Kolumne: Warum bin ich so wütend?

Nachdem ich ein halbes Jahrhundert alt wurde, erhielt ich eine Einladung zum „Mammographie Screening Programm“ in einem Zentrum in meiner Nähe. Mit der Einladung kam die Erinnerung an eine Situation vor einigen Jahren hoch. Meine behandelnde Ärztin fand es nach einer Untersuchung wichtig, dass ich mich einer Mammographie unterziehen sollte. Damals rief ich in dem Zentrum an, für das ich nun eine Einladung erhalten hatte. Eiskalt wurde ich am Telefon abgebügelt: Termine würden frühestens wieder in einem Jahr vergeben. Ausnahmen würden nicht gemacht werden. Lange telefonierte ich verschiedene Stellen ab, bis ich eine Untersuchung machen konnte.
Mit der Einladung kam die damals gefühlte Hilflosigkeit wie auf Abruf hoch. Den in der Einladung vorgeschlagenen Termin konnte ich online ändern. Dabei konnte ich in der Terminübersicht sehen, dass es noch sehr, sehr viele freie Termine im 15 Minuten Rhythmus in den nächsten Wochen geben würde. Der Tag der Untersuchung stand an. Ich betrat das Gebäude. Im Erdgeschoss ließen sich in den Praxisräumen hinter Milchglas viele Gemälde erahnen. Anderes Mobiliar, oder Angestellte, waren nicht zu erkennen. Die Fläche war nicht klein. An einem Fenster hing ein Hinweisschild. „Anmeldung in der dritten Etage.“ Dort betrat ich eine sehr große Praxis. Auch hier fielen mir die großen, teilweise leeren, Räumlichkeiten auf. Komfortable Ledersessel befanden sich nicht nur im Wartezimmer, welches ebenfalls über sehr viel Platz verfügte. Die Räume waren hell und der Boden mit einem Belag belegt, der Holzoptik vortäuschte. Während ich das Patientenformular ausfüllte, herrschte ein Kommen und Gehen an Patientinnen. Die zwei Seiten waren schnell ausgefüllt. Ich ahnte es. Dieses Mammographie Screening Programm ist für den, der ein solches Zentrum betreibt eine wahre Gelddruckmaschine. Die Durchschleusungsrate an Patientinnen ist hoch. So verwunderte mich die große Schale, gefüllt mit Hachez Schokoladentäfelchen, die auf dem Tisch im Wartezimmer platziert ist, nicht. Aus dem kindischen Bedürfnis heraus den Gewinn meiner Untersuchung zu minimieren, nahm ich zwei Täfelchen Schokolade. Zu dem Kugelschreiber, der sich noch in meiner Hand befand. Meine Untersuchung ging schnell vonstatten und ich verließ nach knapp 15 Minuten die Praxis mit dem folgenden Vorsatz: „Wenn ich einmal im Lotto gewinne, kaufe ich mir drei Ärzte, einen Professor und eröffne auch solch ein Screening Zentrum.“ Mit dem Gewinn kann ich dann Unmengen an günstigen Wohnungen für Alleinerziehende bauen und vermieten.
Boh,war ich wütend.
Doch warum war ich so wütend? So schön die Praxisräumlichkeiten auch eingerichtet waren, so erinnerten sie mich trotzdem irgendwie an eine Produktionshalle, in der Arzthelferinnen die Patienten wie am Fließband versorgten, Ein Arzt oder Ärztin war nirgends zu sehen. Mochten die Gästehandtücher auf dem DamenWC oder die kleinen Schokoladentäfelchen den oberflächlichen Eindruck von Luxus erwecken, so konnten sie nicht darüber weg täuschen, dass es hier nur um Massenabfertigung ging. Abfertigung von Patientinnen, die über das Screening Programm direkt dorthin geschleust wurden.
Bevor ich den Termin wahrnahm rief ich unter einem anderen Namen an und bat um einen Termin für eine Mammographie, da meine Ärztin mich überwiesen hätte. Auch dieses Mal erhielt ich die Aussage, dass die Wartezeit auf einen Termin mindestens ein Jahr beträgt. Aus irgendeinem Grund wollte ich wissen, ob die vor einigen Jahren gemachte Erfahrung nun eine andere sein würde. Sie war es nicht.
Diese Aussage im Hinterkopf, den Terminkalender mit den vielen freien Terminen im Gedächtnis, die Massenabfertigung live erlebt, führte zu dieser Wut, die vermutlich eher eine Art von Hilflosigkeit war. Wie viele Frauen mögen dieses Zentrum angerufen haben und mit der Aussage, dass Termine frühestens in einem Jahr frei werden, abgewimmelt worden sein? Wie viele Frauen sitzen mit einer Überweisung und einem Befund hilflos am Telefon, weil sie eine Mammographieuntersuchung benötigen und keinen Termin bekommen? Wie viele Frauen machen sich Gedanken, haben Ängste und bei wie vielen kann eine frühere Untersuchung schlimmeres verhindern?
Ich weiß es nicht. Doch zu wissen: Dort ist ein Zentrum und verfügt über freie Termine die sie an Frauen, die gerade nicht am Screening Programm teilnehmen, nicht vergeben – das macht mich verdammt wütend!

Foto: Sabine Ganowiak

 

Utopia

Mein Utopia ist in mir. Es ist mein inneres Utopia. Ich spüre es bei einer geführten schamanischen Reise. Nur dort erlebe ich es. Es ist kein Ort in der Fremde oder eine Gesellschaftsform, sondern eine Reise in die Anderswelt.
Wie beginne ich die Reise in die Anderswelt?
Während der Schamane, oder die Schamanin trommelt, beginne ich meine schamanische Reise. Ich spüre den Zugang zu dem wunderbaren Wasserfall und betrete die Anderswelt, indem ich unter ihm entlang gehe und das Wasser auf mich regnen lasse. Manchmal erscheint dahinter eine grüne Wiese auf der ich gefühlte Stunden barfuß spazieren gehe. Wenn ich den Wasserfall durchschritten habe, treffe ich meist bereits dort auf mein Krafttier, meinen Seelengefährten. Es begleitet mich auf den Reisen in diese Welt, beschützt mich, führt mich und gibt Heilungsimpulse. Nie habe ich es gesucht. Es war einfach da.
Bei meinen ersten schamanischen Reisen war mein Krafttier ein Frosch. In seiner ganzen Körpergröße ging er mir bis zum Knie. Meist gingen wir nur spazieren, während er mich anlächelte. Oder ich setzte ihn auf meine Schultern und hüpfte mit ihm durch die Gegend und strich seine Beine, die herunter hingen. Aus diesen Begegnungen ging ich sehr gestärkt, aber auch mit einem großen Gefühl an Geborgenheit hervor. Dies hält lange über die jeweilige schamanische Reise hinaus an.
Später wurde er von einem Bären abgelöst. Einem großen, braunen Bären, der mir meist auf seinen Hinterpfoten entgegentrat und mich mit seiner Größe überragte. Er trug eine verkehrtherum getragene, rote, Baseballmütze auf seinem Kopf. Bei unserer ersten Begegnung fand ich diese Mütze merkwürdig, doch scheint sie irgendwie zu ihm zu gehören. Er stellte sich als „Shaggy“ vor. Bei diesem Namen blieb es.
Selten stellte ich ihm Fragen, meist bekam ich ungefragt Antworten oder Umarmungen.
Nach einer solchen Reise mit „Shaggy“ fühle ich mich ebenfalls gestärkt, entspannter, nachdenklicher und meine Seele wurde intensiv berührt. Ja, hier wird meine Seele berührt.
Auf einer meiner ersten schamanischen Reisen, die ich während einer Phase körperlicher und psychischer Erschöpfung machte, bekam ich den Impuls endlich eine berufliche Entscheidung zu treffen. Nachdem ich den Wasserfall passierte, holte mein Bär mich ab und wir gingen schweigend gemeinsam im Wald spazieren.
Immer wieder schaute er mich an und umarmte mich zwischendurch lange. Schlussendlich nahm er mich an die Hand und führte mich aus dem Wald heraus.
Wir schauten auf einen großen Firmenpark mit vielen großen und wenigen kleinen Bürotürmen. Ich schluckte, die Luft zum Atmen wurde mir für einen kurzen Moment knapp und dann weinte ich. Weinte und ließ endlich los.
Auch den Rückweg verbrachten wir schweigend. Als ich nach dieser schamanischen Reise aufwachte, fühlte ich mich nicht mehr so erschöpft. Spürte mich endlich wieder und von beruflichen Ängsten befreit. Ich traf nicht sofort eine Entscheidung. Doch die Saat wurde erfolgreich gelegt und ging zum richtigen Zeitpunkt auf.
Nach dieser kleinen Einführung möchte ich nun über meine letzte schamanische Reise erzählen. Sie war eine besondere Reise, die ich nie vergessen werde.
Es war ein Tag im Herbst, als wir uns im Wald trafen, um gemeinsam in einer Gruppe zu reisen. Ich mochte diesen Treffpunkt, der in der Nähe eines kleinen Baches lag. Zuvor ging ich zu dem Bach um innezuhalten, meine Füße einzutauchen und ein Dankesritual abzuhalten. Von dort lief ich zu der Gruppe, die damals aus 5 Personen bestand. Nach der Begrüßung breiteten  wir unsere mitgebrachten Decken aus auf die wir uns legten. Die Schamanin nahm ihre selbst hergestellte Trommel in die Hand und begann langsam und leise zu trommeln. Bereits mit den ersten Tönen entspannte ich mich und ließ los. Die erreichte Frequenz bewirkt bei manchen Schläfrigkeit. Mir helfen die tiefen und lauten Töne in Trance zu gelangen und meine geistige Reise zu beginnen. Als sich das Tempo steigerte, erreichte ich bereits meinen Eingang zur Anderswelt. Den Eingang zur unteren Welt. Meine Reise begann. Ich sah den rauschenden und hohen Wasserfall, der aus einer langen Bergwand floss. Unten sammelte er sich in einem kleinen, fußtiefen Teich. Neben dem Teich blühten viele Blumen, ähnlich denen, die man in Bauerngärten findet. Schaute ich nach oben, sah ich einen strahlendblauen Himmel, in dem viele Falken ihre Runden drehten. Ich durchschritt den Teich und stellte mich unter den Wasserfall. Blieb zuerst auf der Stelle stehen, um mich dann mit ausgebreiteten Armen lange um die eigene Achse zu drehen. Ich genoss den Wasserstrahl von oben, den Duft der Blumen neben mir und wollte den Wasserfall am liebsten nicht mehr verlassen. Einige Momente später durchschritt ich ihn und kam in einen Wald. Es war ein heller Wald mit vielen Bäumen, die sehr hoch und breit vom Umfang waren. Trotzdem ließen ihre Kronen viel Licht durch. Ich lehnte mich an einen der Bäume und wartete auf mein Krafttier, den Bären. Oft verbrachten wir unsere Begegnungen indem er mich gefühlte Stunden in den Armen hielt und mir über den Kopf strich, während ich ihn kraulte. Dabei schwiegen wir meist, es sei denn er stellte mir Fragen. Die Antworten auf diese fand ich selten sofort. Oft stellten sie sich erst Tage oder Wochen später ein. Er beschäftigte mich über die schamanischen Reisen hinaus und gab mir wertvolle Impulse. An diesem Tag war er lange nicht zu sehen. Ich blieb alleine im Wald, ging spazieren und berührte viele Bäume. Bei manchen verweilte ich länger, bei einigen weniger lange. Nach einiger Zeit kam Shaggy um die Ecke, stellte sich erst zu seiner vollen Höhe auf und umarmte mich lange. Dann drückte er mich, um folgend zu sagen: „Ich kann nicht bleiben, ich muss zu Anna.“ Er ließ mich los, drehte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Die Trommel schlug schneller und holte mich aus der Anderswelt zurück. Ich setzte mich auf und dachte an Anna. Eine Freundin, die damals schwer erkrankt war. Den Zeitpunkt und Dauer dieser schamanischen Reise musste ich mir nicht notieren. Er blieb in meinem Kopf. Wir besprachen die Erfahrungen, die wir während dieser Reise gemacht hatten, doch verließ ich die Gruppe früher. Unruhe hatte mich gepackt. Vergeblich versuchte ich den Ehemann von Anna telefonisch zu erreichen. Im Krankenhaus vor Ort erhielt ich keine weitere Auskünfte, außer: „Wir haben die Angehörigen verständigt, es dürfen nur noch ihre Angehörigen zu ihr.“ Ich wusste, ihr Ehemann würde mich jetzt nicht zu ihr lassen.
Anna hatte zum zweiten Mal Leukämie bekommen. Beim ersten Mal wurde sie erfolgreich mit einer Chemotherapie behandelt. Doch wenige Jahre später kam die Leukämie zurück. Dieses Mal bekam sie Stammzellen transplantiert. Die Behandlung als Vorbereitung zur Transplantation zuvor war nicht ungefährlich und die Zerstörung des Immunsystems stellte ein immenses Risiko dar. Die Stammzellentransplantation lag nun eine Woche zurück. Einmal konnte ich sie besuchen und in einem kurzen wachen Moment mit ihr sprechen. Sie war ein kleines Häufchen Mensch, welches durch Schläuche an eine ganze Wand voller Geräte angeschlossen war. Es summte, piepte, rauschte in fast jeder Sekunde aus einem von ihnen. Ihr Mann blockte Besuch von Freunden zu dem Zeitpunkt meist ab und gab auch mir nur widerwillig Auskünfte über ihren Zustand. Drei Tage nach der Information „Es dürfen nur noch Angehörige zu ihr“ durfte ich sie kurz besuchen. Sie war intubiert, aber sie lebte. Von nun an ging es ihr langsam besser. Im Laufe der Wochen und Monate wurde sie nicht mehr intubiert und die Geräte an der Wand, die sie versorgten, wurden stets weniger. Sie kämpfte weiterhin mit den Nebenwirkungen der zuvor erhaltenen Chemotherapie und der jetzt eingesetzten Medikamente. Manchmal saß ich stundenlang an ihrem Bett und strickte, während sie schlief. Zu dem Zeitpunkt befürchtete sie, dass sie nicht mehr aufwachen würde, wenn sie tagsüber schlief und niemand neben ihr sitzen würde. Irgendwann erzählte sie mir, dass es eine Abstoßungsreaktion der Stammzellen gegeben hätte und sie daran fast gestorben wäre. In der letzten Sekunde konnten die Ärzte es in den Griff bekommen. Bei einem meiner späteren Besuche, als es ihr deutlich besser ging, plauderte sie ganz locker darüber, welch tolles Schmerzmittel Morphium wäre. Allerdings würde es ihr merkwürdige Träume bescheren. Kichernd erzählte sie mir von dem folgenden:
„Hi hi, einmal träumte ich sogar von einem großen Bären mit einer roten Baseballmütze, der mich ganz lange in den Arm nahm und dann mit mir Ewigkeiten tanzte. Ein tanzender Bär. Ich kann doch gar nicht tanzen. Aber es tat so gut, dass er mich in den Arm genommen hat.“
Ich schluckte und fragte mit leiser Stimme: „ Weißt Du noch, wann das gewesen ist?“
„Der Tag an dem ich fast gestorben wäre.“
Im Laufe unseres Gespräches tastete ich mich vorsichtig an die Details heran. An dem Tag meiner letzten schamanischen Reise verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand mittags dramatisch.
Während ich im Wald auf meiner Decke lag, der Trommel lauschte, kämpfte sie um ihr Leben.
Während ich mich in der Anderswelt aufhielt ging Shaggy, unser Krafttier, zu ihr.
Was an diesem Nachmittag im Oktober geschah: Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Shaggy war bei ihr.

 

Foto: Pixabay.com, Alexas_Fotos

Kolumnen: Menschen im Hotel, Teil 2 im Frühstücksrestaurant

Der Mann mit den strahlend blauen Augen verließ zwischenzeitlich das Frühstücksrestaurant des Hotels. ( http://schreiben-von-innen.de/kolumne-menschen-im-hotel-im-fruehstuecksrestaurant) Warum er seine Tastatur dermaßen attackierte werde ich vermutlich nie erfahren. Meine Tasse Kaffee habe ich ausgetrunken und eigentlich müsste ich aufstehen und den Raum verlassen. Eigentlich. Mein Körper und Geist benötigen noch etwas Koffein, so dass ich einen weiteren Kaffee trinke. Als eine Gruppe von vier Personen kräftig gegen den Tisch stößt verschütte ich einen Schluck auf diesen. Ich schaue auf. Irgendwie erwarte ich eine kleine Entschuldigung oder eine andere Bemerkung. Stattdessen unterhalten sich die zwei Pärchen weiter auf Russisch ohne ihre Umgebung mit einem Blick zu würdigen. Ich korrigiere. Die menschliche Umgebung. Das Buffet wird schon wahrgenommen und sich später reichlich davon versorgt. Eine der beiden Frauen trägt ihre Haare blond gefärbt, versetzt mit einem starken Gelbstich. Auf der Nase trägt sie eine blau getönte Sonnenbrille und wölbt während des Sprechens stets ihre Unterlippe vor. Parallel dazu kämmt sie im Minutenrhythmus ihr Haar. Kämmt sie es nicht, so ruckelt sie ihren Hals. Ja, ihr Hals: Der sitzt etwas schief auf ihren Schultern und von der Seite ähnelt sie in ihrer Körperhaltung E.T.. An den Füßen trägt sie Hausschuhe aus Frottee, unter dem Arm eine goldfarbene Handtasche. Im Gesamtpaket wirkt sei billig, doch hält sie sich für die Schönste weit und breit. Ihr Blick taxiert ihr Umfeld und bewertet mit einem abfälligen Nicken dieses abfällig. Dabei bemerkt sie nicht, dass sie in ihrem Auftreten dumm und eingeschränkt wahrgenommen wird. Die beiden Männer tragen beide identische beige Stoffhosen, Slipper an den Füßen und karierte Hemden. Auch sie taxieren ihr Umfeld, den Frühstücksraum mit den Gästen und nicken fast im Rhythmus mit E.T.. Die dunkelhaarige Freundin von E.T. trägt keine Hauspuschen, stattdessen goldfarbene High Heels mit denen sie sofort ans Buffet wackelt, während sich die anderen drei an einen Tisch setzen und im hinsetzen bereits nach einem Kellner rufen. Die vier verbreiten eine unangenehme Atmosphäre. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich sie in ihrer Art bemitleiden oder ignorieren soll. E.T. steht auf, greift eine Banane von der großen Etagere, die mit einer reichlichen Obstauswahl bestückt ist. Aus den Augenwinkeln sehe ich wie sie ihre Handtasche öffnet und einige Orangen, Bananen, Granatäpfel (wie will sie die auf dem Hotelzimmer verzehren) und viele Kiwis den Weg in ihre Handtasche finden. Einen halben Meter weiter verfährt sie mit abgepackter Butter, Diätmarmelade und losem Zwieback ebenso. Die Handtasche macht einen vollen Eindruck. Zutaten für ein Picknick oder ein Mittagessen scheinen zusammen gekommen zu sein. Sie setzt sich an den Tisch und unterhält sich kämmend weiter mit den anderen drei. Ich mag nicht mehr ans Buffet gehen, auch keinen Kaffee mehr trinken. Bei jedem Kammvorgang am Buffet stellte ich mir vor, wie die Schuppen auf die offen angerichteten Speisen und Getränke rieselten. Mich schüttelt es. Sie rufen erneut laut nach einem Kellner, der unverzüglich bei ihnen ist. Den Grund des Rufes erkenne ich nicht, es ist mir auch egal. Zuletzt erlebte ich es vor vielen Jahren, dass Gäste lauthals nach einem Kellner riefen. Diese waren betrunken und riefen mehrmals, um ihren Bierdurst in einem atemberaubenden Tempo stillen zu lassen.Hier ist es unpassend und ich sehe weitere Gäste, die den Kopf von ihrem Lesestoff erheben oder sich umdrehen. Die vier sitzen mit geradem Rücken mitten im Frühstücksraum als wären sie der Mittelpunkt der Welt und der Rest ihre Lakaien. Mich wundert, dass sie sich selber ans Frühstücksbuffet begeben und sich die Dinge nicht bringen lassen. Vielleicht haben sie daran gedacht, doch dann würden sie jetzt nicht vor vollkommen überfüllten Tellern an ihrem Tisch sitzen?
Für einen Moment schweigen sie, da sie sich über ihre Teller hermachen. Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. Schmatzgeräusche in verschiedenen Tonlagen schwappen zu mir herüber.
Diese Geräusche gehören nicht zu meinen Lieblingsgeräuschen.
Zeit für mich aufzustehen, die halbvolle Tasse Kaffee stehen zu lassen und zu gehen.

 

Foto: Pixabay.com, StephanieAlbert

„Read what I see:“ Das Freibad

Mohrendatsch: Ich traue meinen Augen kaum als ich es lese. Früher kaufte ich ihn, der auch als Matschbrötchen bezeichnet wurde, gerne auf dem Schulweg für 50 Pfennig, vorausgesetzt es war noch etwas vom Taschengeld übrig. Reingebissen und eine süße Zufriedenheit machte sich im Bauch breit. Schnell wurde die süße Masse, die etwas aus dem Brötchen quoll, abgeschleckt bevor hineingebissen wurde. Begleitet von einem Lächeln, dass auch die Augen erreichte. Nun stehe ich vor dem Kiosk in dem kleinen Freibad und sehe es auf der Frühstückskarte angeschlagen. Auch heute beginne ich in Erinnerung daran zu lächeln. Gut, der Preis ist mit 1,20€ wirklich ein wenig happig. Da ich weit nach der Frühstückszeit im Freibad ankam, werde ich nicht beurteilen können, ob es heute noch so schmeckt wie früher.
Betrachte ich die Umgebung, so scheint die Zeit und auch die Eintrittspreise stehen geblieben zu sein. Das Kassenhäuschen aus Holz ist in weinrot gestrichen und eine sehr freundliche Kassiererin begrüßt jeden Gast als würde er sie daheim in ihrem Wohnzimmer besuchen. Links davon ist ein weiteres Gebäude aus Holz. In hellem gelb gestrichen befinden sich dort die Behinderten WCs. Direkt daneben schließt sich der in lila gestrichene Kiosk an. Vom Kiosk her schallt laut SWR3 herüber, was nicht zu der Atmosphäre des Bades passt. Eine Slush Eisbar, daneben ein Zigarettenautomat und die Eistruhe von Langnese runden das Speiseprogramm draußen vom Kiosk ab. Die große Terrasse ist mit vielen Sonnenschirmen bestückt, die aufgrund des heutigen starken Windes zusammengeklappt sind.
Eine kleine Gruppe Männer und Frauen, die italienisch sprechen unterhält sich laut. Hände und Füße werden dazu ebenfalls eingesetzt, so dass ein unruhiger Eindruck entsteht. Allzu gerne würde ich nun einen Mohrendatsch essen und ganz in Erinnerungen eintauchen. Stattdessen höre ich unfreiwillig den Italienern zu und höre nur „Puta, Puta“.
Drei Frauen setzen sich gemeinsam in die Nähe. Jede hat einen Latte Macchiatto vor sich auf dem Tisch stehen und ein Magnum Stieleis in der Hand. Alle drei tragen einen Bikini. Und alle drei sollten besser auf einen Badeanzug umsteigen? Nicht nur wegen der integrierten Cups.
Einen Tisch weiter teilen sich drei Jungs im Alter von ca. 10 Jahren eine Portion Pommes und „streiten“ sich verbal um den Piekser aus Holz, mit dem die Pommes gegessen wird. Wer den Piekser in der Hand hält, bekommt die nächste Pommes. Der blonde Junge gewinnt die Diskussion häufiger und bekommt mehr von der Portion ab als die anderen, die es nicht zu stören scheint. Grinsend, nicht angeberisch schauend, piekst er wieder eine Pommes auf und lässt es sich schmecken. Weiterlesen

„Read what I see:“ Sonntagmorgen

10 Uhr früh an einem Sonntagmorgen. Die Sonne scheint und die ersten Menschenmassen stürmen das Café, um sich mit Brot und Brötchen zu versorgen. Lag es an einer falschen Planung oder an einem kleinen Menschenansturm zuvor? Die ersten Backwaren sind ausverkauft. Normale Brötchen sind im Angebot nicht mehr vertreten. Das schwäbische Nationalgericht, die Brezel, ist ebenfalls ausverkauft. Leise, leise Aufschreie sind zu hören. Nicht jeder Kunde hat Verständnis. Die Frustrationsgrenze ist, je nach Ausschlafmodus, verschieden ausgeprägt. Manche laufen nur ein paar Meter weiter, um sich zu versorgen, während andere mit hängenden Schultern zu ihrem Auto gehen. Werden sie auf dem Balkon, im Garten oder in einer überhitzten Wohnung ihr Frühstück zu sich nehmen? Oder ihre Nacht verlängern und gemütlich im Bett frühstücken?
Im Café herrscht hingegen eine entspannte Atmosphäre. Kaffeeduft zieht durch die Räumlichkeiten. Die Terrasse ist gut besucht. Entspannt sitzen einige vor ihren Croissants, die in den Kaffee gestippt werden oder mit Marmelade belegt in Zeitlupe zum Mund geführt werden. Andere trinken einen frisch gepressten Orangensaft oder stoßen sich mit einem Piccolo zu. Die Kinder betteln um eine weitere Portion Nutella und lassen sich diese von der Kellnerin bringen. Nach einer kurzen Nacht genieße auch ich einen Kaffee mit viel Milch. Mein Croissant kann sich noch nicht entscheiden, ob es von mir in den Kaffee gestippt werden möchte oder einfach pur den Weg in meinen Magen finden möchte.
Ich spüre eine Veränderung in der Atmosphäre noch bevor ich es sehe. Schlauchlippe (siehe http://schreiben-von-innen.de/read-what-i-see-sollen-wir-heute-den-hund-grillen/) betritt mit ihrer Mutter, Ehemann und einem Chihuahua das Café. Alle drei umweht ein starker Duft nach Schweiß, feuchtem Keller und nassen Hund. Ein wenig bin ich verärgert. Sonntagmorgens möchte ich entspannen und nicht von unangenehmen Düften umweht werden. Den Hund stramm an der Leine hinter sich herziehend, entern sie die Terrasse. Tische werden für die drei Personen zusammengeschoben und der Hund unter einem Tisch platziert. Schlauchlippe hat ihre Beine in eine pinkfarbene ¾ Hose gezwängt, der Oberkörper ist mit einem bunten Top bekleidet. Sämtliche Muttermale, Falten, lockeres Gewebe und Achselhaare werden unvorteilhaft zur Schau gestellt. Die Füße sind in Trekkingsandalen gequetscht worden. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie und Anhang noch einen Spaziergang oder eine Runde im Wald drehen würden, wo die Trekkingsandalen einen sinnvollen Einsatz finden könnten. Alle drei beginnen zu frühstücken. Überrascht nehme ich die besondere Möglichkeit wahr ein belegtes Brötchen zu verzehren. Die Mutter nimmt ihr Brötchen in die Hand, beugt ihren Mund zu diesem und zieht mit ihren Zähnen die Wurstscheibe in den Mund. Es liest sich nicht nur so befremdlich, es sieht auch befremdlich aus. Die Wurstscheibe wurde vernichtet und mit drei großen Bissen geht das Brötchen den selbigen Weg. Ab in den Bauch, und zwar schnel,l lautet vermutlich die Devise? Sie führt die Kaffeetasse zu ihrem Mund und verzieht das Gesicht. Heißer Kaffee lässt sich nicht so schnell trinken. Das drei Schlucke Prinzip funktioniert hier nicht. Schlauchlippe vernichtet ihr Frühstück ebenfalls in einem atemberaubenden Tempo. Ob sie ausgehungert ist oder ihre Finger schlichtweg die Sehnsucht verspüren wieder auf ihr Smartphone zu hacken, kann ich nicht beurteilen. So voll ihr Mund auch sein mag, es hindert sie nicht abfällig über andere Gäste und nicht anwesende Menschen zu sprechen. Ihre Mutter pflichtet ihr stets bei, der Ehemann schweigt. Der kleine Hund schaut mit treuen Blick von seinem Platz unter dem Tisch zu ihnen hinauf. Ob er auf einen Krumen hofft oder ihre Unterhaltung auf ein anderes Thema lenken möchte, kann man nur erahnen. Mir stellt sich die Frage, ob sich die Tiere ihre Herren/Herrinnen aussuchen oder umgekehrt? Was mag der kleine Kläffer nur verbrochen haben, um bei diesem Dreigestirn zu landen?

Foto: pixabay.com, rawpixel

Kolumne: Menschen im Hotel – im Frühstücksrestaurant

Es geht doch nichts darüber das Frühstücksrestaurant im Hotel mit nüchternem Magen zu betreten. Nachdem man der Dame am Stehpult die Zimmernummer genannt hat, die geflissentlich abgeglichen wird, strömt einem bereits die übliche Duftwolke aus Damen- und Herren Eau de Toilette entgegen. Dazu eine Prise Haarspray, das Aroma der zuvor verwendeten Duschgele, die Mischung verschiedener Eierspeisen und über all´ dem der Duft von frischem Kaffee. Wie kann ich da noch von Duft schreiben? Es mieft und es trifft meine Magengrube als hätte mir jemand einen leichten Schlag verpasst. Kaum sitze ich bequem und nippe an meinem Kaffee, ist dieses Duftdurcheinander vergessen. Ich nehme es nicht mehr war, sondern sitze mitten drin. Meine im Gehirn für die Registrierung von Gerüchen zuständigen Synapsen machen gerade eine Pause. Während ich den Kaffee trinke, wundere ich mich über die Menschenschlange am Frühstücksbuffet. Ich muss mich korrigieren, weniger über die Schlange, sondern über das was den Weg auf die Teller findet. Ob es Eierspeisen, Backwaren oder Käse ist – Hauptsache die Portionen sind groß. Der Weg zur Müslibar oder der weitläufigen Ecke mit Obst wurde dabei noch nicht einmal abgegangen. Was treibt die Gäste sich so über die Auswahl zu stürzen? Hunger. Oder der Gedanke nicht zu wissen, wann es die nächste Mahlzeit gibt. Oder lockt die sehr appetitlich angerichtete Auswahl. Oder liegt es daran, dass das Frühstück Teil der Übernachtungsgebühr ist und das bestmögliche herausgeholt werden muss. Man hat ja schließlich dafür bezahlt. Vielleicht trifft ein Punkt zu, vielleicht mehrere.
Mir Gegenüber sitzt ein Mann, dessen Tischmanieren so ungewöhnlich sind, dass ich immer hinschauen muss. Zwar versuche ich mich hinter der Tageszeitung zu verstecken, es gelingt mir leider nicht. In kurzen Hosen und mit einem T-Shirt bekleidet sitzt er breitbeinig auf dem Stuhl. Er unterhält sich mit einem weiteren Gast. Die Sprache verstehe ich kaum, wenige Worte erinnern mich an meinen Russischunterricht. Vor ihm liegt ein großer Teller, auf dem sich ein Stapel mit Käse und ein Stapel mit Schinken befindet. Mit aufgestützten Ellenbogen knallt er die Gabel in die „Berge“ und schaufelt sie sich in den Mund. Bisher war mir nicht bekannt, wie schwer eine Gabel beladen werden kann. Der Mund ist noch fast gefüllt, da wird die nächste Fuhre eingeführt. Fasziniert beobachte ich, wie schnell diese Mengen in den schlanken Körper rutschen. Dieses Spiel findet seine Fortsetzung über einige Tellerladungen. Ich habe keine Idee, warum er nur diese einseitige Nahrung in diesen Mengen zu sich nimmt. Vielleicht unterzieht er sich einer Cortisonbehandlung und leidet unter Nahrungsmittelallergien?
Endlich bediene ich mich ebenfalls am Buffet und lege am Tisch die Zeitung beiseite. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann mit strahlendblauen Augen und Drei-Tage-Bart. Der Anzug passt zu seiner Augenfarbe und ich stufe ihn als attraktivsten Mann im Raum ein. Er nippt an seinem Kaffee, verzieht den Mund und wendet sich wieder seinem Laptop zu. Mit einer Affengeschwindigkeit schlägt er auf die Tastatur, stöhnt zwischendurch, tippt weiter, schaut kurz in den Raum, um dann erneut zu tippen. Wer mag er sein? Ein Vertriebler, der zum Quartalsende noch Umsatz vorweisen muss? Ein Fundraisingmanager, der sich mit unwilligen Sponsoren herumschlägt? Ein sich in Scheidung befindlicher Ehemann, der sich mit seinem Rechtsanwalt austauscht? Oder mit seiner Noch-Ehefrau? Zumindest ist er jemand, der früh am Morgen noch nicht seine Ruhe gefunden hat oder sie bereits verloren hat. Wer in diesem Raum konnte den Tag ruhig starten? Wer steckt bereits in seiner täglichen Tretmühle? Wo würden sie sein, wenn sie sich nicht in diesem Hotel aufhalten würden? Wir sehen jemanden und denken, was könnte er machen? Wer könnte er sein? Was macht er in seinen eigenen vier Wänden?
Darüber wird am nächsten Freitag nachgedacht.

„Read what I see“: Im Dorfwohnzimmer

Beim Walken hörte aus dem Gespräch zwischen zwei Frauen heraus den Satz: „Treffen wir uns nachher im Dorfwohnzimmer?“ Im Dorfwohnzimmer? Als Dorftreffpunkte waren mir Begrifflichkeiten wie der Dorfbrunnen geläufig, oder der Fußballplatz, doch was mochte ein solches Wohnzimmer sein? Ich war überrascht. Der Ort ist beileibe kein Dorf, die Einwohnerzahl überschreitet deutlich den fünfstelligen Bereich. Welcher Treffpunkt kann hier als Dorfwohnzimmer genutzt werden? Zu dem Zeitpunkt konnte ich es mir nicht vorstellen.
Einige Tage später sah ich die beiden Frauen wieder. Sie saßen auf der Terrasse der örtlichen Eisdiele. Die Eisdiele betrachteten sie also als ihr Dorfwohnzimmer. Die letzten Monate ging ich oft an dieser vorbei. Der Anblick der Rattanstühle auf der Terrasse, die abgesplittert und teilweise schief waren, luden mich nicht zu einem Besuch ein. Die große, hohe Dekoeiswaffeltüte vor der Eingangstür hatte ebenfalls bessere Zeiten gesehen. Die Farbe war verblasst und das Loch in der Mitte verführte einige Kinder ihren Müll dort hinein zu entsorgen.
Durch den Begriff Dorfwohnzimmer neugierig geworden, nahm ich auf der Terrasse Platz. Sicherheitshalber auf einen Stuhl, dessen Rattanstäbe mich nicht in den Rücken bohren konnten und dessen Standhaftigkeit stabil wirkte. Ein Mitarbeiter brachte die Karte. Ohne einen Blick in diese geworfen zu haben, bestellte ich mir einen Latte Macchiato und ein Glas Leitungswasser dazu. Ich erntete einen ungläubigen Blick und spürte das Gedankenkarussell rattern: „Leitungswasser, dafür kann ich ja nichts berechnen.“ Ich fühlte mich unwohl. Er ging in die Eisdiele, gab vermutlich die Bestellung auf. Anschließend sah ich ihn in die Wohnung gegenüber laufen, aus der er gefüllte Eiswannen trug. Das kam mir merkwürdig vor. Speiseeis in einer privaten Wohnung herzustellen oder zu lagern empfand ich nicht als sehr hygienisch. Ein Mann in einer kurzen Hose und mit Achselshirt bekleidet, brachte mir den Latte Macchiatto und das kleine Glas Leitungswasser. Innerlich musste ich grinsen: Das verwendete achteckige Tablett war tief zerkratzt und erinnerte mich in der Aufmachung an jene, die in den 80er Jahren verwendet wurden. Ungefragt erzählte der Mann, dass er der Cousin vom Chef ist und ihm aushelfen würde. Chef würde gerade das Eis von Gegenüber holen.
Aha.
Als ich die Eiskarte aufschlug, schmunzelte ich weniger. Inhaltlich war sie übersichtlich gestaltet. Die angebotenen Eisbecher waren der Beschreibung nach wirklich nichts Besonderes. Eisspezialitäten wurden aufgeführt, die seit 30 Jahren Standard sind. Die gedruckten Preise waren allerdings happig. Orientiert an denen, wie sie in Großstädten zu finden sind. Eher nicht in einer Kleinstadteisdiele. So verhielt es sich ebenfalls mit meiner Latte Macchiato. Die knappen 150ml, die in der Aufmachung eher einem Milchkaffee entsprachen, ähnelten preislich einer großen Latte in Stuttgart oder Berlin.
Merkwürdig oder strotzte hier jemand vor Selbstbewusstsein?
Mutig bestellte ich mir beim Cousin einen Amarenaeisbecher. Eins, zweimal im Jahr gelüstet es mich nach diesen süßen Amarenakirschen. Während ich die Bestellung aufgab, versuchte ich nicht auf die vollbewachsenen Achseln zu schauen, die sich bei jeder Bewegung bemerkbar machten und in Konkurrenz zu dem inzwischen feuchtem Achselshirt standen. Fast zwanghaft musste ich hinschauen. Ich drehte mich um. Die zwei Frauen plauderten. Vor sich eine Tasse Kaffee und in der rechten Hand hielten sie jeweils eine Zigarette. Aus irgendeinem Grund musste ich lachen. Hier würde es passen, wenn der Besitzer, bei einer Bestellung über eine Tasse Kaffee, den Gästen antworten würde: „Draußen gibt es nur Kännchen.“
An einem anderen Tisch saß ein Pärchen mit zwei Kindern. Die Kinder schleckten an einer Eistüte, die Erwachsenen tranken etwas. Eines der Kinder biss unten ein Stück der Waffeltüte ab und ich wartete auf den Moment, in dem dicke Eistropfen auf sein Shirt tropfen würden. Zwei, drei Männer saßen vereinzelt an den Tischen. Ein Bier und einer Zigarette vor sich und unterhielten sich mit dem Cousin.
Mein Amarenabecher wurde serviert. Öh, wo waren die Amarenakirschen? Auf Nachfrage wurde mir erklärt, dass hier der Eisbecher mit Amarenawackelpudding serviert wird, nicht mit eingelegten Amarenakirschen. Schön, dass ich es erfuhr, nachdem ich den Löffel bereits eingetunkt hatte. Auch dieses verwendete kleine Tablett war verkratzt und hatte deutlich bessere Zeiten gesehen. Die aufgelegte Papierserviette, auf der der Eisbesser stand, war hauchdünn. Ich bekam den Eindruck, dass mit wenig Einsatz bei hohen Preisen der größtmögliche Gewinn erzielt werden sollte. Dazu gehörte es anscheinend auch, dem Cousin keine gescheite Arbeitskleidung zu verordnen.
Meine kleine Latte hatte ich bereits ausgetrunken und den Eisbecher in Angriff genommen, Die zweieinhalb Kugeln Eis, mit ein wenig Sahne und dem bereits angesprochenen Wackelpudding versehen, ließ ich fast unberührt stehen. Das Eis schmeckte mehr als alt (ja, ich kann es beurteilen), die Sahne war fast dünnflüssig und den Wackelpudding beschreibe ich nicht weiter.
Mein Blick wanderte umher. Nun wunderte es mich nicht mehr, dass die meisten Gäste nur Getränke auf ihren Tischen stehen hatten. Vermutlich kannten sie diese Eisdiele und den Geschmack der Eissorten bereits?
Doch warum wurde sie als Dorfwohnzimmer bezeichnet?
Weil der Cousin, mit nun inzwischen verschwitztem Achselshirt und in kurzen Hosen gekleidet, in Birkenstocksandalen bediente und sich ungefragt zu den Gästen setzte? Kannte man etwa einen solchen Anblick von daheim?
Weil man eventuell Bekannte treffen würde?
Oder sich den Magen an dem alten Eis verderben konnte?
Keinen Koffeinschock aufgrund der kleinen Latte Macchiato Portionsgröße bekommen würde?
An dem Tag erhielt ich auf meine Vermutungen keine Antwort.

 

Foto:pixabay.com, stevenpb

Kolumne: Tage wie dieser …

Bei dem beschriebenen Tag handelte es sich nicht um einen Freitag, den 13. Oder einen Tag, an dem man verschlafen hatte und seinen Rhythmus im Laufe des Tages nicht fand. Nein, der besagte Tag war ein Tag wie jeder andere. Er unterschied sich nur darin, dass „viel“ Porzellan zu Bruch ging und er überhaupt nicht so rund lief wie angedacht. Ein wichtiges Utensil wurde vermisst und die Suche darauf verlief eine Zeitlang ergebnislos. Viele Stunden wurden verloren und die Frustrationstoleranzgrenze im Laufe des Tages in gewissen Zeitabständen unfreiwillig getestet.
Ein Schusseltag von Schussel für Schussel.
Der besagte Tag begann schwül und die Wechseldusche sollte meine Geister wecken. Ich hatte geplant viel zu lesen und zu schreiben. Angedacht.
Auf dem Balkon machte ich es mir mit dem Notizblock, einem Kaffee und einem Buch bequem. Ein neuer Text sollte entstehen und wenn das Hirn zu müde gewesen wäre, um weitere Buchstaben sinnvoll aneinanderzureihen, würde ich es mit einer Lesepause zu einer Pause zwingen, um neuen Buchstabensalat zu kreieren. Während ich schrieb, ließ ich mich vom Nachbarn gegenüber ablenken. Im Achselshirt und mit langen, rosafarbenen Gummihandschuhen bekleidet, ging er einem Teil seiner Kehrwoche nach. Mich irritierte der Anblick. Wenn Mann schon Gummihandschuhe trägt, würde ich für die männliche Variante in blau plädieren.Ja, ich bin eine Frau, die manchmal in Klischees denkt. Mein Blick wanderte weiter. Auf dem Boden wuselten Ameisen emsig umher. Ich hoffte, sie würden sich noch im Laufe des Sommers als nützlich erweisen. Ihre gelegentlichen Bisse an meinen Waden versuchte ich zu ignorieren.
Der Notizblock füllte sich Seite um Seite, so dass ich mir Kaffeenachschub verdient hatte. Mit meiner schönen Tasse in der Hand ging ich durch die breite Balkontür. Nun kam ein Moment, den ich manchmal gerne als „Ich stehe neben mir“ bezeichne. Nein, ich dissoziiere nicht. Oder bin in einer anderen Art gespalten. Mein Kopf erkennt die Breite der Balkontür und mein Körper ignoriert es bewusst. Weiterlesen

Stefan Krücken: Unverkäuflich

Klappentext:
Bobby Dekeyser ist fünfzehn, als er im Unterricht aufsteht und beschließt, Fußballprofi zu werden. Vier Jahre später steht er im Tor des FC Bayern München. Nachdem ihn ein Gegenspieler schwer verletzt, beginnt ein spektakuläres Abenteuer: Von einem Bauernhof in Niedersachsen aus schafft es Dekeyser, Vater von drei Kindern, ein Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern zu erschaffen. Mit Verantwortungsbewusstsein, sozialem Engagement und gegen so ziemlich jede Regel, die es in der Welt der Wirtschaft gibt.UNVERKÄUFLICH! soll ein Handbuch der Inspiration sein. Ein Mutmacher, ein intimer Blick in die Seele eines Unternehmers. Es zeigt einen Weg zum Erfolg, der sich nicht an klassischer Schulbildung, steifer Karriereplanung und am Recht des härtesten Ellbogens orientiert. Dekeyser berichtet auch von der dunklen Seite der Verantwortung, von Einsamkeit und Zweifeln. Und von der Verzweiflung nach dem tragischen Tod seiner Frau. Vor allem aber von seinem Willen, trotz Schlägen des Schicksals niemals aufzugeben. Von Familiensinn, von Freundschaft und vor allem: einem grenzenlosen Optimismus. ANKERHERZ – Das Leben ist spannend.
Auf der Rückseite wird das Buche als ein „Handbuch der Inspirationen“ beschrieben.
Es entstand über einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren. So liest es sich leider auch: Als eine Aneinanderreihung von Gesprächen, die in Kapitel unterteilt sind und dabei nicht flüssig geschrieben sind. Die an sich spannende Lebensgeschichte des Bobby Dekeyser wird ungelenk beschrieben. Der Enthusiasmus mit dem er seine Fußballkarriere und später sein Unternehmen aufbaute, wird glaubhaft transportiert. Die bisweilen eingeflochtenen „Weisheiten“ stören bisweilen. Die Anekdoten aus seinem Leben (Rikscha in New York) amüsieren, die Botschaften wie „Hinfallen und wieder aufstehen“ überzeugen anhand seiner Lebensgeschichte.
Diese Lebens- und Unternehmensgeschichte ist sicherlich einmalig und mehr als interessant. Weniger interessant ist, wie die Geschichte geschrieben wurde. Es ist schade, dass ein Buch, welches über einen solch langen Zeitraum entstand, so schlecht geschrieben ist. Teilweise sogar langweilig. Ich unterstelle Stefan Krücken, dass er ein guter Reporter ist, allerdings ein schlechter Buchautor.
Seine Zeitungsartikel und auch das Schlusswort sind gelungen. Ca. 8 Bücher schrieb er, das bekannteste vermutlich über „Kaptain Schwandt“. Auch hier wurde der Fehler begannen, dass aus einer guten Ausgangssituation ein enttäuschendes Buch entstand. Doch zurück zu „Unverkäuflich“. Wer ein Buch lesen möchte, in dem man zwischendurch immer einige Zeilen lesen möchte, ohne nach Wochen der Pause den Anschluss zu verlieren, ist hier gut bedient. Wer ein Buch in den Händen halten möchte, welches auf schönem Papier gedruckt wurde und welches sich daher  gut anfühlt, ist hier ebenfalls gut bedient. Wer die schönen Fotos geniessen kann, ist mit diesem Buch ebenfalls gut bedient.
Wer nachlesen möchte, wie aus einer interessanten Lebensgeschichte ein wirklich langweiliges Buch entstand, der ist mutig.

 

„Read what I see“: Fingerspuren

Mit einem leisen Plopp kullern die Orangen automatisch in die Saftpresse. Tropfen für Tropfen werden sie in der großen Karaffe aufgefangen. Der Kaffeeautomat röchelt und spukt den Kaffee in die Tasse aus. Ich sitze an einem Tisch in einem Café und möchte den neuen Thriller zu lesen beginnen, während ich ein Croissant in den heißen Milchkaffee stippe. Zuvor einen Schluck trinken, das aufgestäubte Kakaopulver vorsichtig abschlürfen und den Prolog lesen, der gleich mit mehreren Toten aufwartet. Ein Start in den Tag, und in das Buch, wie ich es mir wünsche.
Eigentlich.
Plötzlich steigt der Lärmpegel, der mich zwingt den Kopf in die Runde zu heben. Eine Fahrradfahrergruppe bestehend aus zwei Erwachsenen und vier Kindern betreten das Café. Die Kinder stürmen weiter auf die Terrasse, auf der sich anscheinend bereits Bekannte aufhalten. Tische werden zusammengerückt, sich herzlichst begrüßt, um dann den Weg zur Theke zu finden.
„6 Nudelgerichte und 6 Mal Apfelschorle, bitte.“
„Sonntags bieten wir keine Nudelgerichte an.“ Diesem Satz folgen Schmollschnuten und laute Diskussionen auf Seiten der Eltern, während die Kinder unisono nach Butterbrezeln rufen. Diverse Eierspeisen und viele Butterbrezeln werden kurz darauf nach draußen an die zusammengestellten Tische getragen. Die Unterhaltung wird lebhaft. Die Kinder mopsen sich untereinander die Speisen, was zu kleinen körperlichen Auseinandersetzungen mit dem einhergehenden Gebrüll führt. Die Eltern stört es nicht und die Kinder noch weniger. Zwei von ihnen tragen Brillen mit auffällig dicken Gläsern. Ein wenig Mitleid kommt in mir hoch. Ist mir aus früheren Erfahrungen noch in Erinnerung, wie Schulkinder, die solche Brillen trugen, häufig gehänselt wurden. Unabhängig davon, dass diese Brillen vermutlich die einzige Chance waren, um eine verbesserte Sehqualität und dadurch Lebensqualität zu erhalten.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder meinem Buch zu. Der Versuch scheitert kurz darauf, als sich die Tür des Cafés öffnet und aus verschiedenen Kindermündern „Ana“ in voller Lautstärke dröhnt. Eine Frau betritt mit drei Kindern das Café. In einem Buggy sitzt ein Junge, dessen Beine weit über den Rand hinausragen. Es wirkt, als würde der Buggy dadurch jeden Moment umkippen. Ein kleines Mädchen trägt über ihre Spitzenleggings ein kurzes Rüschenkleid. Die lockigen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Ich bewundere sie für ihre dichten Haare und ihr verschmitztes Lächeln.
„Ana. Ana. Ana.“ Wer von den Kindern ruft, ist für mich noch nicht zu unterscheiden. Alle vier setzen sich an einen Tisch. Der größere Junge streicht sich über seine Haare. Seine rechte Seite am Kopf ist ausrasiert, mit einem interessanten Muster versehen. Während er ständig über diese Seite streicht, vermute ich, dass der Haarschnitt noch recht frisch sein muss. Er wirkt stolz.
Die Kinder beginnen zu essen und trinken. Stets von lauten „Ana“ Rufen unterbrochen. Mir ist nicht klar, warum sie so laut rufen, während ihnen ihre Mutter gegenübersitzt. Theoretisch in Flüsternähe. Die Butterbrezeln werden auseinandergenommen, mit der Butter gespielt und in Windeseile die Teller leer gegessen. Mit kleinen Taschenlampen versucht ein jedes Kind mich zu blenden und lachen sich bei dem Versuch schlapp. Ich muss mitlachen. Verstehen kann ich sie nicht, ich spreche ihre Sprache nicht. Irgendwann bemerken der größere Junge und das Mädchen, dass ihre Hände verklebt oder fettig sind. Mit einer wachsenden Begeisterung drücken sie nun abwechselnd ihre Hände von innen an das Fenster und schauen sich die sichtbaren Abdrücke an. Anschließend malen sie mit den Fingern Figuren auf das Fenster. Die Kinder der Radfahrergruppe, die auf der Terrasse sitzen, bemerken die Zeichnungen und fügen auf ihrer Seite des Fensters ebenfalls welche dazu. Nur durch Mimik verständigen sich alle und auf beiden Seiten wird weiter gemalt. Kindheitserinnerungen an Fingermalfarben werden in mir wach. Mein Hausfrauenherz gerät ins Stolpern. Doch was berührt es mich? Gar nicht. Zum einen sind es nicht meine Fenster, zum anderen macht es Spaß den Kindern zuzuschauen. Und ihnen macht die Verschönerungsaktion anscheinend auch Spaß.
Als ihre Finger keine Spuren mehr auf den Fenstern hinterlassen, wenden sie sich wieder ihren Taschenlampen zu. Sie versuchen sich untereinander erneut zu blenden und brüllen sich dabei etwas zu. Die Geräuschkulisse ist enorm, denn laute „Ana“ Rufe fehlen weiterhin nicht. Inzwischen kenne ich Ana in allen Lautstärken, Zwischentönen und Tonmelodien.
An Lesen ist nicht zu denken. An zuschauen schon.
Irgendwann verlassen sie das Café und ich wende mich meinem Buch zu. Versuche es, denn der laute Ausruf des Missfallens einer Mitarbeiterin, die das „bemalte“ Fenster entdeckt, ist nicht zu überhören. Wie ich bereits ähnlich erwähnte, mein Hausfrauenherz kann es nachvollziehen.
Die Radfahrergruppe stürmt das WC, um sich ihre mitgebrachten Wasserflaschen aufzufüllen und verlassen darauf ebenfalls das Café.
Es ist still. Ich bestelle einen zweiten Milchkaffee und beginne das erste Kapitel zu lesen.

 

Foto: Pixabay.com, Prawny