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„Read what I see“: Schwarzwälder Kirschtorte

„Ich habe meine Vitaminspritze schon gekriegt und ja, dann hat er mir noch einen Termin beim Urologen gemacht. Nee, Viagra brauche ich noch nicht.“
Ungewollt wird mir dieser Satz in einer Lautstärke um die Ohren geworfen, dass alle Nebengeräusche übertönt werden. Ich sitze in einem Straßencafé, trinke einen Milchkaffee und versuche mich in mein neues Buch einzulesen. Leider gelingt es mir nicht, denn der nächster Satz wird erneut sehr laut in das Telefon gebrüllt: „Immer wenn ich die Spritze gekriegt habe….“
Ja, was geschieht dann? Sucht dieser laut sprechende Mann ein Café auf und teilt seine Spritzenerfahrung sofort lauthals dem- oder derjenigen am Ende des Telefons mit? Wer mag am Ende des Hörers lauschen und sich instinktiv den Hörer eventuell sehr weit von der Ohrmuschel entfernt halten? Vielleicht würde den Gästen im Café das geführte Telefonat nicht so auffallen, wenn dieser Mann nicht mit einem sehr ausgeprägten sächsischen Akzent sprechen, bzw. brüllen, würde? Leider kann ich diesen Akzent schriftlich nicht wieder geben.
Ich schaue mir den Schreihals an. Ein sehr schlanker Mann in den 50ern, mit ausgeprägt schütterem Haar, die dünnen Beine in enge Jeans gekleidet, sitzt mit aufgestützten Armen und einer Zigarette im Mundwinkel an einem kleinen Tisch. Zwischen der Brüllerei nimmt er einen Zug von der Zigarette oder trinkt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Die Schwarzwälder Kirschtorte steht noch unberührt auf dem Tisch. Anscheinend zieht er das Telefonat der Torte vor.
„Nö, ich bewahre meine Brückentage. Ich fahre nicht weg.“
„Nein, ich nehme meine Brückentage dieses Jahr nicht:“
„Nö, ich behalte meine Brückentage.“
Das Telefonat scheint einen Schlenker von der Vitaminspritze, über den Urologen zu den Brückentagen genommen zu haben, die ihm anscheinend sehr wichtig sind.
Während ich hinüber schaue und mir wünsche, dass er sein Telefonat beenden würde bemerke ich für mich, dass ich noch nie einen Mann Schwarzwälder Kirschtorte habe essen sehen. Sehe ich diese Torte gleiten meine Gedanken zu betagten Frauen, Kaffeekränzchen, Omis mit Dackel an ihrer Seite, Häkeldeckchen im Wohnzimmer, Plüschsessel oder Cafés in denen die Kellnerinnen noch in einer weiß gestärkten Servierschürze bedienen, hinüber. Schwarzwälder Kirschtorte und jeder Art von Torte, die mit Eierlikör benetzt ist, verbinde ich eben mit Kaffeekränzchen und älteren Damen.
Nun sehe ich zum ersten Mal diese Torte auf einem Teller vor einem Mann stehen. Ein ungewohnter Anblick. Oder ein ungewohnter Gedanke für mich.
Mein Buch habe ich zur Seite gelegt.
Der Mann mittleren Alters telefoniert weiter. Es fallen wieder Begriffe wie Viagra, Spritzen und Urologe. Mit seinem sächsischen Dialekt dominiert er die Unterhaltung im Café.
Kurz bevor ich meinen Milchkaffee ausgetrunken habe, legt er sein Handy zur Seite und schiebt sich mit der Gabel ein großes Stück der Torte in den Mund. Irgendwie schaue ich fasziniert zu. Für mich verbinde ich diese Torte gedanklich weiterhin als „Torte für Frauen“ und habe heute doch das Gegenteil gelernt.

Übrigens begann ich das Buch endlich zu Hause in Ruhe zu lesen. Die Buchbesprechung hierzu folgt bald.