiben, die an ferne Orte führen – und in eine Vergangenheit, wo Wahrheit und Fiktion nche beieinanderliegen.

Man kann sich ein Buch noch so gut einteilen, irgendwann hat man es gelesen. In diesem Fall mit viel Genuss, denn schreiben kann Martin Suter.

Wie bereits häufiger geschehen, nimmt er sich auch in diesem Buch die Welt der Reichen vor. Dieses Mal in Form des Multimillionärs Dr. Peter Stotz, der nicht nur eine Karriere im Militär, sondern auch in der Politik, der Wirtschaft, als Mäzen uvm. hinter sich hat. Todkrank möchte er nun seinen Nachlass durch den jungen Juristen Tom ordnen lassen. Bei gemeinsamen Kamingesprächen in der Villa erzählt er Tom von seiner großen Liebe Melody, die vor über 40 Jahren – kurz vor der Hochzeit – verschwunden ist. Seitdem sucht er sie, die in der Villa immer noch durch Portraits, Altare und dem Lesezimmer präsent ist.
Die 329 Seiten lesen sich durch den schnörkellosen Schreibstil schnell. Die Rückblenden in die Vergangenheit machen neugierig darauf, ob es eine Erklärung für das Verschwinden von Melody gibt.
Leider stockt die Handlung zwischendurch etwas und durch ein paar Seiten musste ich mich tatsächlich durchquälen. Dies geht schnell vorbei und es geht umso packender weiter.
Eigentlich war es nicht Toms Aufgabe nach Melody zu suchen. Doch letztendlich ist es das, was ihn beschäftigt. Seine Aufgabe war es die „Wahrheit zu finden“.
„Hat sich die Fiktion geändert, weil sich die Wahrheit geändert hat?“

Bis auf wenige Seiten war es mal wieder Lesegenuss pur.

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