„Read what I see“: Der alte Bonbonladen
Von weitem sah ich das alte Blechschild an einer Stange über dem Schaufenster hängen: Feinkostgeschäft. Mit langsamen Schritten näherte ich mich, um dort ein paar „Leckerlis“ zu kaufen. Gedacht hatte ich an ausländische, in Öl eingelegte Spezialitäten. Als ich vor dem Geschäft stand, musste ich schmunzeln. Es war ein alter „Bonbonladen“. Hier würde ich eher süße Dinge finden. Im linken Schaufenster befand sich ein alter Kaffeeverkaufsautomat, der mit seinen Einschüben einem Zigarettenautomaten ähnelte. Umgeben war er von verschiedenen 500g Kaffeepackungen hochwertiger Hersteller. Nachdem sich mein Blick von diesem Schaufenster löste, wanderte er nach rechts. Das im Schaufenster platzierte Fahrrad nahm ich nur halb war. Mein Augenmerk wurde auf mehrere Tabletts gerichtet, die mit Fruchtgummi Fröschen, Brause Bären, Brause Stäben, Saftigen Schokoladenfrüchten, Englischem Weingummi, Lakritzstaffetten bestückt waren und vielen weiteren Süßigkeiten, die sich in alten Metalldosen befanden und drumherum platziert waren. Erinnerungen an den alten Dorf- Tante- Emma- Laden wurden wach. Die alte Besitzerin hatte noch vor den Supermärkten erkannt, dass die Kinder von heute die Kunden von morgen sind und die kleinen Süßwaren direkt neben der Kasse aufgestellt. Brausebrocken, dünne runde Brausebonbons, Gummiteufelchen, Braustetüten und vieles mehr lockten, wenn die Mutter ihren Einkauf bezahlen wollte. Oder es lockte die Kinder, wenn sie Biene Maja oder Heidi Sammelbilder für ihr Album kaufen wollten. Oft gab es die Qual der Wahl: Das Sammelalbum oder den Bauch füllen? Zu oft gewann der Bauch. Vor allem, wenn gelegentlich Mohrendatschbrötchen im Sortiment waren.
Ich blendete meine Erinnerung mit einem Lächeln aus und betrat den Laden. Hinter einer breiten, runden Verkaufstheke standen drei Verkäuferinnen in weißen, langen, gestärkten Kitteln. Mitten im Raum stand eine große Etagere, die mit vielen verschiedenen Bonbons zum Einheitspreis gefüllt war. Kleine Bonbons, und große, in buntem Papier eingepackt. An Haken hingen Papiertüten in verschiedenen Größen. Da ich nicht widerstehen konnte, nahm ich mir eine Tüte und füllte sie mit einer Handvoll der verschiedensten Sorten.
Links am Eingang befanden sich Regale mit Einlegefächern, die jedem Schleckermäulchem und in Kindheitserinnerungen Badenden automatisch ein Lächeln oder ein dickes Grinsen ins Gesicht zauberten.
Zuerst sah ich die Sahne Toffee Bonbons. Süße, in Papier mit Kuhaufdruck eingewickelte, Karamellbonbons. Als Kinder nannten wir sie nur „Kuhbonbons“. Noch heute konnte ich mich an den Geschmack des Karamells erinnern, den ich immer als zu penetrant empfand und sich wie eine Kaugummischicht auf die Backenzähne legte.
Im Fach darunter lagen Brombeeren. Mit kleinen Kügelchen ummantelt, die beim langsamen Lutschen gerne am Gaumen festklebten und sich nur durch Zungenakrobatik entfernen ließen.
In weiteren Fächern lagen kleine Löffelbiskuits, Pfefferminzbrocken und Magenbrot. Was lachte mein Herz als ich mit Pfefferminz gefüllte Creme Hütchen und saure Zungen entdeckte. Weitere paradiesische Erinnerungen durchströmten mein Hirn als ich mich umschaute, wobei die Schleckmuscheln mich, im Gegensatz zu früher, an diesem Tag nicht in Versuchung führten. Irgendwie hoffte ich in einem Fach die kleinen silbrigen Lakritzfischchen zu sehen, die, mit Plomben in Kontakt kommend, gerne einen kleinen Stromschlag durch die Mundhöhle schickten.
Ich schaute mich weiterhin um und kam mit den Mitarbeiterinnen ins Gespräch. Irgendwann erzählte die Ältere von ihnen: „Ja, wir hatten auch ein Geschäft in Tübingen. Auf der Neuen Straße. Das ist gar nicht so lange her. Bis 1960.“
Bis 1960.
Gar nicht so lange her.
Ich verkniff mir ein liebevolles Grinsen.
Als ich an der Kasse meine Handvoll Bonbons bezahlte, wurden sie von der großen Tüte in eine kleine umgepackt. Es wird ja nichts verschenkt. Auch keine zu große Tüte.
Beschwingt verließ ich dieses alte Geschäft und hatte über den Tag verteilt immer wieder Erinnerungen an Bonbons aus der Kindheit oder an Rituale.
Kolume: Das Reservezimmer
„Kann ich in Ihrem Hotel noch eine Nacht anhängen? Hätten Sie noch ein Zimmer frei?“
„Nein, wir sind ausgebucht. Ich kann Ihnen aber das Reservezimmer anbieten.“
„Reservezimmer? Ist das so etwas wie ein altes Dienstbotenzimmer unter dem Dach und nur über eine kleine Holztreppe zu erreichen?“
„Nein!“ und lacht. „Es ist das Zimmer ohne Badezimmer. Es würde ein eigenes für Sie geben, nur kurz über den Flur rüber. Vielleicht zwei Meter von dem Zimmer entfernt.“
„Es ist ein Einzelzimmer?“ hakte ich sicherheitshalber nach.
„Ja, das ist es.“
So buchte ich es, um noch einen Tag länger am Bodensee bleiben zu können. Das Einzelzimmer mit dem Badezimmer zur Alleinnutzung über den Flur.
Nach dem Frühstück zog ich also für die letzte Nacht ein paar Meter weiter auf der gleichen Etage um. In das sogenannte Einzelzimmer. Mit meiner Reisetasche in der Hand öffnete ich die Tür und wich zurück, da ich keinen Schritt weiterkam. Im Raum befanden sich zwei Einzelbetten. Ein Einzelbett und eine Gästeliege. Der Gang zwischen den beiden war zu klein, um dort die Reisetasche abzustellen. Rechts vor den Betten befand sich ein kleiner Kleiderschrank, auch dort fand sie keinen Platz. Ebenfalls nicht auf dem kleinen Sideboard links. Ich stellte sie auf die Gästeliege. Unter dem Fenster geradeaus stand ein Nierentisch, links davon befand sich an der Wand ein kleines Waschbecken. In der Beschreibung mag sich das Zimmer als groß darstellen, dem war es aber nicht. Egal, wie man sich bewegte, man stieß immer irgendwo an. Um an das Fenster zu gelangen, musste ich quer zwischen den Betten entlanglaufen. Ein Ventilator befand sich ebenfalls in dem Zimmer. Leider gab es keine Steckdose dazu.
Ein Stuhl war nirgends zu sehen. Was nutzt ein kleiner Nierentisch aus den 50er Jahren, wenn man dort nicht sitzen kann? Notizen und Postkarten schrieb ich, indem ich mich auf das Bett legte. Der Fernseher passte sich dem Raum an. Er war winzig und verfügte über fünf Kanäle. ZDF war nicht dabei.
Diese Rumpelkammer war der ideale Ort, um Platzangst hervorzurufen. Wenn man bereits darunter litt, war dieses Zimmer ideal, um mit einer Konfrontationstherapie zu starten.
Die nächste Herausforderung bestand darin, wie eine kleine Lampe in die Nähe des Bettes zu bekommen, um darin zur Nacht noch etwas zu lesen?
Der Rumpelkammerumbau fand statt. Der Nierentisch wurde neben das Bett gestellt, mit dem Ergebnis, dass sich die Eingangstür nicht mehr öffnen ließ. Anschließend holte ich die Lampe vom kleinen Sideboard. Um den Stecker zu entfernen, musste ich das Board abrücken. O là là. Neben den obligatorischen dutzenden toten Lichtmotten befanden sich mehrere Socken und viele Wollmäuse hinter dem Sideboard. Einzelne Socken, die doch jemand vermissen würde? Nun weiß ich, dass nicht nur Waschmaschinen Socken fressen, verstecken oder vernichten.
Nachts musste ich das Bad aufsuchen und meinen Umbau wieder zurück bauen, um zur Tür zu gelangen. Das Bad war O.K., doch nicht mit Größe gesegnet. Saß man auf der Toilette musste man währenddessen die Füße in die Dusche stellen.
Reservezimmer, oder Abzockzimmer?
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Jörg Maurer: Am Abgrund lässt man gern den Vortritt: Alpenkrimi (Kommissar Jennerwein ermittelt, Band 10)
Klappentext:
Nur der Föhn kennt die ganze Wahrheit. Kommissar Jennerweins waghalsigster Fall – der zehnte Alpenkrimi von Nr.1-Bestsellerautor Jörg Maurer.
Kommissar Hubertus Jennerwein gönnt sich eine Auszeit. Aber schon vor der geplanten Abreise trifft er auf dem Bahnhof einen Kommissar-Kollegen aus dem Allgäu und wird aufgehalten. Gerade als die beiden so richtig ins ermittlerische Fachsimpeln kommen, erreicht Jennerwein ein Hilferuf aus dem Kurort: Ursel Grasegger, Bestattungsunternehmerin a.D., hat eine blutige Morddrohung gegen Ignaz erhalten. Ihr Mann ist seit Tagen unauffindbar. Ist er in den Händen von Entführern? Oder hat er heimlich etwas Illegales geplant, was nun schiefgegangen ist? Jennerwein weiß nur zu gut, dass die Graseggers beste Mafiaverbindungen haben. Aber er verspricht Ursel, Ignaz‘ Spur außerdienstlich zu verfolgen – und bringt sich in noch nie gekannte Gefahr. Sein Team geht derweil tödlichen Umtrieben von Medizinern nach, eine frühere Freundin von Ignaz kündigt ihre bevorstehende Ermordung an, und auf einmal steht Jennerwein vor dem Abgrund seiner Polizeikarriere…
Lese ich ein Buch von Jörg Maurer mit der Hauptfigur des Kommissar Jennerwein, so fühlt es sich an, als würde ein guter Freund zu Besuch kommen. Dieses Mal hatte ich nach dem Lesen des Buches das Gefühl, dass der gute Freund nicht in Form war und zu früh gegangen ist.
Wie immer ist das Buch mit einem himmelblauen Cover gestaltet und zum Jubiläum in 10 Kapitel unterteilt, wobei jedes Kapitel mit der gleichen Tierzeichnung versehen ist.
In diesem Buch spielt das Bestattungsehepaar Grasegger eine Hauptrolle. Ignaz Grasegger ist seit Tagen verschwunden, bedeutet die zuvor erhaltene blutige Morddrohung, dass er tot ist?
In dem 10. Krimi kommt die Spannung, der Wortwitz, der schwarze Humor und die Satire nicht zu kurz. An das Niveau gewöhnt man sich als Leser recht schnell und wird diesbezüglich auch dieses Mal nicht enttäuscht.
Die Handlung überzeugt mich einfach nicht. Natürlich vermisst man zwei Hauptfiguren, die nicht mehr im Polizeidienst beim Kommissar Jennerwein tätig sind. Doch die Geschichte um die italienische Mafia, das überstürzte Handlungsende – es passt irgendwie nicht so richtig zusammen. Hätten die 429 Seiten gekürzt werden können oder hätten sie mehr sein müssen? Diese Frage habe ich mir bis heute nicht beantworten können.
Die letzten Seiten lesen sich beinahe wie ein Abschied der Figur Jennerwein.
Vielleicht jammere ich auf hohem Niveau, doch bin ich bessere Krimis um Jennerwein und sein Team gewohnt.