„Read what I see“: Brief an eine Freundin aus der Eisdiele in H.
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen widme ich mich meinem Cappuccino und schreibe weiter. Ja, die Gastronomie bescherte in den 80er Jahren noch kleine Besonderheiten. „Draußen gibt es nur Kännchen.“ „Draußen gibt es nur große Biere.“ Sah ich früher jemanden in einem Biergarten oder Café ein großes Bier trinken, unterstellte ich ihm gleich ein Alkoholproblem. Für mich war es kaum nachvollziehbar, wie man freiwillig einen halben Liter Bier trinken kann.
In den 80er Jahren gab es noch Kaffee Haag, häufig Toast Hawaii, Grillagetorte, riesige Grillteller und allzu gerne wurden Gerichte in Sauce Hollandaise ertränkt.
Latte Macchiato war noch unbekannt und der Cappuccino wurde mit Sahne getrunken.
Ach, die Sonne bringt schon spezielle Leute hier ins Eiscafé, wie mir meine Ohren gerade beweisen. Nein, es handelt sich nicht um Qualm. Neben mir am Tisch hat ein Mann Platz genommen. Er ist nicht zu überhören. Aufgrund des Inhalts der Unterhaltung zwischen ihm und dem Besitzer vermute ich, dass er hier Stammgast ist.
„Wie geil. Wie geil. Aber ich bin zu fett dafür.“
Aha.
Ich drehe meinen Kopf nach links und sehe einen Mann in den 40ern. Bekleidet mit einem Hoodie und einer Jeans, aus der, wie soll ich es beschreiben, mich die halben Arschbacken anlachen. Die Mischung aus kurzem Hoodie und einer schlechtsitzenden Jeans führen dazu, dass mich viel bleiche, mit wenigen Haaren besetzte Haut, anschaut.
Mich überkommt ein Gefühl des Fremdschämens und ich schwanke, ob ich den Mann darauf hinweisen soll, seine Jeans etwas höher zu schieben (falls dies überhaupt machbar ist) als mich der nächste, fast gebrüllte Satz unfreiwillig mithören lässt.
„Boh, das sieht so geil aus. Geil, geil. Egal. Ich nehme jetzt nur einen Espresso.“
Geil scheint sein Lieblingswort zu sein. Am liebsten würde ich rüber brüllen: „Ich finde es nicht geil, dass mir Ihr bleicher, untrainierter Hintern unaufgefordert präsentiert wird.“
Ein weiterer Schluck von meinem leckeren Cappuccino lenkt mich von den „Geil, geil.“ Sätzen ab.
Für weniger als eine Minute.
„Weißt Du, ich will für den Urlaub abnehmen. Aber leider ist alles so geil.“
Wenn er doch nur Aktivitäten in dem Bereich unternehmen würde, die ich mit geil in Verbindung bringe, würde er einige Kalorien verbrennen.
„Im Urlaub muss mein Bauch weg sein.“
Der Besitzer stellt eine Frage, die ich nicht höre. Vermutlich fragt er wieviel abgenommen werden soll.
„Nicht viel, so 20kg.“
Als er sich doch einen sehr großen Eisbecher „aber mit doppelt Sahne und viel Karamell“ bestellt, ihm dieser in einem schönen Becher angerichtet wird, geschieht was? Ich höre: „Geil! Das sieht lecker aus.“
An diesem Eisbecher würde ich bis heute Abend naschen.
Ein Pärchen betritt die Eisdiele. Bevor sie sich setzen, geben sie bereits ihre Bestellung auf.
„Einer so, einer so.“
Bei mir wirft es Fragezeichen auf. Was kann damit gemeint sein? Heiße Schokolade mit oder ohne Sahne? Ein Tee mit oder ohne Schuss? Ein Kaffee mit oder ohne Zucker? Ein Eisbecher mit oder ohne Sahne? Vermutlich könnte ich noch lange überlegen und würde der Lösung nicht näherkommen?
Ohne zu neugierig wirken zu wollen, versuche ich zu schauen, was ihnen gebracht wird. Der Mann trinkt einen Cappuccino mit geschäumter Milch, die Frau einen Cappuccino mit Sahne. Hätte ich es erraten können?
Heute ist es die zweite Situation, die mich an die Gastronomie der 80er Jahre erinnert.
Meine Tasse ist leider schon leer und „gierig“ bestelle ich mir einen zweiten Cappuccino. Mit Milch. Er wird hier nicht stark serviert, so dass er mir und meinem Magen schmeckt.
Hach, der erste Schluck schmeckt immer am besten. Ich löffele etwas Schaum und lasse „vor Schreck“ beinahe den Löffel fallen. Vier Männer und vier Frauen kommen herein. Das ist an sich nichts Außergewöhnliches. Wenn, wenn…. Nicht alle vier Männer über die identischen, schneeweißen Gebisse verfügen würden, die alle ein wenig vorstehen und bewirken, dass keiner von ihnen den Mund richtig schließt. Die alte Dame hat das Eiscafé inzwischen verlassen. An ihrem Tisch lassen sich nun die vier Pärchen nieder, indem sie noch einen Nachbartisch dazu schieben. Liegt es an dem Tisch an sich, dass dort Gäste Platz nehmen, die bei mir das Bedürfnis wecken sie anzustarren? Liebste Freundin, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: Erinnerst Du Dich noch an die früheren Dracula Gebisse aus Kunststoff? So wirkt, das auf mich, was diese Männer im Mund haben. Als kämen ihre Gebisse aus einer Überraschungstüte oder wären Gimmicks des Yps-Heftes, welches es seit den 70er Jahren gibt und deren Spielzeugbeigaben in der Erinnerung legendär waren.
Sie geben ihre Bestellungen auf. Die Männer leicht nuschelnd. Waren sie gemeinsam in einer Zahnklinik in Polen oder Tschechen und ließen sich dort behandeln? Bekamen dort für ihr Budget das, was man nun sieht? Sie ließen sich behandeln, während ihre Frauen Wellnessbehandlungen genossen?
Ausgerechnet einer der Männer, die mir gegenübersitzen, schiebt sein Gebiss ständig mit der Zunge hin und her. Das leicht schmatzende Geräusch stört mich. Ich empfinde es als genauso nervend wie das Geräusch eines ständig gedrückt werdenden Kugelschreibers. Gleich bleibt noch ein Stückchen Sahne in seinem Walrossschnurbart hängen und mein Ekel wird dadurch geweckt werden?
Ich zwinge mich in mein Notizbuch oder an die Wand zu starren.
Sein Sitznachbar (Du liest, ich habe meinen Blick nicht lange abwenden können) trägt eine Brille und schaut aus wie Henry Valentino im Video zum Song „Im Wagen vor mir“. Dessen Zähne saßen aber deutlich besser.
Mist, nun habe ich das „RamTanRamTan“ im Kopf. Schaue Dir das Video bitte auch an und Du wirst den Refrain nicht aus den Ohren bekommen.
Ach, ich kann mir den Kopf wunddenken und werde auf keine Lösung kommen, warum diese Männer diese Gebisse tragen.
Liebste Freundin, mein Notizbuch ist gefüllt und ich beende meine Zeilen.
Es schrieb Dir Deine beobachtende und hörende Freundin aus H.
Foto: privat
Dein Kommentar
Want to join the discussion?Feel free to contribute!