Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Klappentext:
Ist das normal? Zwischen Hunderten von körperlich und geistig Behinderten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzuwachsen? Der junge Held in Joachim Meyerhoffs zweitem Roman kennt es nicht anders – und mag es sogar sehr. Sein Vater leitet eine Anstalt mit über 1.200 Patienten, verschwindet zu Hause aber in seinem Lesesessel. Seine Mutter organisiert den Alltag, hadert aber mit ihrer Rolle. Seine Brüder widmen sich hingebungsvoll ihren Hobbys, haben für ihn aber nur Häme übrig. Und er selbst tut sich schwer mit den Buchstaben und wird immer wieder von diesem großen Zorn gepackt. Glücklich ist er, wenn er auf den Schultern eines glockenschwingenden, riesenhaften Insas­sen übers Anstalts­gelände reitet. Joachim Meyerhoff erzählt liebevoll und komisch von einer außergewöhnlichen Familie an einem außergewöhnlichen Ort, die aneinander hängt, aber auseinandergerissen wird. Und von einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz zum 40. Geburtstag, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen? Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschich­ten produziert.
Das Buch fand ich eher zufällig und dachte mir: Auf dem Psychiatriegelände aufzuwachsen und darüber zu schreiben kann im Ergebnis nur ein gutes Buch werden.
Erst dann las ich ein wenig über den Autor nach und erfuhr, dass er Schauspieler, Regisseur, und Autor ist.
Als Schauspieler spielte er erfolgreich sein Programm: Alle Toten fliegen hoch ( in 6 Teile unterteilt). Hier wird seine eigene Geschichte bzw. die Geschichte seiner Eltern und Großeltern erzählt. Aus dem Programm entstand der (preisgekrönte) Roman „Amerika“ als Band 1 der Romanserie:
Band 1: Amerika
Band 2: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie wieder war
Band 3: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Band 4: Die Zweisamkeit der Einzelgänger
Mich zog das Buch von der ersten Seite in den Bann und ich schämte mich fast darüber, dass ich eine so geringe Erwartungshaltung hatte, sondern das Buch nur auf den „Wohnort“ des Ich-Erzählers reduzieren wollte.
Ganz schnell ist es während der Besprechung geschehen, dass ich eine mehrseitige Inhaltsangabe schrieb. Ja, wie ein Schüler, der einen Aufsatz schreibt.
Beschreibe ich das Buch, müsste ich eigentlich eine Zusammenfassung des gesamten Buches schreiben. Eigentlich….. Die Erlebnisse, die Beschreibungen: Sie sind anrührend, teilweise witzig, nie beleidigend, sehr lebendig, amüsant, liebevoll.
Dieses liebevoll möchte ich an einer Szene festmachen: Der Ich-Erzähler geht gerne mit seinem Vater an den Strand. Wenn es heimgehen soll, schlägt er dem Vater immer noch vor: „Noch einen Bauchnabel voll bleiben“. Der Vater stimmt dem zu und widmet sich wieder seinem Buch. Sohnemann geht ans Meer, füllt seine Hände mit Wasser und kippt sie dem Vater in den Bauchnabel. Wenn das Wasser verdunstet ist, geht es heim.
Dementsprechend groß ist seine Angst, als sein Vater plötzlich von Plänen erzählt, um abzunehmen: Was geschieht dann mit dem Bauchnabel? Wird dieser kleiner? Verkürzt es zukünftig die Badezeit?
Auf den ersten Blick ein sehr heiteres Buch, aber nicht nur. Es ist tragisch, es ist komisch, es ist traurig. Denn auch vor dem Tod wird in dem Buch nicht halt gemacht.
In„Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals war“ wird nicht chronologisch erzählt. Es ist ein Buch über eine Kindheit, die voller toller und komischer Geschichten steckt. Nicht nur durch das Aufwachsen neben einer Kinder- und Jugendpsychiatrie wird plastisch dargestellt, auch die Hauptfigur in dem Buch, der Vater. Ein Vater, der eine Anstalt leitet, im Leben aber herrlich versagt. Auf dem ersten Joggingversuch nach seinem 40. Geburtstag verletzt er sich mit einem Bänderriss. Oder schafft es bei Windstille in Seenot zu geraten und währenddessen versehentlich seinen Sohn von Bord zu schlagen. Oder lädt an seinen Geburtstag nur Patienten zu sich ein. Nie geht er unter Leute, arbeitet oder ist daheim. Während der „Daheim Zeit“ sitzt er in seinem Sessel und liest und liest. Es gibt nichts, was er sich nicht erlesen hat. Macht sein Sohn eine Reise, so hielt er sich durch seine gelesenen Bücher dort bereits auf.
Der größte Teil des Buches ist von diesen lustigen, drolligen Geschichten geprägt. Man lacht mit, amüsiert sich und denkt manchmal, dass es in dieser Form nicht geschehen sein kann. Wie kann es sein, dass der Erzähler am besten bei dem aus der Anstalt herüberwehendem Gebrüll einschlafen kann?
Es wird auch über ernste Momente geschrieben. Der Tod kommt ins Spiel, der Erzähler wird älter, und die Familie entwickelt sich in eine Richtung, die man vorher nicht erwartet hat.
Mir kam das ein wenig zu plötzlich, da ich weiter auf heitere, wenn auch manchmal nachdenkliche, Erzählmomente eingestellt war. Aber Eltern und somit auch sein von Lebensfreude und Übergewicht geprägter Vater werden älter. Und krank.Dem Buch tut es keinen Abbruch, beschreibt er den Tod des Vaters ernst, betroffen, ehrlich und liebevoll zugleich.
Ist es eine Hommage an den Vater? Ein „liebevolles“ Vaterbuch? Oder doch nur ein erinnern?
Wurde wirklich alles so erlebt oder doch ein wenig erdichtet? Man darf nicht vergessen: Joachim Meyerhoff ist Schauspieler, führt eigene Programme auf und er scheint ein kleiner Selbstdarsteller zu sein.
Mir ist es egal, denn das Buch hat mich über viele Stunden gut unterhalten.

„Read what I see“: Im Pub

In der Nähe des Eingangs sitzen wir an einem Tisch. Die Theke habe ich im Blickfeld, den Zigarettenduft in der Nase und die Musik in den Ohren. Ich sitze in einem Pub, einem urigen kleinen Irish Pub. Ein Teil der Wände ist in einem dunklem grün gestrichen, Werbeplakate zum St. Patrick´s Day zieren die Wände und grüne Lamellen hängen vereinzelt von der Decke herab. Kleeblätter als Dekoration erfüllen für manch einen Klischees. Die Stimmung ist gut. Liegt es an der reichlichen Whiskeyauswahl oder an der Live-Musik oder an der Wirtin? Ein jeder wirkt entspannt. An der Theke sitzen Frauen mit der Zigarette in der Hand, ihre Handtaschen haben sie an den kleinen Haken unter dem Tresen aufgehängt. Sie schauen in die Richtung des Musikers, der gerade „Nothing else matters“ covered. Nicht nur sie singen die Zeilen, die sie kennen, mit. Ich nippe an meinem Guiness. Dem Wunsch nach einem kleinen Bier wurde entsprochen und ein Glas mit 0,4l serviert. Innerlich schmunzele ich über die hier eingesetzte Definition von klein. Es stört  mich nicht. Im Gegenteil, es passt hierher. Der Baileys im kleinen Cognacschwenker schwimmt über einem Eiswürfel und schmeckt in der Kombination mit dem leicht bitteren Guiness extra lecker. Meine Tischnachbarn singen ebenfalls mit. Es geht weniger darum den Ton zu treffen, als sein sich wohl fühlen über die Lautstärke des Gesangs und dem sich mitwiegen zur Musik öffentlich zu zeigen.
Links in den Nischen sitzen, auf den alten Sitzbänken mit aufgeschlagenen Kissen, junge und alte Gäste nebeneinander. Auch hier wird mitgesungen und geraucht. Rechts von uns tanzen ein Mann und eine Frau. Sie scheint nicht mehr ganz nüchtern zu sein und den Tanz umso mehr zu genießen. Ihre Augen leuchten und die Asche ihrer Zigarette fällt zu Boden, während sie die Hüften wiegt. In der Nähe der Theke ist die Stimmung nicht leiser. Es wird mitgesungen, getrunken und geraucht. Ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Toleranz herrscht vor. Nur ein Open Fire Place und der Duft nach Torf fehlen, um sich wie in einem Pub an der irischen Küste zu fühlen. Hier redet jeder mit jedem, es wird geduzt und die aufmerksame Wirtin kümmert sich um alle. Die eine oder andere Runde wird spendiert. Die von ihr und dem Kellner getragenen Guiness T-Shirts benötigen sie nicht, um sich als „Mitarbeiter“ zu erkennen zu geben. Sie sind Gastgeber und vermitteln dieses Gefühl durch und durch. Sie sind Gastgeber in ihrem Wohnzimmer.
Schaue ich mich um, sehe ich Menschen, die Zufriedenheit ausstrahlen. Es gibt niemanden, der nicht lächelt oder gar schweigsam ist. Sie scheinen sich über den gelungenen Abend, der allmählich in die Nacht übergeht zu freuen.
Und fühlen sich, mit mir zusammen, angenommen und sauwohl im WohnzimmerPub.

Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr

Klappentext:
Dies ist die Geschichte von drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Von drei Männern, die die Freiheit lieben. Eines Tages aber ist es mit ihrer Einsiedelei vorbei. Zuerst stößt eine Fotografin zu ihnen, sie sucht nach einem der letzten Überlebenden der Großen Brände, einem gewissen Boychuck. Kurze Zeit später taucht Marie-Desneiges auf, eine eigensinnige, zierliche Dame von achtzig Jahren. Die Frauen bleiben. Und während sie dem Rätsel um Boychucks Überleben nachgehen, entsteht etwas unter diesen Menschen, das niemand für möglich gehalten hätte.

Ein Leben mehr ist ein wundersam beseelter und berührender Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe, die Freiheit und die Natur. Ein Roman wie das Leben selbst: traurig und schön.
Was soll ich nur sagen? Ich habe ein wunderschönes Buch gelesen, welches ich jedem ans Herz legen mag.
Woran liegt es? Gibt es Bücher, in denen mit Respekt und ganz viel Einfühlungsvermögen über das hohe Alter geschrieben wird? Die meisten Bücher sind doch eher lustig, geschweige respektvoll geschrieben.
Sehr feinfühlig wird über drei Männer geschrieben, die sich in einem Wald in Kanada zurückgezogen haben. Sie wollen selbstbestimmt Leben, diesem Leben etwas abgewinnen, dem Tot entgegentreten und wenn es so weit ist, selbstbestimmt sterben.
Sie leben frei.
Ihre Ruhe wird gestört, als die Fotografin auf der Suche nach Boychuck zu ihnen stößt. Sie vermutet, dass der letzte Überlebende der Großen Brände bei den drei Männern lebt, bzw. einer von ihnen ist.
Kurz darauf kommt Marie hinzu. Eine kleine, zierliche Dame von über 80 Jahren , die fast ihr ganzes Leben in der Psychiatrie verbrachte. Hier kann und wird sie würdevoll leben.
Nun geht es in diesem poetischem Büchlein (die 192 Seiten ergeben wirklich nur ein dünnes Büchlein) auch um die Liebe.
Mehr mag ich über das Buch nicht schreiben, außer: Lesen und sich in den Bann ziehen lassen. Das Titelbild auf sich wirken lassen. Den Gedanken der alten Männer folgen, sich davon inspirieren lassen und die Essenz für sich ziehen.

„Read what I see“: Schwarzwälder Kirschtorte

„Ich habe meine Vitaminspritze schon gekriegt und ja, dann hat er mir noch einen Termin beim Urologen gemacht. Nee, Viagra brauche ich noch nicht.“
Ungewollt wird mir dieser Satz in einer Lautstärke um die Ohren geworfen, dass alle Nebengeräusche übertönt werden. Ich sitze in einem Straßencafé, trinke einen Milchkaffee und versuche mich in mein neues Buch einzulesen. Leider gelingt es mir nicht, denn der nächster Satz wird erneut sehr laut in das Telefon gebrüllt: „Immer wenn ich die Spritze gekriegt habe….“
Ja, was geschieht dann? Sucht dieser laut sprechende Mann ein Café auf und teilt seine Spritzenerfahrung sofort lauthals dem- oder derjenigen am Ende des Telefons mit? Wer mag am Ende des Hörers lauschen und sich instinktiv den Hörer eventuell sehr weit von der Ohrmuschel entfernt halten? Vielleicht würde den Gästen im Café das geführte Telefonat nicht so auffallen, wenn dieser Mann nicht mit einem sehr ausgeprägten sächsischen Akzent sprechen, bzw. brüllen, würde? Leider kann ich diesen Akzent schriftlich nicht wieder geben.
Ich schaue mir den Schreihals an. Ein sehr schlanker Mann in den 50ern, mit ausgeprägt schütterem Haar, die dünnen Beine in enge Jeans gekleidet, sitzt mit aufgestützten Armen und einer Zigarette im Mundwinkel an einem kleinen Tisch. Zwischen der Brüllerei nimmt er einen Zug von der Zigarette oder trinkt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Die Schwarzwälder Kirschtorte steht noch unberührt auf dem Tisch. Anscheinend zieht er das Telefonat der Torte vor.
„Nö, ich bewahre meine Brückentage. Ich fahre nicht weg.“
„Nein, ich nehme meine Brückentage dieses Jahr nicht:“
„Nö, ich behalte meine Brückentage.“
Das Telefonat scheint einen Schlenker von der Vitaminspritze, über den Urologen zu den Brückentagen genommen zu haben, die ihm anscheinend sehr wichtig sind.
Während ich hinüber schaue und mir wünsche, dass er sein Telefonat beenden würde bemerke ich für mich, dass ich noch nie einen Mann Schwarzwälder Kirschtorte habe essen sehen. Sehe ich diese Torte gleiten meine Gedanken zu betagten Frauen, Kaffeekränzchen, Omis mit Dackel an ihrer Seite, Häkeldeckchen im Wohnzimmer, Plüschsessel oder Cafés in denen die Kellnerinnen noch in einer weiß gestärkten Servierschürze bedienen, hinüber. Schwarzwälder Kirschtorte und jeder Art von Torte, die mit Eierlikör benetzt ist, verbinde ich eben mit Kaffeekränzchen und älteren Damen.
Nun sehe ich zum ersten Mal diese Torte auf einem Teller vor einem Mann stehen. Ein ungewohnter Anblick. Oder ein ungewohnter Gedanke für mich.
Mein Buch habe ich zur Seite gelegt.
Der Mann mittleren Alters telefoniert weiter. Es fallen wieder Begriffe wie Viagra, Spritzen und Urologe. Mit seinem sächsischen Dialekt dominiert er die Unterhaltung im Café.
Kurz bevor ich meinen Milchkaffee ausgetrunken habe, legt er sein Handy zur Seite und schiebt sich mit der Gabel ein großes Stück der Torte in den Mund. Irgendwie schaue ich fasziniert zu. Für mich verbinde ich diese Torte gedanklich weiterhin als „Torte für Frauen“ und habe heute doch das Gegenteil gelernt.

Übrigens begann ich das Buch endlich zu Hause in Ruhe zu lesen. Die Buchbesprechung hierzu folgt bald.

Kolumne: Restaurantbesitzer und ihre Definition von „barrierefreien Räumlichkeiten“:

… oder von einer, die auszog ein barrierefreies Restaurant für eine Familienfeier zu suchen und schnell merkte, dass diese Aufgabe auch bei einem größeren Aktionsradius nicht so leicht zu lösen ist.
Naiv vermutete ich zu Beginn, dass es nicht schwer sein kann, ein Restaurant für eine Familienfeier zu finden, welches für Rollstuhlfahrer geeignet ist. Es gibt Restaurants, die sich rühmen barrierefrei zu sein und dies bewerben. Es gibt sogar Restaurants, die sich mit dem Vermerk „Für Rollstuhlfahrer geeignet“ in Restaurantführer aufnehmen lassen. Bis heute ist mir nicht klar, nach welchen Kriterien diese Aufnahme erfolgte. Oder ob jemand diese Aussagen überprüfte.
Schüttelte ich zu Beginn der Suche noch den Kopf, packte mich zwischendurch die Wut. Bevor ich mir angebotene Räumlichkeiten anschaute lernte ich schnell, dass ein Telefonat zuvor unnötige Fahrtzeit ersparen und unnötigen Frust vermeiden könnte.
Meine Standardfragen an die Gastronomen lauteten meist:
„Ihre Räumlichkeiten sind für Rollstuhlfahrer geeignet?“ „Ihr Lokal verfügt über ein behindertengerechtes WC?“
Wirbt ein Restaurant damit für Rollstuhlfahrer geeignet zu sein, ist es für mich logisch, dass es über ein dementsprechendes WC verfügt. Nein, dem ist bei weitem nicht so.
„Unser Zugang zum WC ist nur 50cm breit, da kommt kein Rollifahrer rein.“Die meisten Rollstühle beginnen mit einer Breite von 63cm, es ist nur logisch, dass das nicht funktionieren kann.
„Unser Lokal ist super ausgestattet für Rollstuhlfahrer. Wenn sie die fünf hohen Eingangsstufen bewältigen können.“
Klar, Rollstuhlfahrer können ihren Rollstuhl wie einen fliegenden Teppich nutzen und ´mal eben in die Lokalität einfliegen.
„Schauen Sie sich gerne unser Lokal an. Innen ist alles barrierefrei.“ Die Betonung auf innen ließ mich aufhorchen. Wie mag es außen ausschauen?
„Draußen haben wir 18 Stufen. Unsere kräftigen Kellner tragen die Rollstuhlfahrer immer rein.“ Am liebsten wäre ich mit einem Gast vorbei gekommen, der einen elektrischen Rollstuhl nutzt. Eine kleine Armee an kräftigen Kellnern kann einen solchen Rollstuhl nicht hoch heben.
„Natürlich können wir Ihnen ein Buffet anbieten. Dann kann aber nur ein Gast im Rollstuhl anwesend sein und der muss an seinem Tisch sitzen bleiben, ansonsten ist alles zu eng.“
Aha, es werden nur sich nicht bewegende Rollstuhlfahrer gewünscht?
Es wurden Kellerräume angeboten, es gab aber keinen Aufzug um dorthin zu gelangen. Oder Räume in den oberen Etagen, die auch nur über Treppen zu erreichen waren. Diese Beispiele wiederholten sich in der Kontaktaufnahme zu den Gastronomen immer wieder und zogen sich wie ein roter Faden durch die Suche. Weiterlesen

„Read what I see“: Sollen wir heute den Hund grillen?

Ich bin ein Spanner. Korrekt gesagt eine Spannerin. Eine, die im Caféhaus nicht die Ohren verschließen kann und deren Augen vieles aufmerksam betrachten. Häufig registriere ich diese Beobachtungen erst später richtig.
Ich kann nicht anders.
So auch heute. Eine Frau um die 70 Jahre, mit dicken aufgespritzten Lippen, sitzt in meiner Nähe. Ich sehe sie nicht zum ersten Mal. Ihr rechtes Handgelenk ist stets mit breiten Goldarmbändern behangen, die ich üblicherweise nur als Halsschmuck bei Rappern kenne. Links trägt sie eine sehr große himmelblaue Armbanduhr aus Plastik. Ihren Mittelfinger ziert ein sehr klobriger Ring. Das rosa T-Shirt sitzt eng, die darüber getragene rote Kapuzenjacke beißt sich farblich mit dem T-Shirt. Die Haare sind silberfarben gefärbt und glänzen an manchen Stellen in einem leichten lila Ton. Die Brille passt sich der Haarfarbe an, die Sneakers der Uhr.
Ihr Gegenüber sitzt ein älterer Mann, der kaum auffällt. Fast unscheinbar wirkt. Nur wenn er redet, wirkt er lebendig. Ich vermute in ihm ihren Ehemann.
Betreten beide das Café, so setzt sie sich an einen Platz, während er das Frühstück und den Milchkaffee für beide holt. In der Zeit greift sie zu ihrem Smartphone und tippt etwas hinein. Etwas? Dieser Vorgang ist nicht zu überhören. Zum einen klappern die dicken Goldarmbänder, zum anderen klappert jede Buchstabeneingabe unerträglich laut. Sie hat den Ton am Smartphone bei der Ziffern- oder Buchstabeneingabe nicht deaktiviert. So selig, wie sie beim Tippen lächelt, vermute ich dass dieser Ton in ihr irgendwelche erogenen Zonen aktiviert? Anders kann ich es mir nicht erklären, wie sie ohne Pause minutenlang irgendetwas eintippt, während ich schier verrückt werde. Mich törnt dieser Ton in dieser Frequenz und in dieser Häufigkeit überhaupt nicht an. Im Gegenteil. Ich werde unruhig und möchte ihr das Smartphone entwenden und versehentlich in den Gulli fallen lassen. Ihr Mann tritt an den Tisch, verteilt das Frühstück und für einen kurzen Moment kehrt Ruhe ein.
Stille.
Sie sprechen nicht miteinander. Rühren Zucker in den Milchkaffee, trinken ihn und schlürfen dabei ein wenig. Laute, die ich als eine Wohltat gegenüber dem „Tipp,tipp“ empfinde.
Die Brötchen werden mit Butter beschmiert, Marmelade darauf verteilt und langsam hinein gebissen. Fast. „Ich bin unterzuckert“ sagt sie und schiebt sich das halbe Brötchen auf Ex, an den aufgespritzten Lippen vorbei, in den Schlund.
Ich halte mich bereit, um notfalls das Heimlich-Manöver anwenden zu können. Weiterlesen

Anne

Anne saß in ihrem großen, roten Ohrensessel in ihrer Wohnküche. Mit ihren weit über 80 Jahren fror sie immer, so dass der Kachelofen auch im Sommer brannte. Der Holzhändler freute sich darüber, wenn er ihr wieder eine große Fuhre Kleinholz anlieferte. Ihr war es egal. Eine kleine Marotte durfte sie sich in ihrem Alter doch leisten. Ihre Wohnküche mutierte zu ihrem Lebensmittelpunkt. Die Haustür war nie verschlossen, so dass ein jeder der wollte sie besuchen konnte ohne dass sie die Tür öffnen musste.
Sie mochte ihr betagtes, kleines Haus. Das Wohnzimmer wurde höchstens noch an Weihnachten benutzt, ihr Schlafzimmer nur noch zum Umkleiden. Ihr reichte die alte Küchencouch zum Schlafen. Tagsüber machte sie, auch wenn die halbe Verwandtschaft um sie herum schwirrte, ein Nickerchen in ihrem Ohrensessel. Manchmal wurden es auch zwei Nickerchen. Sie hörte den Unterhaltungen um sie herum, und gelegentlichen Streitereien, in denen es häufig um Kinkerlitzchen ging, nicht zu. Es interessierte sie nicht. Anne interessierten die Menschen, nicht ihre Verstrickungen untereinander.
Das letzte Nickerchen war heute nicht so erholsam. Sie träumte, dass Eimerweise Flugsand über sie geschüttet und sie ersticken würde. Als sie wach wurde, merkte sie, dass ihre Katze es sich auf ihrem Kopf gemütlich gemacht hatte und ihr dicker Schwanz Anne die Nase verstopfte. Blödes Viech. Sie so zu erschrecken und aus dem Schlaf zu reißen. Anne unterstellte ihr schon eine gewisse Absicht. Die Katze lief ihr vor einigen Wochen zu und mochte es nicht, dass Anne sie auf den Namen „Eisbär“ taufte. Bei dem weißen Fell eine logische Entscheidung, dachte sich Anne. Eisbär boykottierte die Entscheidung, indem sie mit keck aufgerichtetem Schwanz nur kam, wenn frisches Futter bereitgestellt wurde. Auf alle weiteren Rufe reagierte sie nicht.
Während Anne in ihrem Ohrensessel an einer Decke, bestehend aus Granny Squares, häkelte, dachte sie an die gestrige Unterhaltung mit ihrer Tochter. Anna hatte wieder einmal einen Kontrolltermin bei ihrem Hausarzt vergessen. Was heißt vergessen? Es ziepte nirgends in ihrem Körper und ihr Verstand war mopsfidel (wie sollte sie sich auch anders die schwierigen Häkelmuster ausdenken und ohne Notizen gemacht zu haben, los häkeln können?).
Daher sah sie nicht ein, den Landarzt aufzusuchen.
Ihre Tochter schimpfte und nahm gleich das böse Wort Demenz in den Mund. Ach, soll sie doch schimpfen und Modeworte verwenden. Letztens sprach ihre Tochter sogar davon, dass sie bald auf einen Burn Out zusteuern würde, wenn sie ihren Stresslevel nicht endlich senken würde. Anne war auf diesem Ohr taub und wechselte das Thema.
Nein, Anne hatte ihre Zeit viel sinnvoller verbracht. Über den Sommer weilte der Vater des netten Nachbarn beim Sohn und sie ging viel lieber mit ihm an den Rapsfeldern entlang spazieren, als in einer vollen Arztpraxis Stunden warten zu müssen.
Während dieser Spaziergänge fror sie auch nie. Vielleicht lag es daran, dass er sie immer keck anlächelte, wenn er in ihre Küche kam, um sie abzuholen?

Schreibübung zu den folgenden vorgegebenen 8 Wörter:
Kinkerlitzchen, Weihnachten, Flugsand, häkeln, keck, Eisbär, eimerweise, mopsfidel

Kolumne: Rituale, denen wir seit der Kindheit folgen

Immer wieder führe ich Gespräche mit Freunden und Bekannten, in denen wir uns an unsere Kindheit erinnerten. Wir erinnerten uns an Dinge, die es heute nicht mehr käuflich zu erwerben gibt und an Dinge, an die wir uns als Kinder selbstverständlich heran gewagt haben. Irgendwann sprachen wir auch über Rituale und schnell fiel folgendes auf: Ein jeder lächelte, schaute verträumt und brachte Bezeichnungen wie „Lassie“, „Wetten, dass“, „ZDF-Sommerprogramm“ oder „Nüsse für Aschenbrödel“ ins Spiel.
Ja, wir Erwachsenen, aus den 60er Geburtenjahrgängen verbinden Rituale in der Kindheit oft mit Fernsehen. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass das Anschauen einer Fernsehsendung ein kleines Familienevent war? Dass es nicht ein Rund-um-die-Uhr Fernsehprogramm gab? Ja, dass es sogar ein Standbild gab oder nur ein rauschen nach der letzten ausgestrahlten Sendung? Nein, ich bin keine 100 Jahre alt, sondern „erst“ 50 Jahre.
Mit Freundinnen wurde in der Vorweihnachtszeit „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ in geschaut und an Walnüssen geknabbert, während auf das Happy End gewartet wurde. Zu dem Zeitpunkt wurden tschechische Filme von uns geliebt. Sie verfügten über eine Detailtreue und über schöne Kostüme. Sie waren irgendwie anders und dadurch umso schöner.
Auch dieses Jahr werde ich mir den Film anschauen. Eingemummelt auf dem Sofa sitzen, mit einem Becher Tee und Strickzeug. Und nichts, so gar nichts, darf mich in dieser Zeit stören. Wie viele Menschen werden sich den Film anschauen, an ihre Kindheit denken, vielleicht einige Dialoge mitsprechen können und trotzdem neue Details im Film erkennen?
Mit der Familie wurde die „Hitparade“ geschaut. Der Ablauf dort war meist gleich: Dieter Thomas Heck sprach schnell und hektisch ins Mikrofon, insbesondere am Ende der Sendung.
Manchmal wurde ich enttäuscht, dass ich Howard Carpendale nicht erneut sehen konnte, da er mit seinem aktuellen Lied bereits dreimal aufgetreten war. Nach dreimal war Schluß mit den Auftritten..
Wurde dort nicht mehrmals eine Frau im Publikum angesprochen, die bei jeder Sendung der „Hitparade“ im Publikum war?
Stets schrieb ich die Autogrammadressen mit. Manchmal wurden sie mir von meiner Mutter oder meinem Vater diktiert. Ich konnte sei meist nicht so schnell alleine mitscheiben. Mein Büchlein war gefüllt mit Autogrammadressen verschiedenster Künstler. Nicht eines habe ich mir bestellt, doch das mitschreiben gehörte dazu. Genauso wie die Hebebühne, die die Künstler (meist die auf Nr.1 Platzierten) in die Höhe hob. Nicht zu vergessen die Windmaschine, die einige Male das lange Haar der verschiedensten Sängerinnen durch die Luft wirbelte.
Lange ist es her. Heute schaue ich mir noch nicht einmal VIVA oder MTV an, denn Musik bekomme ich dort nicht zu hören. Weiterlesen

Dave Eggers: The Circle

Klappentext:
Huxleys »Schöne neue Welt« reloaded: Die 24-jährige Mae Holland ist überglücklich. Sie hat einen Job ergattert in der hippsten Firma der Welt, beim »Circle«, einem freundlichen Internetkonzern mit Sitz in Kalifornien, der die Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat, indem er alle Kunden mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die einfach alles abgewickelt werden kann. Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz – so ein Ziel der »drei Weisen«, die den Konzern leiten – wird es keinen Schmutz mehr geben im Internet und auch keine Kriminalität. Mae stürzt sich voller Begeisterung in diese schöne neue Welt mit ihren lichtdurchfluteten Büros und High-Class-Restaurants, wo Sterneköche kostenlose Mahlzeiten für die Mitarbeiter kreieren, wo internationale Popstars Gratis-Konzerte geben und fast jeden Abend coole Partys gefeiert werden. Sie wird zur Vorzeigemitarbeiterin und treibt den Wahn, alles müsse transparent sein, auf die Spitze. Doch eine Begegnung mit einem mysteriösen Kollegen ändert alles … Mit seinem neuen Roman »Der Circle« hat Dave Eggers ein packendes Buch über eine bestürzend nahe Zukunft geschrieben, einen Thriller, der uns ganz neu über die Bedeutung von Privatsphäre, Demokratie und Öffentlichkeit nachdenken und den Wunsch aufkommen lässt, die Welt und das Netz mögen uns bitte manchmal vergessen.


„The Circle“, das Buch welches gefeiert wurde als neues „1984“ fand irgendwann auch den Weg auf meinen Büchertisch.Ich mag Dave Eggers Schreibstil, ihn als Person, ihn in Interviews und war ganz neugierig auf sein  Werk. Ja, auch ich sprach schon von Werk, weniger von Buch. Als ich es in den Händen hielt, war die Erwartungshaltung groß: Das Buch ist in einem schönen knalligen orange gestaltet. Das Firmensymbol des „Circle“ auf dem Cover abgebildet und das Buch beinhaltet gute 500 Seiten. Die Vorfreude nahm überhand und ich begann zu lesen.
Traurig zu lesen… denn meine Erwartungshaltung wurde so gar nicht erfüllt. Die 24-jährige Mae beginnt bei der tollen Firma „Circle“ zu arbeiten. Circle hat Google, Apple, Facebook, Twitter geschluckt und alle Kunden erhalten eine einzige Internetidentität, über die alles abgewickelt werden kann. Ob Handy, GPS, Blogs – alles wird von „The Circle“ verwaltet. Anonymität fällt weg, jeder ist durchsichtig im Netz mit der Folge, dass es Schmutz, Trolls im Internet nicht mehr gibt.
Die Firma ist ja ach so toll: Auf einem Camps angesiedelt, mit tollen Restaurants, hochwertiger Mitarbeiterbespassung, coolen Partys.
So ungewöhnlich finde ich DAS nicht. Wer schon einmal bei einer amerikanischen Firma gearbeitet hat, kennt ähnliche Ideen auf einem Campus, um seine Mitarbeiter zu bespassen, wenn auch nicht auf so hohem Niveau.
Mich schreckt auch die Idee der absoluten Transparenz durch das Internet nicht ab. Wir sind bereits auf dem Weg dorthin und nehmen es teilweise bewusst in Kauf.
Diese Ideen sind also nicht so neu und innovativ, dass von einem neuen „1984“ geschrieben werden kann. Never, ever! An diese revolutionären Vorstellungen und Visionen reicht „The Circle“ einfach nicht heran. Auch nicht an den zeitlichen Rahmen. In „1984“ wurden Dinge beschrieben, die 60 Jahre später wahr wurden. Hier geht es um ein Visiönchen, welches in absehbarer Zeit wahr werden kann. Nichts Revolutionäres.
Um auf Mae zurück zu kommen: Erfreut über ihren Job mausert sie sich schnell zur Vorzeigemitarbeiterin. Einer Mitarbeiterin, die nichts hinterfragt. Sie macht mich in ihrer Naivität  aggressiv. Was beim Lesen manchmal dazu führt, dass ich laut dachte: Du blöde Kuh, das ist doch nicht Dein Ernst??
Sie ist für die absolute Transparenz, entwickelt weitere Ideen dafür und merkt nicht, dass es zu Lasten der Freiheit geht.
Was geschieht mit den Menschen, die nicht absolut transparent sein wollen? Dies wird am Beispiel ihres Ex-Freundes gezeigt und selbst hier bekommt sie nicht die Kurve, um zu hinter fragen. Ich schrieb nur wenige Zeilen zuvor: Blöde Kuh….
Eine Solche Wortwahl und eigene Reaktion kenne ich eigentlich nur aus einem schlechten Film. Dann schalte ich als Konsequenz ab. Tja, ist das Buch deshalb schlecht?
Es ist schlecht in Anführungszeichen, weil es mich enttäuscht hat. Ich durch Interviews und auch durch Denis Scheck, den ich beinahe bewundere, geködert wurde mit einem angeblichen Meisterwerk. Diese Erwartungshaltung wurde nicht erfüllt und ich bin halt enttäuscht.
Was bleibt vom Buch übrig?
Gute und einfach gezeichnete Charaktere, keine parallelen Handlungsstränge, so dass es sich einfach und leicht lesen lässt. Ich moniere es, denn einfach und leicht zu lesen ist für mich kein Qualitätsmerkmal.
„The Circle“ wird ausschließlich aus Maes Perspektive erzählt. Da diese manchmal recht naiv und einfach gestrickt rüber kommt, fühle ich mich als Leser manchmal weiter denkend als sie.
Ich fühlte mich genervt.. Man möchte sie schütteln, schlagen, damit sie aufwacht. Denn die einige Chance, dem Treiben ein Ende zu setzen…. vermasselt sie. In dem Sinne gibt es kein Happy End.
Fazit: Normale Lektüre, normaler Roman, der den Hype nicht wert war. Definitiv kein Buch mit neuen Visionen, sondern der Ansatz einer Beschreibung, wie es in wenigen Jahren sein könnte. Eine Entwicklung, die jeder nachvollziehen kann. Unterbrechen kann?

Leïla Slimanis: Dann schlaf auch du

Klappentext:
Der Preis des Glücks
Sie wollen das perfekte Paar sein, Kinder und Beruf unter einen Hut bringen, alles irgendwie richtig machen. Und sie finden die ideale Nanny, die ihnen das alles erst möglich macht. Doch wie gut kann man einen fremden Menschen kennen? Und wie sehr kann man ihm vertrauen?
Sie haben Glück gehabt, denken sich Myriam und Paul, als sie Louise einstellen – eine Nanny wie aus dem Bilderbuch, die auf ihre beiden kleinen Kinder aufpasst, in der schönen Pariser Altbauwohnung im 10. Arrondissement. Wie mit unsichtbaren Fäden hält Louise die Familie zusammen, ebenso unbemerkt wie mächtig. In wenigen Wochen schon ist sie unentbehrlich geworden. Myriam und Paul ahnen nichts von den Abgründen und von der Verletzlichkeit der Frau, der sie das Kostbarste anvertrauen, das sie besitzen. Von der tiefen Einsamkeit, in der sich die fünfzigjährige Frau zu verlieren droht. Bis eines Tages die Tragödie über die kleine Familie hereinbricht. Ebenso unaufhaltsam wie schrecklich.
Es gibt Bücher, die ziehen einen von der ersten Seite in den Bann. So erging es mir mit „Dann schlaf auch du“ von Leïla Slimanis. Der Klappentext warnte mich ein wenig vor. Nicht alles könnte eitel Sonnenschein sein, wenn man sich die Familie mit den zwei Kindern und der Nanny vorstellt. Dann öffnete ich das Buch, las die ersten drei Seiten, die mit den Sätzen „Das Baby ist tot. Wenige Sekunden haben genügt.“ begannen und hatte den Cliffhänger nicht am Ende eines Buches vorgefunden, sondern im Epilog. Ich erahnte, was mich auf den 224 Seiten erwarten könnte. Ein Buch, eine Geschichte, die nicht für schwache Nerven gedacht ist.
Mit diesen Informationen beginnt das Buch. Schwenkt nach dem Epilog in die Geschichte über die vierköpfige Familie über. Mutter Myriam ist Rechtsanwältin, Vater Paul ist Musiker. Die Mutter ist inzwischen vom Mutterdasein erschöpft, ein wenig frustriert und gelangweilt. Durch Zufall erhält sie die Chance als Rechtsanwältin tätig werden zu können. Vater ist einverstanden und eine Nanny wird gesucht.
Diese wird in Louise gefunden. Eine ältlich gekleidete, kleine, sehr schlanke Frau, die fast zu perfekt scheint. Sich nicht nur als Nanny einbringt sondern sich Stück für Stück im Haushalt, nein im Leben der Kinder und Eltern, unentbehrlich macht.
Mit dem Wissen aus dem Epilog, dass diese besagte Nanny die Kinder ermordet hat, möchte ich nun wissen. Warum? Warum mordete sie?
Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. In Rückblicken, in denen das Leben der Nanny beschrieben wird, können sich nur Gründe erahnen lassen. In der Gegenwart wird deutlich, dass sie vereinsamt und verarmt lebt. Raffiniert verwebt Leïla Slimanis die Vergangenheit der Nanny mit ihre Gegenwart. In Rückblicken, die vielleicht das Unerklärliche erklären können? Oder auch nicht?
Beschreibt die Familie, die die ausufernde Hilfe von Louise als selbstverständlich nimmt. Gelegentlich die ungesunde Symbiose erkennt, doch den Wunsch nach eigener Selbstverwirklichung über diese stellt.
Ein beklemmendes und aufwühlendes Buch, welches in der Rubrik Thriller veröffentlich wurde und doch vieles mehr ist.
Ich las es in einem Rutsch an Ostern durch. Nicht nur, um die Antwort nach dem Motiv zu finden, warum Louise die Kinder tötete, sondern weil mich der sachlich und distanziert wirkende Text in den Bann zog. Aufgewühlt legte ich es nach dem Lesen zur Seite und mein Gedankenkarussell kam so schnell nicht zur Ruhe.