„Read what I see:“ Eine Bootsfahrt, die ist …..

Das Geräusch von kratzender Kreide auf einer Tafel ist eines der gemeinsten Geräusche, die ich kenne. Es gibt ein Geräusch, welches nicht gemein ist, mich aber unendlich nervt: Das Gekreische von Metallstühlen, welche auf Bootdecks hin und her geschoben werden. Ratsch, ratsch. Auf Decks von Ausflugsbooten. Es sind diese Art von Stühlen, die auf der Sitzfläche drei Verstrebungen und an der Rücklehne zwei Verstrebungen haben. Alternativ fünf kleine auf der Sitzfläche und drei auf der Rückenfläche. Könnten meine Ohren sprechen, so würden sie laut brüllen. „Hebt die Stühle an und schiebt sie nicht einfach hin und her!“ Doch wie könnte es man den bequemen Ausflüglern erklären? Da wäre das verhaltensauffällige Kind mit den bildungsfernen Eltern. Die würden es doch gar nicht verstehen. Oder verstehen wollen. Die zittrige, kleine Oma, die mit ihrer nicht weniger zittrigen männlichen Begleitung alle zwei, drei Minuten mit unsicheren, sehr kleinen, Schritten zur Reling geht, auf den Horizont schaut, um dann wieder langsam zu ihren Tisch zu gehen und mindestens eine Minute ihren Stuhl in Position schiebt, sich dann so hinein plumpsen lässt, dass sie mit ihm weg rutscht und ihn erneut zu schieben beginnt. Ratsch, ratsch. Sie verfügt wirklich über eine kleine Statur, trägt eine weiße lange Hose, darüber ein rosafarbenes Rüschentop. Von hinten sieht man ihre fleischfarbene Miederhose aus dem Hosenbund herausragen. Jemand sollte sie darauf aufmerksam machen.
Ratsch, ratsch, ratsch, ratsch. Die Stühle werden erneut geschubst, geschoben und sich ein Plätzchen eingerichtet. Je nachdem wie schwer die Gäste sind knattern dies Stühle zusätzlich kräftig.
Ein Pärchen setzt sich hin und ruft sofort nach der Bedienung. „Ein großes Weizen und einen Aperol.“ Er trägt eine kurze Jeanshose, rotes Achselshirt, die seine Tattoos auf den Armen zeigen, Flips Flops und eine schmale Sonnenbrille. Das Gesicht ist unrasiert. Eine Lederkette mit Kreuz ziert den breiten Hals, im linken Ohr blinkt ein Ohrring. Sie trägt ebenfalls eine kurze Jeanshose, ein rosafarbenes Top und Flip Flops. Als sie aufsteht schmatzen diese auf dem Boden des Decks. Ihre in der Armbeuge getragene Handtasche blinkt durch die Anzahl der angebrachten Strasssteine. Diese sind auch an ihrer Sonnenbrille reichlich vertreten. Sie kommt mit einem großen Weizenbier zurück, verschüttet beim Laufen die Hälfte auf dem Boden. Als sie mit ihren Flip Flops dort hinein tritt, verwandelt sich das schmatzende Geräusch in ein „gleich lege ich mich lang“ Geräusch. Leichte Schadenfreude macht sich in mir breit, die nicht erfüllt wird.
An der nächsten Anlegestelle kommen weitere Ausflügler an Bord. Die nächsten Minuten sind gefüllt mit Stimmengewirr und Fragen wie: „Wo sollen wir uns hinsetzen?“ „Ist dieser Stuhl noch frei?“ „Maaaaamaaaa, wo ist das Klo?“, währenddessen die Stühle von vorne nach hinten und zur Seite gerückt werden. Die damit einhergehende Geräuschkulisse sprengt fast meine ohrale Toleranzgrenze. Ratsch, ratsch höre ich im Akkord. Um mich abzulenken beobachte die Gäste. Eine alte Frau mit Sonnenhut, der sich durch den Wind ständig von ihrem Kopf löst, zerschneidet hingebungsvoll zwei Äpfel in achtel mit denen sie ihren betagten Ehemann füttert. Als die Kellnerin sie nach ihrem Getränkewunsch fragt, wird diese mit herrischem Ton weggeschickt.
Links von ihnen sitzt eine Familie mit Kindern, wobei mir die Eltern auffallen. Er schaut ständig an sich herunter, spricht über seine nicht vorhandene Körperbräune und schiebt sein T-Shirt an den Oberarmen hoch, damit diese auch braun werden. Blöderweise rutschen diese immer wieder herunter. Er rollt sie wieder hoch. Das Spiel geht nun seit über zehn Minuten. Mir erschließt sich der Sinn der Aktion nicht, da der Rest der Arme bleich ist. Hofft er in einer Stunde Fahrt eine nahtlose Bräune an den Armen zu bekommen?
Rechts von ihm sitzt seine Frau. Die Haare sind wasserstoffblond gefärbt, das pinkfarbene T-Shirt legt sich eng an den Oberkörper. Mit einem Coffee to go Becher in der Hand ließ sie sich krachend in einen der Stühle fallen, der unter ihr, mit ihr ein Stück wegrutscht. Dadurch überhaupt auf sie aufmerksam geworden fallen mir besonders die Oberschenkel ins Blickfeld, die links und rechts am Stuhl herausquellen. Es fällt mir schwer vorzustellen, wie sie aus diesem unbeschadet aufstehen wird. Auch sie trägt eine Sonnenbrille, die mit vielen Strasssteinen besetzt ist. Um ihren kräftigen Hals, den man nur von hinten betrachten kann, denn vorne ist er vom Doppelkinn überlagert, trägt sei eine dicke Perlenkette. Ob es sich um künstliche oder echte Perlen handelt mag ich nicht beurteilen, Ihre pink lackierten Fußnägel beißen sich farblich mit dem pink ihres T-Shirts.
Das verhaltensauffällige Kind mit der Stimme von Chucky, der Mörderpuppe, ist verschwunden oder zumindest schweigsam. Allgemein befinden sich sehr wenige Kinder auf dem Schiff. Ein etwa dreijähriger Junge verfüttert seine Chicken Nuggets an die Enten im See, die es dort gar nicht gibt. Erst als das letzte Nugget über Bord geworfen wurde bemerken die Eltern, dass der Teller ihres Sohnes zwar leer, er aber nicht satt geworden ist. Sein Geschrei verdeutlicht es.

Mein Ziel ist erreicht und ich stehe auf. Ebenso die alte Dame mit Hut, die zuvor noch ihre Äpfel klein geschnitten hatte. Die Abfälle dreht sie in ein kleines Stück Zeitungspapier ein, welches sie dann zwischen zwei Streben am Stuhl quetscht.

Beim Verlassen des Schiffes bemerke ich erneut, dass manche männliche Angestellte Allüren an den Tag legen und sich für die schönsten weit und breit halten. Oder zumindest wie Sascha Hehn als Steward auf dem Traumschiff fühlen, Dabei reicht es bei den eitlen Gockeln noch nicht einmal zur abgehalferten Version.

Ich mag Stinker

 

Irgendwann begann ich mich zu langweilen.
Die Vorlesungen in der Uni unterforderten mich. Meine Mitstudenten empfand ich als Menschenmenge, die sich dem intellektuellen Einheitsbrei ergaben. Ich konnte sie nicht mehr ertragen.
Statt in den Hörsälen über Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Jean-Paul Sartre belehrt zu werden, besuchte ich, für mich anfangs fremde, Haushalte. Ich war ein heißbegehrter Besuch. Wenn ich ging, gab es keine Staubflecken mehr, keine mit gelben Rändern versehenen Toilettenbecken, keine mit klebrigen Flecken versehene Kühlschränke. Ich mochte es, wenn ich in den Katzentoiletten das Streu peinlich genau durchsieben konnte oder stundenlang Staub saugen konnte.
Kehrwochen übernahm ich nicht. Ich mochte es nicht, wenn Nachbarn aus ihren Haustüren strömten und mir ihren neuesten Klatsch unterbreiten wollten. Ich wollte alleine sein, wenn ich mich über eine Wohnung oder ein Haus hermachte. Für mich war es ein Hermachen. Ich entfernte Schmutz und saugte die Bewohner mit ihren Gegenständen und Geschichten in mir auf.

Ich bin anders. Anders als die anderen? Warum macht es mir so viel Spaß, den Schmutz anderer Menschen zu entfernen?

Später langweilte ich mich auch in den Häusern. Die geschnorrten und aufgesogenen Geschichten erreichten mich nicht mehr. Ich spürte, wie so oft, nichts mehr.

Ich benötigte eine Steigerung und fand sie nach einer Weiterbildung.

Jetzt kümmere ich mich um die Entfernung von Blutlachen oder Körperflüssigkeiten. Ich bin vorübergehend in Wohnungen unterwegs, in denen ich von Fliegenplagen begrüßt werde. Komme ich nach Haus, so habe ich oft noch den Leichengestank in der Nase.
Mein Auto ist nun ein Caddy, vollbepackt mit den verschiedensten Reinigungsmitteln in Kanistern. Der größte Kanister enthält unter anderem Eisenionen. Damit bekomme ich noch den schwierigsten Blutfleck entfernt.
Vernebelungsmaschine, Plastikoveralls, Plastikschuhe, Atemmasken und viele Handschuhe stapeln sich nun auf meinem Rücksitz.
Als ich damals in die Firma kam und beim Inhaber nach einer Arbeitsstelle nachfragte, stellte er mir nur zwei Fragen:
„Haben Sie einen guten Magen, der auch bei Stress nicht kapituliert?“
„Ja.“
„Sind sie psychisch und physisch extrem belastbar.“
„Ja.“
Er testete mich sofort und nahm mich mit zu einem sogenannten Stinker. Nachdem wir unsere Schutzbekleidung, inklusive der Vollschutzgesichtsmaske, angezogen hatten und die Wohnungstür öffneten, erwartete uns Ungeziefer in allen Variationen. Die meisten befanden sich um den komischen Schleimfleck herum.
Mit viel Phantasie stellte dieser Fleck die aufgeweichten Umrandungen eines menschlichen Körpers vor dem Wohnzimmerkamin dar. Die dickliche hellgelbe Flüssigkeit war durchsetzt mit Fliegen, Maden und anderen Tieren mit Flügeln.
Mein Chef schaute mich an: „Er lag eine lange Zeit unentdeckt in der Wohnung. Je nach Innen- oder Außentemperatur entwickelt sich der Körper in diese Richtung.“
Ob der Körper weiblich oder männlich gewesen war, erklärte er mir damit nicht. Mich interessierte es weniger.
Eine lange Zeit reinigten wir gemeinsam die Wohnung. Sammelten das Ungeziefer ein, schrubbten, desinfizierten und reinigten mit einem großen Kraftaufwand.
Zwischendurch bemerkte ich immer wieder einen langen Blick von meinem Chef.
Es störte mich nicht.
Als wir Mittagspause machten und ich in eines meiner Mettbrötchen biss, während er eine Gabel nach der anderen seines westfälischen Kartoffelsalates zu sich führte, stellte er mit einem leicht verwunderten Unterton in der Stimme fest:
„Einen guten Magen hast Du auf jeden Fall. So oft ich auch schaute, Du bekamst nicht den Hauch eines Grüntons in Dein Gesicht.“
„Warum auch? Ich mag den Dreck der besonderen Art!“
Irgendwann waren wir fertig und er zeigte mir, wo und wie ich den Biomüll entsorgen musste.
Müde und mit neuen Eindrücken fuhr ich fröhlich heim.

Endlich habe ich wieder Spaß und spüre mich. Ich bin in meinem Element und sauge nun Geschichten der ganz anderen Art auf. Abends komme ich nun beschwingt und gesättigt heim, nachdem ich den Biomüll fachgerecht entsorgt habe. Mein Hunger nach besonderen Geschichten wird endlich gesättigt. Bevorzugt nehme ich die Aufträge an, die meine Kollegen ablehnen. Wichtig war und ist mir, dass keine Menschen um mich herum sind. Angehörige oder neugierige Nachbarn bestrafe ich mit eisigem Schweigen. Überhaupt habe ich es mir abgewöhnt zu reden. Viel lieber konzentriere ich mich auf die Gerüche, das Blut in den verschiedenen Variationen, die reichhaltigen Fliegen oder auf Knochensplitter.
Gelegentlich muss ich an einen Tatort, wenn sich jemand mittels Schusswaffe von seinem Kopf getrennt hat. Oder versuchte sich davon zu trennen. Meist benötige ich die große Leiter, um die Gehirnfragmente und die Knochensplitter von der Decke zu entfernen. Wer sich das Gewehr in den Mund schiebt, denkt vermutlich nicht daran, wie weit und hoch sein Kopfinhalt fliegen kann.
Mir macht es nichts aus. Ich zupfe die Splitter aus den Wänden und reinige, was das Zeug hält. Schrotflintenbenutzer stellen mich einerseits vor eine wirkliche Herausforderung, andererseits bin ich anschließend auf eine Art befriedigt, die sehr speziell ist.

Leider hatte ich seit genau 6 Wochen keinen Schrotflintenkopfschuss mehr.
Mir fehlt etwas. Mir fehlt wirklich etwas.

Ich bin Tatortreinigerin.
Keine Tatortmacherin.

 

Kolumne: Manisch-Depressiv: Ich bin meiner Erkrankung (inzwischen) dankbar Teil 2

Dieser Meinung war er auch und überwies mich an eine Psychiaterin.
An dem besagten ersten Arbeitstag telefonierte ich mit einer Freundin zu der ich fuhr. Sie telefonierte mit dem Hausarzt, er mit der Psychiaterin.  Am nächsten Morgen ging ich zu ihr hin und sie gab mir eine Einweisung für die Psychiatrie.
Sehr gut kann ich mich daran erinnern, wie ich die Psychiatrie stundenlang zu Fuß suchte, endlich fand und in irgendeinem Zimmer ein Gespräch hatte. Ein langes Gespräch. An die gestellten Fragen kann ich mich nicht erinnern. Nur an die Aussage, dass ich bitte aufhören solle zu sagen: „Das ist normal; da muss ich durch,“ wenn es um schlimmer Erlebnisse ging.
Irgendwann wurde mir angeboten die Station anschauen. Wie unbedarft war ich. Durch die Aussagen meiner Freundin dachte ich, ich komme in eine Art Kurklinik. Denkste: Die Tür der Station ging zu und ich konnte sie nicht mehr von innen öffnen Dazu waren die Fenster vergittert. Da dämmerte es mir: Ich bin in der Klapse!
Trotzdem behielt ich meine große Klappe: Meinte noch: „Danke für´s zeigen, aber in ein 3-Bett Zimmer gehe ich nicht, außerdem muss ich zur Arbeit und ich würde ich ein paar Tagen wiederkommen.“ Dieser lange, große Pfleger machte mir daraufhin sehr lange klar, dass es nicht mehr gehen würde. Letztendlich durfte ich in Begleitung kurz nach Hause, Koffer packen und von daheim eine Email an den Arbeitgeber schicken.
Knappe 2 Monate hielt ich mich dort auf. Die Diagnose wurde gestellt und rückwirkend ist mir die sehr gute Betreuung bewusst. Täglich gab es mehrere Gespräche mit der Psychologin und mit dem klinischen Direktor: Irgendwie war ich für sie spannend. Im ersten Moment war mir die Diagnose egal. Ich erkannte die Dimension dahinter noch nicht. Mir ging es ausschließlich darum den Suizid verhindern zu lassen. Heute weiss ich, dass er ein Symptom der schweren Depression war und kein Dauergedanke. Damals wollte ich nur gezwungen werden weiterzuleben. Später begriff ich, was die Diagnose bedeutet, welche Einschränkungen sie für mein weiteres Leben bedeutet und ich büchste aus, um den letzten Schritt zu machen. Ich fand mich auf der geschlossenen Station wieder und kämpfte mit mir. Es war die Hölle, denn nun wollte ich nicht mehr dort bleiben. Irgendwann akzeptierte ich es und nach den knapp zwei Monaten war ich über den Aufenthalt froh. Ansonsten wäre irgendwann im Januar 2005 von mir der Plan umgesetzt worden. Heute für mich unvorstellbar, dass ich jemals so gedacht und geplant hatte.
Natürlich war der Aufenthalt nicht immer angenehm. Der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik mit Akutaufnahme kann nicht angenehm sein. Es gab einige fixierte, viele schreiende Menschen. Oder einen Sexualstraftäter, der mich immer angrabschte und gegen den ich nichts machen konnte. „Auch er ist auch krank“ musste ich mir sagen lassen. Privatsphäre war nicht vorhanden, die sanitären Zustände schlimm. An eine Situation kann ich mich noch gut erinnern: Eine junge Frau, mit Baskenmütze bekleidet, befragte den ganzen Tag und die ganze Nacht auf der Station Patienten. Ständig trug sie Notizen in ihr Klemmbrett ein. Einmal schaute sie mich an und meinte nur: „Fett kann man auch absaugen“. Ich weiß noch, wie ich in schallendes Gelächter ausbrach und mich nicht mehr so krank fühlte. Während ich auf das Medikament (Valproinsäure) eingestellt wurde, nahm ich 17kg zu. Zusätzlich zu meinem üblichen Übergewicht war das eine Menge.
Später erfuhr ich, dass sie Medizinstudentin war, eine manische Phase hatte und mit einem Medikament zwangsbehandelt wurde. Meiner kleinen Schwester erzählte ich von der Diagnose und wo ich mich befand. Ihre Telefonate drangen zu mir durch. Später besuchte mich mein Vater (der gute 500km entfernt wohnt) mit meiner Mutter. Das rechne ich ihm noch heute hoch an. Seine Unsicherheit konnte ich daran erkennen, dass er sich hinter seiner BILD Zeitung versteckte. Ist ja auch nicht leicht, wenn sich die eigene Tochter umbringen will und er davon durch meine Freundin erfährt.
Wir haben nie wirklich im Detail darüber gesprochen. Doch habe ich das Gefühl, dass er ein Gespür dafür bekommen hat, auch wenn nicht viele Worte darüber verloren werden. Natürlich über die inzwischen vorhandene Erwerbsunfähigkeit, aber nicht über die Erkrankung an sich.
Meine Mutter ist da ganz anders: Noch heute erwähnt sie, wie schlimm ich damals ausgeschaut habe. Hallo: Ich stand unter Tavor, wurde auf Valproinsäure eingestellt und wurde vor mir selber geschützt. Sie kann die Diagnose nicht verstehen: „Stelle Dich nicht so an“ sind gerne verwendete Sätze.
Dem Klinikaufenthalt schloss sich eine Rückfallprophylaxetherapie an. Was war ich ein schwieriger Fall! Als ich zum ersten Termin erschien drückte mein Körper folgendes aus: Hier bin ich, mache mich wieder heile, ich will wieder die alte sein. Und komme mir auch bloß nicht  mit der Aussage, ich soll beruflich kürzer treten. Mit 40 Stunden in der Woche lasse ich mich nicht abspeisen.
In der Rückfallprophylaxe geht es darum zu lernen, Anzeichen zu erkennen, bewusster zu leben um Rückfälle zu vermeiden. Um Manien vorzubeugen bedeutet es unter anderem konkret

  • Einen geregelten Schlafrhythmus zu haben (Schlafmangel führt gerne zu Manien)
  • Langstreckenflüge zu vermeiden
  • Flackernde Lichter (wie in Diskotheken)

Es geht darum, was kann ich machen, um die Arbeitskraft zu erhalten?
Für mich bedeutete es, irgendwann akzeptieren zu müssen, dass ich nicht über 40 Stunden arbeiten sollte, was im Vertrieb sehr schlecht machbar ist. In den Folgejahren war ich zwar vor Manien gefeit, allerdings nicht vor Depressionen. Inzwischen kann ich gut erkennen, wenn ich mich in einer leichten oder mittelschweren Depression befinde und kann aufpassen, dass es zu keiner Verschlimmerung kommt.
Nein, ich muss mich korrigieren. Im Jahr 2014 erwischte mich die schlimmste Depression seit 2004. Ihr war ein sehr anstrengendes Jahr voraus gegangen und so sehr ich auch aufpasste, es erwischte mich schier über Nacht.
Soll ich froh sein, dass ich fast 10 Jahre davor gefeit war? Gefeit vor dieser Schwere? Ja, heute sehe ich es so. In der Phase war ich, wenn ich überhaupt über ein Gefühl verfügte, wütend darüber, dass ich erkrankte. Wütend über das letzte (nicht das aktuelle) Mietverhältnis, in dem auch mit Psychoterror seitens des Vermieters agiert wurde. Komischerweise funktionierte ich in dieser schlimmen Phase, um dann Monate später  zusammen zu klappen.
Solche Selbstvorwürfe mache ich mir dann. Statt mir zu sagen: Hey, schaue, was Du alles Positives geleistet hast.
Manchmal, aber auch nur manchmal, wünsche ich mir in unbedachten Momenten, eine klitzekleine Manie. Eine Hypomanie für wenige Stunden. Mich einfach wieder ein wenig überdreht und kraftvoll zu fühlen. Die Manie ist aber die Phase, die mich am meisten ängstigt. Bei mir schlägt sie besonders damit zu, dass ich überhaupt kein Gefühl für Gefahr habe oder mich bewusst und provokativ in diese begebe.
Mit Medikamenten ist sie schnell behoben. Sollte ich nicht einsichtig sein, würde ein kurzer Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie folgen. Nach der medikamentösen Einstellung auch die Entlassung. Die medikamentöse Behandlung schlägt schneller an als bei einer Depression.
Wie kann ich nach diesen Zeilen schreiben, dass ich dieser Erkrankung inzwischen dankbar bin? Es gibt sicherlich Betroffene und Angehörige, die mir für diese Aussage den Kopf abreißen würden!
Ich bin ihr dankbar, weil ich mich von sehr vielen oberflächlichen Menschen getrennt habe.
Ein großer Bekanntenkreis ist mir nicht wichtig. Wichtig sind mir Freunde, die auch Freunde sind.
Durch den Befehl, die spätere Akzeptanz, dass ich nicht mehr als 40 Stunden die Woche arbeiten soll und kann, lernte ich, dass Arbeit nicht alles ist. Bis dahin identifizierte ich mich über Leistung und über Erfolg. Als das weg fiel, musste ich mich auf andere Dinge konzentrieren, bzw. diese suchen. So kam ich auf Reiki und werde dies auch wieder praktizieren, wenn ich eine neue Lehrerin gefunden habe.
Plötzlich hatte ich Freizeit, entdeckte neue Interessen, entdeckte mich. Entdeckte neue Ehrenämter. Sich mit sich selber auseinanderzusetzen kann anstrengend, mühsam, ermüdend sein. Aber auch produktiv.
Niemals hätte ich mich zuvor getraut zu schreiben. Ich muss mich korrigieren: Zu schreiben schon, aber nicht dies anderen zugänglich zu machen. Inzwischen weiß ich, dass ich damit Menschen erfreue.
Mein Umgang mit Menschen hat sich geändert. Ich lasse es zu emphatisch zu sein, lasse mich mehr auf zwischenmenschliche tiefe Bindungen ein.
Kurzum: Ich habe eine andere Lebensqualität erreicht. Lebe bewusster.
Seit 2012 Jahren beziehe ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente, darf und kann noch einige Stunden  arbeiten.
Dies geht natürlich mit sehr starken finanziellen Einschränkungen einher. Meine ehemaligen guten Gehälter werde ich nicht mehr erreichen. Die angestrebte Rentenhöhe ist Schnee von gestern. Natürlich erschreckt mich der regelmäßige Gedanke daran. Es sind existentielle Gedanken. Ich habe bedeutend weniger Einkommen gegen eine andere Form von Lebensqualität eingetauscht. Eine Lebensqualität, in der ich nicht mehr so belastbar bin wie früher. Das bin ich wirklich nicht. Eine Lebensqualität, die mir in meiner persönlichen Entwicklung und im zwischenmenschlichen Bereich zu mehr positiven Beziehungen verholfen hat.
Was bleibt ist die Zerrissenheit:
Darf es mir denn schlecht gehen? Darf ich sagen, dass ich abschmiere, die Stimmung geht und die Depression kommt? Auch heute kommen die Antworten: „Du hast doch gelernt, damit umzugehen. Wie kann Dir dann das jetzt noch passieren?“
„Stelle Dich nicht so an. Reiße Dich zusammen.“ „Dir geht es doch gut, warum passiert jetzt was, hast doch keinen Grund“. (Bevorzugt von meiner Mutter)
Dann fühle ich mich schuldig und in Zugzwang. Denke, dass ich überzeugen muss. Überzeugen zu müssen, wo es eigentlich nichts zu überzeugen gibt. Ich bin manisch-depressiv und ich kann nichts dafür. Über die Ursachen ist zu wenig bekannt (am Ende der Kolumne gibt es einige abschließende Infos dazu). Ob es einen genetischen Grund gibt, einen biologischen Grund, oder wie von manchen  gar vermutet als Folge eines Missbrauches, ich muss die Ursache nicht mehr suchen. Ich bin betroffen und habe es akzeptiert.
Gelegentlich verunsichert es mich, dass ich die Ursachen warum ich ruhiger geworden bin nicht kenne. Es macht mich auch traurig Liegt es an der Rückfallprophylaxe, in der ich lernte ein „gemäßigteres“ Leben zu führen? Liegt es an meinem Alter? Wehwehchen, Einsicht und Reife lassen einen früher spontanen Schritt nun in aller Konsequenz vorab überdenken. Oder liegt es an den Medikamenten? Macht mich die Valproinsäure ruhiger? Macht sie mich reifer? Dämpft sie mich? Nimmt SIE mir ein Teil meiner Persönlichkeit weg? So empfinde ich es manchmal: Wo ist das übermütige, verrückte Huhn geblieben? Was an mir ist ICH, wer bin ich, was ist die Krankheit Was ist an mir echt? Der Zustand der Vergangenheit oder der jetzige Zustand?
Soll ich das Medikament über einen längeren Zeitraum absetzen, um diesen Fragen auf den Grund gehen zu können? Kann ich dieses Risiko eingehen? Ist es das wert?
Oder kann ich endlich akzeptieren, dass das Wissen um meine Manische Depressive Erkrankung und ihre Behandlung mir nicht nur eine andere Lebensqualität ermöglicht hat (und dafür bin ich dankbar), sondern auch einen Teil von mir genommen hat?
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In Gesprächen wurde mir gesagt, dass durchschnittlich 15 bis 30% der Bipolar Erkrankten Suizid begehen. Der Durchschnitt der Erkrankten ist ab einem Alter von 55 Jahren arbeitsunfähig. 10 bis 15% der Erkrankten erleben mehr als 10 Episoden in ihrem Leben. Auch ich habe diese bereits locker geschafft.
In Deutschland soll es ca. 2 Mio. Menschen geben, die eine Bipolare Störung haben. Mir persönlich erscheint diese Zahl zu hoch, doch kann ich es wirklich nicht einschätzen.
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Fakten:
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störung e.V.
Postfach 800 130
21001 Hamburg
Dort oder über die Homepage kann auch ein Fragebogen zur Selbsteinschätzung angefordert werden.
www.dgbs.de
Hier werden u.a. Informationen für Betroffene und  Angehörige gut aufbereitet zur Verfügung gestellt. Sehr interessant ist auch der Bereich: DGBS und kreativ.
Ursachen:
Genetische Faktoren:
Vererbung: Bei einem betroffenen Elternteil wird eine Vererbungswahrscheinlichkeit von 10 bis 20% eingeschätzt
Biologische Faktoren:
Bei Patienten mit Bipolaren Störungen sind Veränderungen im Neurotransmitterhaushalt
festgestellt worden. Neurotransmitter = chemische Botenstoffe. Diese sind an der Weiterleitung von Nervenimpulsen beteiligt. Bei Depressiven fand sich zB ein Mangel an Noradrenalin und Serotonin.
Mittlerweile geht man davon aus, dass nicht einzelne Veränderungen der Neurotransmitter, sondern eine Störung des Gleichgewichts dieser ursächlich ist.
(Quelle: Homepage: www.dgbs.de)
Liz Obert:
Gerne möchte ich noch auf Fotografin Liz Obert und ihr Projekt „Dualities“ hinweisen. Ein Projekt, das mich berührt.
https://www.lizobert.com/
Liz Obert ist Fotografin und führte als manisch depressiv Erkrankte jahrelang ein verstecktes Leben. Wie ich, hat sie eine Bipolare Störung II, sprich die manischen Episoden überwiegen. Jahrelang ließ sie sich in der Öffentlichkeit nichts anmerken. Erst zu Hause, gab sie sich wie sie ist.
In ihrer Fotoserie „Dualities“ zeigt sie die Zerrissenheit dieser Menschen. Ein auch mir so bekannter Zustand. Sie macht zwei Bilder: Das erste Porträt zeigt die Menschen in ihrer kranken Phase, das zweite Bild, wie sie gerne in der Öffentlichkeit gesehen werden möchten. Versehen mit Notizen der Erkrankten.
Eine sehr ausdrucksvolle Fotoserie, die mich berührt.
(Quelle: brigitte.de und lizobert.com)

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