Kolumne: Manisch-Depressiv: Ich bin meiner Erkrankung (inzwischen) dankbar Teil 2

Dieser Meinung war er auch und überwies mich an eine Psychiaterin.
An dem besagten ersten Arbeitstag telefonierte ich mit einer Freundin zu der ich fuhr. Sie telefonierte mit dem Hausarzt, er mit der Psychiaterin.  Am nächsten Morgen ging ich zu ihr hin und sie gab mir eine Einweisung für die Psychiatrie.
Sehr gut kann ich mich daran erinnern, wie ich die Psychiatrie stundenlang zu Fuß suchte, endlich fand und in irgendeinem Zimmer ein Gespräch hatte. Ein langes Gespräch. An die gestellten Fragen kann ich mich nicht erinnern. Nur an die Aussage, dass ich bitte aufhören solle zu sagen: „Das ist normal; da muss ich durch,“ wenn es um schlimmer Erlebnisse ging.
Irgendwann wurde mir angeboten die Station anschauen. Wie unbedarft war ich. Durch die Aussagen meiner Freundin dachte ich, ich komme in eine Art Kurklinik. Denkste: Die Tür der Station ging zu und ich konnte sie nicht mehr von innen öffnen Dazu waren die Fenster vergittert. Da dämmerte es mir: Ich bin in der Klapse!
Trotzdem behielt ich meine große Klappe: Meinte noch: „Danke für´s zeigen, aber in ein 3-Bett Zimmer gehe ich nicht, außerdem muss ich zur Arbeit und ich würde ich ein paar Tagen wiederkommen.“ Dieser lange, große Pfleger machte mir daraufhin sehr lange klar, dass es nicht mehr gehen würde. Letztendlich durfte ich in Begleitung kurz nach Hause, Koffer packen und von daheim eine Email an den Arbeitgeber schicken.
Knappe 2 Monate hielt ich mich dort auf. Die Diagnose wurde gestellt und rückwirkend ist mir die sehr gute Betreuung bewusst. Täglich gab es mehrere Gespräche mit der Psychologin und mit dem klinischen Direktor: Irgendwie war ich für sie spannend. Im ersten Moment war mir die Diagnose egal. Ich erkannte die Dimension dahinter noch nicht. Mir ging es ausschließlich darum den Suizid verhindern zu lassen. Heute weiss ich, dass er ein Symptom der schweren Depression war und kein Dauergedanke. Damals wollte ich nur gezwungen werden weiterzuleben. Später begriff ich, was die Diagnose bedeutet, welche Einschränkungen sie für mein weiteres Leben bedeutet und ich büchste aus, um den letzten Schritt zu machen. Ich fand mich auf der geschlossenen Station wieder und kämpfte mit mir. Es war die Hölle, denn nun wollte ich nicht mehr dort bleiben. Irgendwann akzeptierte ich es und nach den knapp zwei Monaten war ich über den Aufenthalt froh. Ansonsten wäre irgendwann im Januar 2005 von mir der Plan umgesetzt worden. Heute für mich unvorstellbar, dass ich jemals so gedacht und geplant hatte.
Natürlich war der Aufenthalt nicht immer angenehm. Der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik mit Akutaufnahme kann nicht angenehm sein. Es gab einige fixierte, viele schreiende Menschen. Oder einen Sexualstraftäter, der mich immer angrabschte und gegen den ich nichts machen konnte. „Auch er ist auch krank“ musste ich mir sagen lassen. Privatsphäre war nicht vorhanden, die sanitären Zustände schlimm. An eine Situation kann ich mich noch gut erinnern: Eine junge Frau, mit Baskenmütze bekleidet, befragte den ganzen Tag und die ganze Nacht auf der Station Patienten. Ständig trug sie Notizen in ihr Klemmbrett ein. Einmal schaute sie mich an und meinte nur: „Fett kann man auch absaugen“. Ich weiß noch, wie ich in schallendes Gelächter ausbrach und mich nicht mehr so krank fühlte. Während ich auf das Medikament (Valproinsäure) eingestellt wurde, nahm ich 17kg zu. Zusätzlich zu meinem üblichen Übergewicht war das eine Menge.
Später erfuhr ich, dass sie Medizinstudentin war, eine manische Phase hatte und mit einem Medikament zwangsbehandelt wurde. Meiner kleinen Schwester erzählte ich von der Diagnose und wo ich mich befand. Ihre Telefonate drangen zu mir durch. Später besuchte mich mein Vater (der gute 500km entfernt wohnt) mit meiner Mutter. Das rechne ich ihm noch heute hoch an. Seine Unsicherheit konnte ich daran erkennen, dass er sich hinter seiner BILD Zeitung versteckte. Ist ja auch nicht leicht, wenn sich die eigene Tochter umbringen will und er davon durch meine Freundin erfährt.
Wir haben nie wirklich im Detail darüber gesprochen. Doch habe ich das Gefühl, dass er ein Gespür dafür bekommen hat, auch wenn nicht viele Worte darüber verloren werden. Natürlich über die inzwischen vorhandene Erwerbsunfähigkeit, aber nicht über die Erkrankung an sich.
Meine Mutter ist da ganz anders: Noch heute erwähnt sie, wie schlimm ich damals ausgeschaut habe. Hallo: Ich stand unter Tavor, wurde auf Valproinsäure eingestellt und wurde vor mir selber geschützt. Sie kann die Diagnose nicht verstehen: „Stelle Dich nicht so an“ sind gerne verwendete Sätze.
Dem Klinikaufenthalt schloss sich eine Rückfallprophylaxetherapie an. Was war ich ein schwieriger Fall! Als ich zum ersten Termin erschien drückte mein Körper folgendes aus: Hier bin ich, mache mich wieder heile, ich will wieder die alte sein. Und komme mir auch bloß nicht  mit der Aussage, ich soll beruflich kürzer treten. Mit 40 Stunden in der Woche lasse ich mich nicht abspeisen.
In der Rückfallprophylaxe geht es darum zu lernen, Anzeichen zu erkennen, bewusster zu leben um Rückfälle zu vermeiden. Um Manien vorzubeugen bedeutet es unter anderem konkret

  • Einen geregelten Schlafrhythmus zu haben (Schlafmangel führt gerne zu Manien)
  • Langstreckenflüge zu vermeiden
  • Flackernde Lichter (wie in Diskotheken)

Es geht darum, was kann ich machen, um die Arbeitskraft zu erhalten?
Für mich bedeutete es, irgendwann akzeptieren zu müssen, dass ich nicht über 40 Stunden arbeiten sollte, was im Vertrieb sehr schlecht machbar ist. In den Folgejahren war ich zwar vor Manien gefeit, allerdings nicht vor Depressionen. Inzwischen kann ich gut erkennen, wenn ich mich in einer leichten oder mittelschweren Depression befinde und kann aufpassen, dass es zu keiner Verschlimmerung kommt.
Nein, ich muss mich korrigieren. Im Jahr 2014 erwischte mich die schlimmste Depression seit 2004. Ihr war ein sehr anstrengendes Jahr voraus gegangen und so sehr ich auch aufpasste, es erwischte mich schier über Nacht.
Soll ich froh sein, dass ich fast 10 Jahre davor gefeit war? Gefeit vor dieser Schwere? Ja, heute sehe ich es so. In der Phase war ich, wenn ich überhaupt über ein Gefühl verfügte, wütend darüber, dass ich erkrankte. Wütend über das letzte (nicht das aktuelle) Mietverhältnis, in dem auch mit Psychoterror seitens des Vermieters agiert wurde. Komischerweise funktionierte ich in dieser schlimmen Phase, um dann Monate später  zusammen zu klappen.
Solche Selbstvorwürfe mache ich mir dann. Statt mir zu sagen: Hey, schaue, was Du alles Positives geleistet hast.
Manchmal, aber auch nur manchmal, wünsche ich mir in unbedachten Momenten, eine klitzekleine Manie. Eine Hypomanie für wenige Stunden. Mich einfach wieder ein wenig überdreht und kraftvoll zu fühlen. Die Manie ist aber die Phase, die mich am meisten ängstigt. Bei mir schlägt sie besonders damit zu, dass ich überhaupt kein Gefühl für Gefahr habe oder mich bewusst und provokativ in diese begebe.
Mit Medikamenten ist sie schnell behoben. Sollte ich nicht einsichtig sein, würde ein kurzer Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie folgen. Nach der medikamentösen Einstellung auch die Entlassung. Die medikamentöse Behandlung schlägt schneller an als bei einer Depression.
Wie kann ich nach diesen Zeilen schreiben, dass ich dieser Erkrankung inzwischen dankbar bin? Es gibt sicherlich Betroffene und Angehörige, die mir für diese Aussage den Kopf abreißen würden!
Ich bin ihr dankbar, weil ich mich von sehr vielen oberflächlichen Menschen getrennt habe.
Ein großer Bekanntenkreis ist mir nicht wichtig. Wichtig sind mir Freunde, die auch Freunde sind.
Durch den Befehl, die spätere Akzeptanz, dass ich nicht mehr als 40 Stunden die Woche arbeiten soll und kann, lernte ich, dass Arbeit nicht alles ist. Bis dahin identifizierte ich mich über Leistung und über Erfolg. Als das weg fiel, musste ich mich auf andere Dinge konzentrieren, bzw. diese suchen. So kam ich auf Reiki und werde dies auch wieder praktizieren, wenn ich eine neue Lehrerin gefunden habe.
Plötzlich hatte ich Freizeit, entdeckte neue Interessen, entdeckte mich. Entdeckte neue Ehrenämter. Sich mit sich selber auseinanderzusetzen kann anstrengend, mühsam, ermüdend sein. Aber auch produktiv.
Niemals hätte ich mich zuvor getraut zu schreiben. Ich muss mich korrigieren: Zu schreiben schon, aber nicht dies anderen zugänglich zu machen. Inzwischen weiß ich, dass ich damit Menschen erfreue.
Mein Umgang mit Menschen hat sich geändert. Ich lasse es zu emphatisch zu sein, lasse mich mehr auf zwischenmenschliche tiefe Bindungen ein.
Kurzum: Ich habe eine andere Lebensqualität erreicht. Lebe bewusster.
Seit 2012 Jahren beziehe ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente, darf und kann noch einige Stunden  arbeiten.
Dies geht natürlich mit sehr starken finanziellen Einschränkungen einher. Meine ehemaligen guten Gehälter werde ich nicht mehr erreichen. Die angestrebte Rentenhöhe ist Schnee von gestern. Natürlich erschreckt mich der regelmäßige Gedanke daran. Es sind existentielle Gedanken. Ich habe bedeutend weniger Einkommen gegen eine andere Form von Lebensqualität eingetauscht. Eine Lebensqualität, in der ich nicht mehr so belastbar bin wie früher. Das bin ich wirklich nicht. Eine Lebensqualität, die mir in meiner persönlichen Entwicklung und im zwischenmenschlichen Bereich zu mehr positiven Beziehungen verholfen hat.
Was bleibt ist die Zerrissenheit:
Darf es mir denn schlecht gehen? Darf ich sagen, dass ich abschmiere, die Stimmung geht und die Depression kommt? Auch heute kommen die Antworten: „Du hast doch gelernt, damit umzugehen. Wie kann Dir dann das jetzt noch passieren?“
„Stelle Dich nicht so an. Reiße Dich zusammen.“ „Dir geht es doch gut, warum passiert jetzt was, hast doch keinen Grund“. (Bevorzugt von meiner Mutter)
Dann fühle ich mich schuldig und in Zugzwang. Denke, dass ich überzeugen muss. Überzeugen zu müssen, wo es eigentlich nichts zu überzeugen gibt. Ich bin manisch-depressiv und ich kann nichts dafür. Über die Ursachen ist zu wenig bekannt (am Ende der Kolumne gibt es einige abschließende Infos dazu). Ob es einen genetischen Grund gibt, einen biologischen Grund, oder wie von manchen  gar vermutet als Folge eines Missbrauches, ich muss die Ursache nicht mehr suchen. Ich bin betroffen und habe es akzeptiert.
Gelegentlich verunsichert es mich, dass ich die Ursachen warum ich ruhiger geworden bin nicht kenne. Es macht mich auch traurig Liegt es an der Rückfallprophylaxe, in der ich lernte ein „gemäßigteres“ Leben zu führen? Liegt es an meinem Alter? Wehwehchen, Einsicht und Reife lassen einen früher spontanen Schritt nun in aller Konsequenz vorab überdenken. Oder liegt es an den Medikamenten? Macht mich die Valproinsäure ruhiger? Macht sie mich reifer? Dämpft sie mich? Nimmt SIE mir ein Teil meiner Persönlichkeit weg? So empfinde ich es manchmal: Wo ist das übermütige, verrückte Huhn geblieben? Was an mir ist ICH, wer bin ich, was ist die Krankheit Was ist an mir echt? Der Zustand der Vergangenheit oder der jetzige Zustand?
Soll ich das Medikament über einen längeren Zeitraum absetzen, um diesen Fragen auf den Grund gehen zu können? Kann ich dieses Risiko eingehen? Ist es das wert?
Oder kann ich endlich akzeptieren, dass das Wissen um meine Manische Depressive Erkrankung und ihre Behandlung mir nicht nur eine andere Lebensqualität ermöglicht hat (und dafür bin ich dankbar), sondern auch einen Teil von mir genommen hat?
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In Gesprächen wurde mir gesagt, dass durchschnittlich 15 bis 30% der Bipolar Erkrankten Suizid begehen. Der Durchschnitt der Erkrankten ist ab einem Alter von 55 Jahren arbeitsunfähig. 10 bis 15% der Erkrankten erleben mehr als 10 Episoden in ihrem Leben. Auch ich habe diese bereits locker geschafft.
In Deutschland soll es ca. 2 Mio. Menschen geben, die eine Bipolare Störung haben. Mir persönlich erscheint diese Zahl zu hoch, doch kann ich es wirklich nicht einschätzen.
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Fakten:
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störung e.V.
Postfach 800 130
21001 Hamburg
Dort oder über die Homepage kann auch ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung angefordert werden.
www.dgbs.de
Hier werden u.a. Informationen für Betroffene und  Angehörige gut aufbereitet zur Verfügung gestellt. Sehr interessant ist auch der Bereich: DGBS und kreativ.
Ursachen:
Genetische Faktoren:
Vererbung: Bei einem betroffenen Elternteil wird eine Vererbungswahrscheinlichkeit von 10 bis 20% eingeschätzt
Biologische Faktoren:
Bei Patienten mit Bipolaren Störungen sind Veränderungen im Neurotransmitterhaushalt
festgestellt worden. Neurotransmitter = chemische Botenstoffe. Diese sind an der Weiterleitung von Nervenimpulsen beteiligt. Bei Depressiven fand sich zB ein Mangel an Noradrenalin und Serotonin.
Mittlerweile geht man davon aus, dass nicht einzelne Veränderungen der Neurotransmitter, sondern eine Störung des Gleichgewichts dieser ursächlich ist.
(Quelle: Homepage: www.dgbs.de)
Liz Obert:
Gerne möchte ich noch auf Fotografin Liz Obert und ihr Projekt „Dualities“ hinweisen. Ein Projekt, das mich berührt.
https://www.lizobert.com/
Liz Obert ist Fotografin und führte als manisch depressiv Erkrankte jahrelang ein verstecktes Leben. Wie ich, hat sie eine Bipolare Störung II, sprich die manischen Episoden überwiegen. Jahrelang ließ sie sich in der Öffentlichkeit nichts anmerken. Erst zu Hause, gab sie sich wie sie ist.
In ihrer Fotoserie „Dualities“ zeigt sie die Zerrissenheit dieser Menschen. Ein auch mir so bekannter Zustand. Sie macht zwei Bilder: Das erste Porträt zeigt die Menschen in ihrer kranken Phase, das zweite Bild, wie sie gerne in der Öffentlichkeit gesehen werden möchten. Versehen mit Notizen der Erkrankten.
Eine sehr ausdrucksvolle Fotoserie, die mich berührt.
(Quelle: brigitte.de und lizobert.com)

Kolumne: Manisch-Depressiv: Ich bin meiner Erkrankung (inzwischen) dankbar Teil I

Wie soll ich beginnen? Mein Name ist xxxxxx, ich bin  xxxx Jahre alt und ich bin manisch-depressiv? Eine solche Vorstellung verbinde ich mit einer Gesprächsrunde bei den Anonymen Alkoholikern. Ob es dort wirklich so gehandhabt wird ist mir unbekannt. Ich nahm nie an einem solchen Treffen teil.
Ja, ich leide an einer Bipolaren Störung. Im Allgemeinen als  manisch depressiv bekannt. Und noch bekannter als „ Himmelhoch  jauchzend, zu Tode betrübt“. Stimmungsschwankungen, die ein geregeltes Leben erschweren.
Ja, ich bin eine von ihnen.
Wie kann ich einer Erkrankung dankbar sein, die

  • mich belastet hat?
  • immer noch belastet?
  • oft zerreißt?
  • meine Arbeitskraft brutal dezimiert hat?
  • mich stigmatisiert?
  • zu einer Medikamenteneinnahme führt, bei der mir die langfristigen Folgen unbekannt sind?
  • auf Unverständnis stößt?
  • die ich hätte vererben können?
  • die mich in sehr destruktive Phasen geführt hat?
  • die mich fast in den Suizid getrieben hat?

Nein, bis vor knapp 14 Jahren hätte ich nie gedacht, dass ich an einer psychischen Erkrankung leide. Anzeichen, die es gab, habe ich ignoriert. Ich war eine Frau, die immer dachte und handelte „Da muss ich durch“. Nie kam es mir in den Sinn nach Ursachen zu suchen, die dazu führten, dass ich so war wie ich war.
Nie hätte ich mein Verhalten auf der Abschlussfahrt der Oberstufe in Prag anders interpretiert „als gut drauf zu sein“. Oder extrem gut drauf zu sein. Noch gut kann ich mich an meine Verwunderung erinnern, als ich in Prag ständig von Männern angesprochen wurde, die mir eindeutige Angebote machten. In einem seiner nüchternen Momente bemerkte es mein Klassenlehrer und sprach mich darauf an. Ich konnte ihm keine Erklärung geben. Er schon: „Schaue Dir Deine Augen an und jeder sieht, was Du willst.“
Heute weiß ich, dass meine Augen in manischen Phasen nur so funkeln, eine Anziehungskraft haben, die mir nicht bewusst ist. Wenn das „Sparkling in the eyes“ wieder vorhanden ist, dann ist „die Kacke am Dampfen“, sprich ich befinde mich in einer manischen Phase.
Nicht nur meine Augen verraten es mir. Mein Verhalten ebenfalls. In Prag bin ich, nüchtern und mit Champagnerflaschen für meine Begleitung in den Armen, über die Hoteldächer geklettert. Keine Angst vor der Tiefe, stattdessen von einem Dach über das nächste gesprungen. Es macht mir viel Spaß. Leise war ich dabei auch nicht. Als es zu langweilig wurde, bin ich mit meiner Begleitung einfach durch das nächste Hotelfenster wieder abgestiegen.
In einer manischen Phase habe ich kein Gefühl für Gefahr. Bungee springen ohne Seil erscheint mir möglich. Tatsächlich wollte ich es in den 90er Jahren auf der Rhein-Knie-Brücke in Düsseldorf umsetzen. Wäre nicht eine Polizeistreife gekommen würde ich heute vermutlich nicht hier sitzen und schreiben. Stattdessen rannte ich davon und einen Tag später verlor die Idee auch schon ihren Reiz.
Ein anderes Symptom ist, dass ich in solchen Phasen einfach nicht müde werde. Ich kann mich erinnern, wie ich nach anstrengenden Doppelschichten in der Gastronomie sehr lange joggen ging. Joggte bis ich mich übergab. Müde wurde ich trotzdem nicht.
Ganze Nächte verbrachte ich an den Rheinwiesen und schaute stundenlang auf das Wasser. Im Gegensatz zu anderen Situationen beruhigte es mich nicht. Mit der fehlenden Müdigkeit geht eine Unruhe einher, die nicht zu steuern ist. Auf Bahnhöfen. Flughäfen, in Kneipen, am Rhein – dort verbrachte ich meine Nächte. Ich konnte nicht alleine sein, benötigte Menschen, Bewegung und Unruhe um mich herum.
Das waren die „stillen“ Momente.
Die „lauten“ waren die, in denen ich in den Kneipen/Clubs schnell Gesellschaft fand. Vermutlich nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechend, so bin ich in einer manischen Phase charismatisch. Mir entkommt Mann irgendwie nicht. Rock, tiefer Ausschnitt und das Ergebnis war stets identisch: Ein Hotelbett zu zweit in der Nähe der Kö. In dieser Phase geschieht es meist, ohne dass es geplant ist.
Darüber wird gerne vergessen, dass diese manischen Phasen äußerst anstrengend sind. Letzend blätterte ich in älteren Tagebucheinträgen aus den 90ern. Ich habe gespürt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Diese Unruhe, dieses nicht schlafen können, dieser Männerverschleiß, das Gedankenkarussell – ich wurde schier wahnsinnig. Gleichzeitig genoss ich die Energie die ich hatte. Paradox.
In einer dieser Phasen ging ich zu einer Ärztin und erklärte dass ich nicht schlafen kann. Beschrieb die schlaflosen Nächte am Rhein. Sie nahm mich an die Hand und führte mich zur Praxis nebenan, die ihr Mann leitete. Er war Psychologe. Natürlich betrat ich seine Praxis nicht. Ihre Praxis ebenfalls nicht mehr.
Mir kam nicht ansatzweise in den Sinn, dass an meinem Verhalten etwas nicht „normal“ war. Ich war halt ein wenig überdreht. Auch als ich mit meinem Auto in der Düsseldorfer Altstadt eine Kreuzung blockierte, das Radio aufdrehte, die Songs (mit einer Coladose in der Hand) laut mitsang und auf dem Auto stand: Ich fand das nicht schlimm. Ich war gut drauf.
Die gerufene Polizei sah das nicht so. Da ich stocknüchtern war, verweigerte ich mich dem Drogen – und Alkoholtest. Ich kann nur eines sagen: Verweigert Euch keiner Blutprobe. Der Arzt mag das gar nicht. Der Piks schmerzt umso mehr. Daran kann ich mich noch erinnern. An das Theater auf der Wache, weil ich mich nicht piksen lassen wollte.
Letztendlich war es ein teurer Spaß. Spaß in Anführungszeichen geschrieben. Ich verschwendete für mich weiterhin kein Gedanke daran, dass dieses Verhalten so nicht der Norm entspricht.
Diese Phase besteht in der Erinnerung aus langen Nächten, Besuchen in der Nobeldisco, vielen schönen abgeschleppten Männern, im großen Bekanntenkreis im Mittelpunkt stehend und tollen lockeren Momenten.
Solche Phasen wiederholten sich im Laufe der Jahre. Phasen in denen ich viel Geld ausgab. Geld, welches ich hatte oder auch nicht hatte. Unterbrochen von Depressionen. Die erkannte ich überhaupt nicht. Für mich war es normal  viel zu arbeiten. Freie Tage oder Urlaub verbrachte ich ausschließlich mit schlafen. Heute weiß ich, es handelte  sich hier um depressives schlafen.
Als ich in Irland lebte, war ich von solchen Phasen ebenfalls nicht gefeit. Allerdings empfinde ich sie rückblickend als nicht so ausgeprägt und auszehrend.
Dann, dann kam der Dezember 2004. Ich hatte Urlaub, den ich ausschließlich im Bett verbrachte. Keine Energie für nichts. Der Haushalt wurde nicht mehr gerichtet, ich nicht mehr gerichtet. Locker schaffte ich es zwei Tage am Stück im Bett zu bleiben. Wenn die Blase schier platzte stand ich kurz auf. Ernährte mich von Schokolade und Mandarinen. Wenn letztere aus waren, ging ich kurz in den Supermarkt gegenüber, kaufte neue und legte mich wieder ins Bett. Vom vielen liegen plagten mich schlimme Rückenschmerzen. Egal. Ich konnte nicht mehr aufstehen. Der Urlaub war vorbei, ich musste wieder zur Arbeit und sagte dort: Ich bin krank, muss nach Hause.
Kurz vor dem Urlaub war ich beim Hausarzt und erzählte ihm, dass ich für Januar meinen Suizid planen würde. Gesund wäre diese Planung nicht?
Man muss es sich vorstellen: Ich will mich umbringen, plane und gehe dann zum Arzt und erzähle es ihm. Viele Schutzengel müssen über mich gewacht haben!

Fortsetzung folgt

„Read what I see“: Sommermomente

Mit viel Glück hatte ich einen Platz auf der Terrasse unter einem Schirm ergattert. Es ist früh am Morgen, doch die Sonne brennt bereits unbarmherzig und heizt die Stadt in kürzester Zeit auf. Das warme Wetter beherrscht die Gesprächsthemen im Freundeskreis sowie in der Tagespresse. Vergessen werden die Tage im Juli, die meist weit unterhalb der 30 Grad Marke lagen. Wahrgenommen werden die aktuellen heißen Tage oberhalb dieser Grenze.
Mein Latte Macchiato schmeckt mir trotz der Hitze. Abwechselnd trinke ich einen Schluck davon, gefolgt von einem Schluck Eiswasser, während ich in einem Buch lese. Eine Wespe verirrt sich in meinem Latte und träge beobachte ich, wie sie sich aus dem Glas heraus hangelt, um im nächsten Moment wieder darin zu versinken. Mit dem Strohhalm könnte ich an ihr vorbei einen Schluck trinken. Doch befürchte ich sie ungewollt mit aufzusaugen und von ihr gestochen zu werden. Gerne verzichte ich auf diese Erfahrung.
Durch ein Gespräch lasse ich mich ablenken. Eine Frau unterhält sich mit ihrem Freund. Ihre schlanken Beine stecken in recht kurzen Hosen. Ihr scheint es sehr warm zu sein. Mit einem Fächer fächelt sie sich Luft zu, während ihr Freund ihr etwas Schweiß aus dem Gesicht wischt. Auch ihre Arme sind mit einem Schweißfilm bedeckt. Als sie aufsteht, höre ich erst ein schmatzendes und dann ein lautes Geräusch. Anscheinend haben auch ihre Beine geschwitzt, denn ihr Po und die Beine kleben beim Aufstehen am Stuhl fest, der mit lautem Gepolter zu Boden fällt. Es scheint, als schaut das ganze Café gerade in diesem Moment von Büchern, Zeitungen und aus Gesprächen auf. Auf ihren Po und auf ihre Beine, die tiefe Druckspuren des Stuhls auf sich tragen.
In meiner langen Leinenhose fühle ich mich recht luftig bekleidet und vor solch einem Malheur geschützt. Weiterlesen

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben

Klappentext:
Als Andreas Egger in das Tal kommt, in dem er sein Leben verbringen wird, ist er vier Jahre alt, ungefähr – so genau weiß das keiner. Er wächst zu einem gestandenen Hilfsknecht heran und schließt sich als junger Mann einem Arbeitstrupp an, der eine der ersten Bergbahnen baut und mit der Elektrizität auch das Licht und den Lärm in das Tal bringt. Dann kommt der Tag, an dem Egger zum ersten Mal vor Marie steht, der Liebe seines Lebens, die er jedoch wieder verlieren wird. Erst viele Jahre später, als Egger seinen letzten Weg antritt, ist sie noch einmal bei ihm. Und er, über den die Zeit längst hinweggegangen ist, blickt mit Staunen auf die Jahre, die hinter ihm liegen. Eine einfache und tief bewegende Geschichte.

Das Buch startet mit einer recht harten Episode in der erzählt wird, wie Andreas Egger den kranken Ziegenhirten Hörnerhannes ins Tal trägt, dieser ihm von der Trage springt, in den Schnee rennt, um dem Tod von der Schippe zu springen und nicht mehr gesehen wird.
Tief bewegt habe ich das Buch nach dem Lesen in den Händen gehalten. Über 146 Seiten wird in einer einfachen Geschichte das Leben des Andreas Egger beschrieben.
Einer Geschichte die gut dazu geeignet wäre, im Kitsch zu ersticken. Das wird geschickt, mit einer Ausnahme, umschifft.
Andreas Egger kommt im Alter von 4 Jahren zu seinem Onkel in ein Bergdorf. Nicht geliebt, verprügelt, entwickelt er sich zu einem großen Hilfsknecht, der als Handlanger und dann in einem Arbeitstrupp arbeitet. Er erlebt mit, wie die Elektrizität ins Dorf kommt und verliebt sich in Marie, der Liebe seines Lebens. Unbeholfen nähert er sich ihr an. Als Mann der wenigen Worte findet er dennoch den Zugang zu ihr, heiratet sie. Leider stirbt sie recht früh.
Sein Leben geht weiter. Nach dem 2. Weltkrieg befindet er sich lange in russischer Gefangenschaft und verliert auch darüber wenige Worte. Er kommt in sein Bergdorf zurück, arbeitet wieder als Handlanger, später als Bergführer.
Darüber vergehen die Jahre. Seine Marie vergisst er nie. Dennoch hadert er nie mit seinem Schicksal. Er nimmt das Leben an.
Warum mich das Buch so berührt? Sicherlich in der Geschichte begründet. Mit wenigen Worten werden hier die Tiefen des menschlichen Lebens beschrieben, mit gelegentlichen Weisheiten, die aber nicht so plump a` la Paulo Coelho verwendet werden.

Die Sprache, die in ihrer Einfachheit in die Tiefe geht, bewirkten bei mir beim Lesen ein ständiges innehalten, ein erneutes Lesen der Seiten davor. Genuss pur.
Ich kann nicht anders, als nach dem Lesen des Buches zu seufzen: Ach, ist das schön!
Ich kann nicht anders, als berührt zu sein.
Berührt über die Geschichte des Menschen, der nie aus seinem Dorf herauskam, mit Ausnahme des 2. Weltkrieg und dem einmaligen Moment, als er den Dorfbus nutzte. (einzige kitschige Szene).
Berührt darüber, dass Andreas Egger trotzdem auf ein glückliches Leben zurückblickt von dem er sagt: „Er hatte länger durchgehalten, als er es je selbst für möglich gehalten hätte.“

Lana Lux: Kukolka

Klappentext:
Ukraine, 90er Jahre. Große Party der Freiheit. Manche tanzen und fressen oben auf dem Trümmerhaufen der Sowjetunion, andere versuchen noch, ihn zu erklimmen. Auch Samira. Mit sieben Jahren macht sie sich auf die Suche nach Freiheit und Wohlstand. Während teure Autos die Straßen schmücken, lebt Samira mit ein paar anderen Kids in einem Haus, wo es keinen Strom, kein warmes Wasser und kein Klo gibt. Aber es geht ihr bestens. Sie hat ein eigenes Sofa zum Schlafen und eine fast erwachsene Freundin, die ihr alles beibringt. Außerdem hat sie einen Job, und den macht sie gut: betteln. Niemand kann diesem schönen Kind widerstehen, auch Rocky nicht. Er nennt sie Kukolka, Püppchen. Wenn Kukolka ihn lange genug massiert, gibt er ihr sogar Schokolade. Alles scheint perfekt zu sein. Doch Samira hält an ihrem Traum von Deutschland fest. Und ihr Traum wird in Erfüllung gehen, komme, was wolle.
Lana Lux hat einen gnadenlos realistischen Roman über Ausbeutung, Gewalt und Schikane geschrieben, über ein Leben am Rande der Gesellschaft, geführt von einer Heldin, die trotz allem schillernder nicht sein könnte.

Über 375 Seiten beeindruckt dieser Debütroman, der die Geschichte von Samira erzählt. Semira ist sieben Jahre auf und wächst ein einem Waisenhaus auf. Das Leben dort ist hart. Da sie nichts anderes kennt, hat es akzeptiert. Sie hält sich an die Regeln, im Gegensatz zu ihrer Freundin Marina. und bunkert Brotrinden unter ihrer Bettdecke.
Die Waisenkinder träumen davon adoptiert zu werden. Ihre Freundin Marina schafft es und verspricht Samira nach Deutschland nachzuholen.
Dies geschieht nicht, so dass Samira sich auf den Weg nach Deutschland macht. Schon am Bahnhof scheitert sie, wird von einem „netten Rocky“ aufgegriffen und lebt mit anderen Kindern in einem schäbigen Haus. Von nun an bettelt sie. Obwohl das Haus mehr als schäbig ist, ist Samira glücklich. Sie hat ein eigenes Sofa und eine ältere Freundin. Tatsächlich stumpft sie hier bereits ab. Rocky nennt sie Kukolka „Püppchen“, die aufgrund ihres Äußeren von vielen als niedlich betrachtet wird.
Die Charles Dickens Atmosphäre hält nicht sehr lange an. Kukolka träumt weiter davon nach Deutschland zu kommen.
Von dem schäbigen Haus geht es weiter zu Dima, der letztendlich mit ihr nach Berlin geht. Er richtet sie zur Prostituierte ab und nun beginnt Kukolkas Weg als Prostituierte. Durch Menschenhändler wird sie weiter gereicht. Mit 13 Jahren hat sie bereits mehrere Freier täglich, ihr 14. Lebensjahr verbringt sie bernebelt durch Tabletten.
Die generierten Bilder sind für den Leser heftig. Auch einzelne Sätze beeindrucken und machen fassungslos: „Ich wurde so ein bisschen wie unsere Waschmaschine. Ganz viele Programme, alle laufen automatisch ab.“
Das muss man aushalten können. Trotzdem konnte ich nicht aufhören zu lesen. Die Nüchternheit mit der die Geschichte erzählt wird, trägt dazu bei. Man hofft stets, dass die Raserei auf den Abgrund gestoppt wird. Dass die verzweifelte Suche nach Liebe erfüllt wird.
Und dass es ein Happy End geben wird.

„Read what I see“: Ein Tag am See

Der Tag am See begann mit dem üblichen Aufbau der Luftmatratze, dem verteilen des Buches auf dieser und der Suche nach der Sonnenbrille. Ihr Revier unter einem schattigen Baum auf der leeren Wiese war markiert.
Noch leerer Wiese.
Bereits auf dem Parkplatz wunderte sie sich über die Anzahl der geparkten Autos. Das Publikum verlief sich auf dem Gelände um den See, so dass frühmorgens alles noch recht ruhig war.
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Ferdinand von Schirach: Strafe

Klappentext:
Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit? Wie wurden wir, wer wir sind?
Ferdinand von Schirach beschreibt in seinem neuen Buch „Strafe“ zwölf Schicksale. Wie schon in den beiden Bänden „Verbrechen“ und „Schuld“ zeigt er, wie schwer es ist, einem Menschen gerecht zu werden und wie voreilig unsere Begriffe von „gut“ und „böse“ oft sind.
Ferdinand von Schirach verurteilt nie. In ruhiger, distanzierter Gelassenheit und zugleich voller Empathie erzählt er von Einsamkeit und Fremdheit, von dem Streben nach Glück und dem Scheitern. Seine Geschichten sind Erzählungen über uns selbst.
 

Beim Öffnen des Buches fiel mir gleich die Schriftgröße auf. Auch ein Leser mit wenig Sehkraft wird diese Geschichten, Dank der großen Schrift, lesen können. Durch die Schriftgröße und den vielen eingeschobenen Absätze erhielt ich schnell den Eindruck, dass dieses Buch mit seinen wenigen 189 Seiten künstlich gestreckt wurde. Soll vermieden werden, dass dem Leser sehr schnell auffällt, dass für den Kaufpreis von 18€ recht wenig Inhalt geliefert wird? Diese Frage beantworte ich mit ja.
Die Geschichten habe ich in einer Nacht weg gelesen. Ich mag den Schreibstil. Die Erzählperspektive und die kurz gehaltenen Sätze. Doch mehr auch nicht. Nachdem ich „Schuld“ und „Verbrechen“ gelesen hatte, war ich bereits von den Romanen enttäuscht. Nun las ich die erste Geschichte und dachte, nachdem ich sie gelesen hatte: Das war es nun? Ich hielt diese für einen Ausrutscher in dem Buch und begann die nächste. Das Ergebnis änderte sich nicht. Das Buch wurde von mir nur deshalb in einer Nacht gelesen, weil ich die Hoffnung hatte, gleich kommt eine Geschichte, die so gut ist, wie in den anderen Büchern. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. In den Geschichten wird viel über Einsamkeit geschrieben und es geschieht auch der eine oder andere Mord. Darüber wird mit einer Nonchalance geschrieben, die mich ein wenig an Ingrid Noll erinnert. Insgesamt wirken die Geschichten, insbesondere „Tennis“ als unausgegoren, lieblos und nicht ausgereift.
Ich kann mich einfach des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Geschichten nur veröffentlicht worden, um etwas zu veröffentlichen. Wäre ein anderer Schrifttyp verwendet worden, würde dieses Buch keine 150 Seiten umfassen. In Zusammenhang mit dem o.g. Preis eine Unverschämtheit.

„Read what I see:“ K-Ä-W-I-N oder Im Freibad

Der Sonntagmorgen im Freibad begann leise und unaufgeregt. Die Schwimmer und Schwimmerinnen grüßten sich noch, wenn sie aus dem Schwimmerbecken stiegen oder man sich unter den Duschen begegnete.
Langsam füllte sich das Freibad mit Freizeitschwimmern, Sonnenanbetern und mit Kevin, Louis und Leo. Diese Jungen waren mir zuvor unbekannt, im Laufe des Tages kannte ich mindestens die lauten Rufe ihrer Mütter. Louis Mutter setzte sich so auf eine Holzbank, dass sie sich mit dem Rücken an ein Gitter anlehnen konnte und verharrte für mehrere Stunden in dieser Stellung. Sie platschte dort und bewegte sich keinen Zentimeter, schrie gerne herum. Benötigte sie ein Papiertaschentuch, so ging es folgendermaßen. „Louis“ wurde lauthals gebrüllt „hol´mir ein Tempo.“ Hörte Louis nicht sofort, so schrie sie seinen Namen einmal, zweimal oder auch dreimal. Je nachdem aus welcher Ecke des Freibads er kam und der Weg zu ihr dementsprechend lang war. Dann griff er in die Badetasche und reichte ihr das gewünschte. Den Namen des zweiten Jungen erfuhren die Badegäste nicht, da sie nie nach ihm rief. Durch ihr Geschrei wurde die Aufmerksamkeit vieler Badegäste auf sie gelenkt. Der eine nahm nur die schwarz lackierten Fußnägel wahr und fragte sich sicherlich, ob Louis ihr die auch hat lackieren müssen. Die Beine waren komplett mit dicken Krampfadern durchzogen, die Bräune kaschierte etwas die stark ausgeprägte Orangenhaut. Der Haarschnitt hatte bereits bessere Zeiten gesehen. Der Badeanzug ebenfalls. So saß und saß sie dort über Stunden. Wenn sie etwas benötigte, schrie sie nach Louis, der es ihr brachte. Als die beiden Jungs sie baten ein Eis kaufen zu dürfen, verneinte sie es. Nicht leise. Oh Mann, ihr schreien war schon ohrenbetäubend, doch ihre Kodderschnauze nicht weniger unangenehm anzuhören. Louis durfte eine Tüte mit Zwiebelringen aus einer Tasche holen. Die Durstmacher. So war es nicht verwunderlich, als die Jungs kurz darauf wiederkamen und um etwas zu trinken baten. Laut wurde es verneint und ich weiß nicht, wo sie ihren Durst stillen konnten. Als sie mit ihren beiden Jungs das Freibad verließ wurde es bedeutend ruhiger in der Ecke.
Bis Kevin kam. Ein kleiner, braun gebrannter Junge mit Hüftspeck über der Badehose. Im Alter von ca. 10 Jahren. Begleitet von einer Mutter, die in einem schwarzen Badekleid gekleidet war und deren dauergewelltes und blondiertes Haar vor zwanzig Jahren modern gewesen war. Der Vater trug ebenfalls schwarze Badekleidung und ähnelte seinem Sohn optisch sehr. Oder umgekehrt. Für mich war es eine Überraschung den Namen Kevin zu hören. Ich hatte wirklich gedacht, dass der Name unter den Kindern bis zehn Jahre ausgestorben wäre. Kevin nahm seine übergroße Wasserpistole, stellte sich auf die Kinderrutsche und machte sich ein Vergnügen daraus, kleine Kinder, die noch in Windeln herumliefen, ins Gesicht zu spritzen. Oder Kinder, die rutschen wollten, so lange zu bespritzen, bis sie weinend davonliefen. In wenigen Minuten wurde er der Herr über Rutsche und Sandkasten. Keine Kinder hielten sich dort mehr auf. Also bespritzte er größere Kinder, die sich hätten wehren können. Nun bemerkten auch seine Eltern, dass es für Kevin eng werden könnte.  „K-Ä-W-I-N“ schrie sein Vater. „Komm her.“ Das war Kevin egal. Er schaute seinen Vater an, der weiter an seiner Bierflasche nuckelte, und bewegte sich keinen Zentimeter. Als wüsste er, dass auch sein Vater sich nicht von der Stelle bewegen würde. Kevin ging zum Kinderschwimmbecken, füllte seine große Wasserpistole auf und nahm Jugendliche ins Visier. „K-Ä-Ä-Ä-W-I-N“ brachte schier mein Trommelfell zum Platzen. Nun brüllte auch die Mutter. Der Junge bewegte sich weiterhin nicht, seine Eltern ebenfalls nicht. Inzwischen sprachen Erwachsene Kevin an, doch er reagierte nur mit weiteren Stößen aus seiner Wasserpistole. Vermutlich konnte sich niemand der Anwesenden dafür entscheiden, ob sie den unerzogenen Kevin nervig fanden oder die brüllenden Eltern, die sich keinen Zentimeter von ihren Liegen bewegten, während sie die Bierflaschen leerten. Ich verpasste den Augenblick als jemand Kevin die Wasserpistole entzog. Nun gab es erneutes Gebrüll. Allerdings ohne Namensnennung. Kevin brüllte sich die Seele aus dem Leib. Irgendwann stand sein Vater auf und zog Kevin zu seiner Liege. Auf eine rabiate Art und Weise zeigte der Jungen sein Missfallen darüber, indem er seinen Vater ins Gemächt boxte. Nicht nur ich verkniff mir ein Lächeln. Wenige Minuten später wurde es still. Kevin mit Anhang hatte das Bad verlassen.
Entspannt saß ich auf meiner Liege, trank einen Kaffee, las in meinem Buch und beobachtete über die Sonnenbrille schielend den Bereich um das Kinderschwimmbecken. Auffällig viele Männer mit Brüsten kamen auf ihrem Rückweg vom Kiosk daran vorbei. Badehosen in verschiedensten Neonfarben passierten auf zwei Beinen den Weg am Becken und manch einer konnte es nicht abwarten sofort seine Pommes zu naschen. Mit der Bierflasche in der rechten Hand, der Schale mit Pommes in der linken, gestaltete es sich ein wenig schwierig. Also wurde der Mund in die Pommes getunkt, mit den Zähnen zwei, drei verschlungen und die Mayonnaise fand den Weg an die Nasenspitze. Die Nasenspitze entsprach farblich nun der Farbe des Oberkörpers.
Das Kinderschwimmbecken füllte sich wieder mit Kindern, die plantschten, die Fontänen zu bändigen versuchten und einfach ihren Spaß haben wollten. Ein Mädchen kam mit ihrem kleinen Bruder dazu. Sie spritzten sich nass und er setzte sich auf eine Fontäne. Nun ging es los. Sobald er etwas machte, kommentierte er es mit lauten Schreien und gutturalen Lauten. Verließ er die Fontäne: schreien. Kam seine Schwester oder ein anderes Kind in seine Nähe: schreien. Innerhalb weniger Minuten hatte er das Kinderbecken leer geschrien. Auffällig war, dass er dabei immer in Richtung des großen Beckens schaute und schrie. Plötzlich wurde er still. Nein, sein Kopf war nicht unter Wasser geraten. Eine Frau, die nur auf ihr Smartphone stierte, näherte sich. Von nun an sprach er in ganzen Sätzen. Machte sie auch nur Anstalten, wieder weg zu gehen, schrie er. Er schrie sich schier seine Mutter herbei. Sie musste nur anwesend sein und dabei noch nicht einmal mit ihm sprechen oder ihn gar anschauen. Er erzählte ihr alles, was er gerade tat. Unabhängig davon, dass sie ihm nicht antwortete, sondern sich nur mit ihrem Smartphone beschäftigte. Mir tat der Junge leid. Als die Mutter wieder zu ihrem Liegeplatz ging, schrie er auf Kommando los und die inzwischen wieder eingetroffenen anderen Kinder verließen erneut das kleine Becken. Irgendwann nahm seine Schwester ihn an die Hand und sie gingen.
Es wurde so still.
Das Kinderbecken füllte sich erneut. Ich  begann einige Runden im großen Becken zu drehen bis mir ein großer, übergewichtiger Mann beim seitlichen einspringen ins Becken fast auf den Kopf sprang.
Ein Zeichen das Freibad für heute zu verlassen.

Kolumne: Warum bin ich so wütend?

Nachdem ich ein halbes Jahrhundert alt wurde, erhielt ich eine Einladung zum „Mammographie Screening Programm“ in einem Zentrum in meiner Nähe. Mit der Einladung kam die Erinnerung an eine Situation vor einigen Jahren hoch. Meine behandelnde Ärztin fand es nach einer Untersuchung wichtig, dass ich mich einer Mammographie unterziehen sollte. Damals rief ich in dem Zentrum an, für das ich nun eine Einladung erhalten hatte. Eiskalt wurde ich am Telefon abgebügelt: Termine würden frühestens wieder in einem Jahr vergeben. Ausnahmen würden nicht gemacht werden. Lange telefonierte ich verschiedene Stellen ab, bis ich eine Untersuchung machen konnte.
Mit der Einladung kam die damals gefühlte Hilflosigkeit wie auf Abruf hoch. Den in der Einladung vorgeschlagenen Termin konnte ich online ändern. Dabei konnte ich in der Terminübersicht sehen, dass es noch sehr, sehr viele freie Termine im 15 Minuten Rhythmus in den nächsten Wochen geben würde. Der Tag der Untersuchung stand an. Ich betrat das Gebäude. Im Erdgeschoss ließen sich in den Praxisräumen hinter Milchglas viele Gemälde erahnen. Anderes Mobiliar, oder Angestellte, waren nicht zu erkennen. Die Fläche war nicht klein. An einem Fenster hing ein Hinweisschild. „Anmeldung in der dritten Etage.“ Dort betrat ich eine sehr große Praxis. Auch hier fielen mir die großen, teilweise leeren, Räumlichkeiten auf. Komfortable Ledersessel befanden sich nicht nur im Wartezimmer, welches ebenfalls über sehr viel Platz verfügte. Die Räume waren hell und der Boden mit einem Belag belegt, der Holzoptik vortäuschte. Während ich das Patientenformular ausfüllte, herrschte ein Kommen und Gehen an Patientinnen. Die zwei Seiten waren schnell ausgefüllt. Ich ahnte es. Dieses Mammographie Screening Programm ist für den, der ein solches Zentrum betreibt eine wahre Gelddruckmaschine. Die Durchschleusungsrate an Patientinnen ist hoch. So verwunderte mich die große Schale, gefüllt mit Hachez Schokoladentäfelchen, die auf dem Tisch im Wartezimmer platziert ist, nicht. Aus dem kindischen Bedürfnis heraus den Gewinn meiner Untersuchung zu minimieren, nahm ich zwei Täfelchen Schokolade. Zu dem Kugelschreiber, der sich noch in meiner Hand befand. Meine Untersuchung ging schnell vonstatten und ich verließ nach knapp 15 Minuten die Praxis mit dem folgenden Vorsatz: „Wenn ich einmal im Lotto gewinne, kaufe ich mir drei Ärzte, einen Professor und eröffne auch solch ein Screening Zentrum.“ Mit dem Gewinn kann ich dann Unmengen an günstigen Wohnungen für Alleinerziehende bauen und vermieten.
Boh,war ich wütend.
Doch warum war ich so wütend? So schön die Praxisräumlichkeiten auch eingerichtet waren, so erinnerten sie mich trotzdem irgendwie an eine Produktionshalle, in der Arzthelferinnen die Patienten wie am Fließband versorgten, Ein Arzt oder Ärztin war nirgends zu sehen. Mochten die Gästehandtücher auf dem DamenWC oder die kleinen Schokoladentäfelchen den oberflächlichen Eindruck von Luxus erwecken, so konnten sie nicht darüber weg täuschen, dass es hier nur um Massenabfertigung ging. Abfertigung von Patientinnen, die über das Screening Programm direkt dorthin geschleust wurden.
Bevor ich den Termin wahrnahm rief ich unter einem anderen Namen an und bat um einen Termin für eine Mammographie, da meine Ärztin mich überwiesen hätte. Auch dieses Mal erhielt ich die Aussage, dass die Wartezeit auf einen Termin mindestens ein Jahr beträgt. Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, ob die vor einigen Jahren gemachte Erfahrung nun eine andere sein würde. Sie war es nicht.
Diese Aussage im Hinterkopf, den Terminkalender mit den vielen freien Terminen im Gedächtnis, die Massenabfertigung live erlebt, führte zu dieser Wut, die vermutlich eher eine Art von Hilflosigkeit war. Wie viele Frauen mögen dieses Zentrum angerufen haben und mit der Aussage, dass Termine frühestens in einem Jahr frei werden, abgewimmelt worden sein? Wie viele Frauen sitzen mit einer Überweisung und einem Befund hilflos am Telefon, weil sie eine Mammographieuntersuchung benötigen und keinen Termin bekommen? Wie viele Frauen machen sich Gedanken, haben Ängste und bei wie vielen kann eine frühere Untersuchung schlimmeres verhindern?
Ich weiß es nicht. Doch zu wissen: Dort ist ein Zentrum und verfügt über freie Termine die sie an Frauen, die gerade nicht am Screening Programm teilnehmen, nicht vergeben – das macht mich verdammt wütend!

Foto: Sabine Ganowiak

 

Utopia

Mein Utopia ist in mir. Es ist mein inneres Utopia. Ich spüre es bei einer geführten schamanischen Reise. Nur dort erlebe ich es. Es ist kein Ort in der Fremde oder eine Gesellschaftsform, sondern eine Reise in die Anderswelt.
Wie beginne ich die Reise in die Anderswelt?
Während der Schamane, oder die Schamanin trommelt, beginne ich meine schamanische Reise. Ich spüre den Zugang zu dem wunderbaren Wasserfall und betrete die Anderswelt, indem ich unter ihm entlang gehe und das Wasser auf mich regnen lasse. Manchmal erscheint dahinter eine grüne Wiese auf der ich gefühlte Stunden barfuß spazieren gehe. Wenn ich den Wasserfall durchschritten habe, treffe ich meist bereits dort auf mein Krafttier, meinen Seelengefährten. Es begleitet mich auf den Reisen in diese Welt, beschützt mich, führt mich und gibt Heilungsimpulse. Nie habe ich es gesucht. Es war einfach da.
Bei meinen ersten schamanischen Reisen war mein Krafttier ein Frosch. In seiner ganzen Körpergröße ging er mir bis zum Knie. Meist gingen wir nur spazieren, während er mich anlächelte. Oder ich setzte ihn auf meine Schultern und hüpfte mit ihm durch die Gegend und strich seine Beine, die herunter hingen. Aus diesen Begegnungen ging ich sehr gestärkt, aber auch mit einem großen Gefühl an Geborgenheit hervor. Dies hält lange über die jeweilige schamanische Reise hinaus an.
Später wurde er von einem Bären abgelöst. Einem großen, braunen Bären, der mir meist auf seinen Hinterpfoten entgegentrat und mich mit seiner Größe überragte. Er trug eine verkehrtherum getragene, rote, Baseballmütze auf seinem Kopf. Bei unserer ersten Begegnung fand ich diese Mütze merkwürdig, doch scheint sie irgendwie zu ihm zu gehören. Er stellte sich als „Shaggy“ vor. Bei diesem Namen blieb es.
Selten stellte ich ihm Fragen, meist bekam ich ungefragt Antworten oder Umarmungen.
Nach einer solchen Reise mit „Shaggy“ fühle ich mich ebenfalls gestärkt, entspannter, nachdenklicher und meine Seele wurde intensiv berührt. Ja, hier wird meine Seele berührt.
Auf einer meiner ersten schamanischen Reisen, die ich während einer Phase körperlicher und psychischer Erschöpfung machte, bekam ich den Impuls endlich eine berufliche Entscheidung zu treffen. Nachdem ich den Wasserfall passierte, holte mein Bär mich ab und wir gingen schweigend gemeinsam im Wald spazieren.
Immer wieder schaute er mich an und umarmte mich zwischendurch lange. Schlussendlich nahm er mich an die Hand und führte mich aus dem Wald heraus.
Wir schauten auf einen großen Firmenpark mit vielen großen und wenigen kleinen Bürotürmen. Ich schluckte, die Luft zum Atmen wurde mir für einen kurzen Moment knapp und dann weinte ich. Weinte und ließ endlich los.
Auch den Rückweg verbrachten wir schweigend. Als ich nach dieser schamanischen Reise aufwachte, fühlte ich mich nicht mehr so erschöpft. Spürte mich endlich wieder und von beruflichen Ängsten befreit. Ich traf nicht sofort eine Entscheidung. Doch die Saat wurde erfolgreich gelegt und ging zum richtigen Zeitpunkt auf.
Nach dieser kleinen Einführung möchte ich nun über meine letzte schamanische Reise erzählen. Sie war eine besondere Reise, die ich nie vergessen werde.
Es war ein Tag im Herbst, als wir uns im Wald trafen, um gemeinsam in einer Gruppe zu reisen. Ich mochte diesen Treffpunkt, der in der Nähe eines kleinen Baches lag. Zuvor ging ich zu dem Bach um innezuhalten, meine Füße einzutauchen und ein Dankesritual abzuhalten. Von dort lief ich zu der Gruppe, die damals aus 5 Personen bestand. Nach der Begrüßung breiteten  wir unsere mitgebrachten Decken aus auf die wir uns legten. Die Schamanin nahm ihre selbst hergestellte Trommel in die Hand und begann langsam und leise zu trommeln. Bereits mit den ersten Tönen entspannte ich mich und ließ los. Die erreichte Frequenz bewirkt bei manchen Schläfrigkeit. Mir helfen die tiefen und lauten Töne in Trance zu gelangen und meine geistige Reise zu beginnen. Als sich das Tempo steigerte, erreichte ich bereits meinen Eingang zur Anderswelt. Den Eingang zur unteren Welt. Meine Reise begann. Ich sah den rauschenden und hohen Wasserfall, der aus einer langen Bergwand floss. Unten sammelte er sich in einem kleinen, fußtiefen Teich. Neben dem Teich blühten viele Blumen, ähnlich denen, die man in Bauerngärten findet. Schaute ich nach oben, sah ich einen strahlendblauen Himmel, in dem viele Falken ihre Runden drehten. Ich durchschritt den Teich und stellte mich unter den Wasserfall. Blieb zuerst auf der Stelle stehen, um mich dann mit ausgebreiteten Armen lange um die eigene Achse zu drehen. Ich genoss den Wasserstrahl von oben, den Duft der Blumen neben mir und wollte den Wasserfall am liebsten nicht mehr verlassen. Einige Momente später durchschritt ich ihn und kam in einen Wald. Es war ein heller Wald mit vielen Bäumen, die sehr hoch und breit vom Umfang waren. Trotzdem ließen ihre Kronen viel Licht durch. Ich lehnte mich an einen der Bäume und wartete auf mein Krafttier, den Bären. Oft verbrachten wir unsere Begegnungen indem er mich gefühlte Stunden in den Armen hielt und mir über den Kopf strich, während ich ihn kraulte. Dabei schwiegen wir meist, es sei denn er stellte mir Fragen. Die Antworten auf diese fand ich selten sofort. Oft stellten sie sich erst Tage oder Wochen später ein. Er beschäftigte mich über die schamanischen Reisen hinaus und gab mir wertvolle Impulse. An diesem Tag war er lange nicht zu sehen. Ich blieb alleine im Wald, ging spazieren und berührte viele Bäume. Bei manchen verweilte ich länger, bei einigen weniger lange. Nach einiger Zeit kam Shaggy um die Ecke, stellte sich erst zu seiner vollen Höhe auf und umarmte mich lange. Dann drückte er mich, um folgend zu sagen: „Ich kann nicht bleiben, ich muss zu Anna.“ Er ließ mich los, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Die Trommel schlug schneller und holte mich aus der Anderswelt zurück. Ich setzte mich auf und dachte an Anna. Eine Freundin, die damals schwer erkrankt war. Den Zeitpunkt und Dauer dieser schamanischen Reise musste ich mir nicht notieren. Er blieb in meinem Kopf. Wir besprachen die Erfahrungen, die wir während dieser Reise gemacht hatten, doch verließ ich die Gruppe früher. Unruhe hatte mich gepackt. Vergeblich versuchte ich den Ehemann von Anna telefonisch zu erreichen. Im Krankenhaus vor Ort erhielt ich keine weitere Auskünfte, außer: „Wir haben die Angehörigen verständigt, es dürfen nur noch ihre Angehörigen zu ihr.“ Ich wusste, ihr Ehemann würde mich jetzt nicht zu ihr lassen.
Anna hatte zum zweiten Mal Leukämie bekommen. Beim ersten Mal wurde sie erfolgreich mit einer Chemotherapie behandelt. Doch wenige Jahre später kam die Leukämie zurück. Dieses Mal bekam sie Stammzellen transplantiert. Die Behandlung als Vorbereitung zur Transplantation zuvor war nicht ungefährlich und die Zerstörung des Immunsystems stellte ein immenses Risiko dar. Die Stammzellentransplantation lag nun eine Woche zurück. Einmal konnte ich sie besuchen und in einem kurzen wachen Moment mit ihr sprechen. Sie war ein kleines Häufchen Mensch, welches durch Schläuche an eine ganze Wand voller Geräte angeschlossen war. Es summte, piepte, rauschte in fast jeder Sekunde aus einem von ihnen. Ihr Mann blockte Besuch von Freunden zu dem Zeitpunkt meist ab und gab auch mir nur widerwillig Auskünfte über ihren Zustand. Drei Tage nach der Information „Es dürfen nur noch Angehörige zu ihr“ durfte ich sie kurz besuchen. Sie war intubiert, aber sie lebte. Von nun an ging es ihr langsam besser. Im Laufe der Wochen und Monate wurde sie nicht mehr intubiert und die Geräte an der Wand, die sie versorgten, wurden stets weniger. Sie kämpfte weiterhin mit den Nebenwirkungen der zuvor erhaltenen Chemotherapie und der jetzt eingesetzten Medikamente. Manchmal saß ich stundenlang an ihrem Bett und strickte, während sie schlief. Zu dem Zeitpunkt befürchtete sie, dass sie nicht mehr aufwachen würde, wenn sie tagsüber schlief und niemand neben ihr sitzen würde. Irgendwann erzählte sie mir, dass es eine Abstoßungsreaktion der Stammzellen gegeben hätte und sie daran fast gestorben wäre. In der letzten Sekunde konnten die Ärzte es in den Griff bekommen. Bei einem meiner späteren Besuche, als es ihr deutlich besser ging, plauderte sie ganz locker darüber, welch tolles Schmerzmittel Morphium wäre. Allerdings würde es ihr merkwürdige Träume bescheren. Kichernd erzählte sie mir von dem folgenden:
„Hi hi, einmal träumte ich sogar von einem großen Bären mit einer roten Baseballmütze, der mich ganz lange in den Arm nahm und dann mit mir Ewigkeiten tanzte. Ein tanzender Bär. Ich kann doch gar nicht tanzen. Aber es tat so gut, dass er mich in den Arm genommen hat.“
Ich schluckte und fragte mit leiser Stimme: „ Weißt Du noch, wann das gewesen ist?“
„Der Tag an dem ich fast gestorben wäre.“
Im Laufe unseres Gespräches tastete ich mich vorsichtig an die Details heran. An dem Tag meiner letzten schamanischen Reise verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand mittags dramatisch.
Während ich im Wald auf meiner Decke lag, der Trommel lauschte, kämpfte sie um ihr Leben.
Während ich mich in der Anderswelt aufhielt ging Shaggy, unser Krafttier, zu ihr.
Was an diesem Nachmittag im Oktober geschah: Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Shaggy war bei ihr.

 

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