Kolumne: Menschen im Hotel – im Frühstücksrestaurant

Es geht doch nichts darüber das Frühstücksrestaurant im Hotel mit nüchternem Magen zu betreten. Nachdem man der Dame am Stehpult die Zimmernummer genannt hat, die geflissentlich abgeglichen wird, strömt einem bereits die übliche Duftwolke aus Damen- und Herren Eau de Toilette entgegen. Dazu eine Prise Haarspray, das Aroma der zuvor verwendeten Duschgele, die Mischung verschiedener Eierspeisen und über all´ dem der Duft von frischem Kaffee. Wie kann ich da noch von Duft schreiben? Es mieft und es trifft meine Magengrube als hätte mir jemand einen leichten Schlag verpasst. Kaum sitze ich bequem und nippe an meinem Kaffee, ist dieses Duftdurcheinander vergessen. Ich nehme es nicht mehr war, sondern sitze mitten drin. Meine im Gehirn für die Registrierung von Gerüchen zuständigen Synapsen machen gerade eine Pause. Während ich den Kaffee trinke, wundere ich mich über die Menschenschlange am Frühstücksbuffet. Ich muss mich korrigieren, weniger über die Schlange, sondern über das was den Weg auf die Teller findet. Ob es Eierspeisen, Backwaren oder Käse ist – Hauptsache die Portionen sind groß. Der Weg zur Müslibar oder der weitläufigen Ecke mit Obst wurde dabei noch nicht einmal abgegangen. Was treibt die Gäste sich so über die Auswahl zu stürzen? Hunger. Oder der Gedanke nicht zu wissen, wann es die nächste Mahlzeit gibt. Oder lockt die sehr appetitlich angerichtete Auswahl. Oder liegt es daran, dass das Frühstück Teil der Übernachtungsgebühr ist und das bestmögliche herausgeholt werden muss. Man hat ja schließlich dafür bezahlt. Vielleicht trifft ein Punkt zu, vielleicht mehrere.
Mir Gegenüber sitzt ein Mann, dessen Tischmanieren so ungewöhnlich sind, dass ich immer hinschauen muss. Zwar versuche ich mich hinter der Tageszeitung zu verstecken, es gelingt mir leider nicht. In kurzen Hosen und mit einem T-Shirt bekleidet sitzt er breitbeinig auf dem Stuhl. Er unterhält sich mit einem weiteren Gast. Die Sprache verstehe ich kaum, wenige Worte erinnern mich an meinen Russischunterricht. Vor ihm liegt ein großer Teller, auf dem sich ein Stapel mit Käse und ein Stapel mit Schinken befindet. Mit aufgestützten Ellenbogen knallt er die Gabel in die „Berge“ und schaufelt sie sich in den Mund. Bisher war mir nicht bekannt, wie schwer eine Gabel beladen werden kann. Der Mund ist noch fast gefüllt, da wird die nächste Fuhre eingeführt. Fasziniert beobachte ich, wie schnell diese Mengen in den schlanken Körper rutschen. Dieses Spiel findet seine Fortsetzung über einige Tellerladungen. Ich habe keine Idee, warum er nur diese einseitige Nahrung in diesen Mengen zu sich nimmt. Vielleicht unterzieht er sich einer Cortisonbehandlung und leidet unter Nahrungsmittelallergien?
Endlich bediene ich mich ebenfalls am Buffet und lege am Tisch die Zeitung beiseite. Mir schräg gegenüber sitzt ein Mann mit strahlendblauen Augen und Drei-Tage-Bart. Der Anzug passt zu seiner Augenfarbe und ich stufe ihn als attraktivsten Mann im Raum ein. Er nippt an seinem Kaffee, verzieht den Mund und wendet sich wieder seinem Laptop zu. Mit einer Affengeschwindigkeit schlägt er auf die Tastatur, stöhnt zwischendurch, tippt weiter, schaut kurz in den Raum, um dann erneut zu tippen. Wer mag er sein? Ein Vertriebler, der zum Quartalsende noch Umsatz vorweisen muss? Ein Fundraisingmanager, der sich mit unwilligen Sponsoren herumschlägt? Ein sich in Scheidung befindlicher Ehemann, der sich mit seinem Rechtsanwalt austauscht? Oder mit seiner Noch-Ehefrau? Zumindest ist er jemand, der früh am Morgen noch nicht seine Ruhe gefunden hat oder sie bereits verloren hat. Wer in diesem Raum konnte den Tag ruhig starten? Wer steckt bereits in seiner täglichen Tretmühle? Wo würden sie sein, wenn sie sich nicht in diesem Hotel aufhalten würden? Wir sehen jemanden und denken, was könnte er machen? Wer könnte er sein? Was macht er in seinen eigenen vier Wänden?
Darüber wird am nächsten Freitag nachgedacht.

„Read what I see“: Im Dorfwohnzimmer

Beim Walken hörte aus dem Gespräch zwischen zwei Frauen heraus den Satz: „Treffen wir uns nachher im Dorfwohnzimmer?“ Im Dorfwohnzimmer? Als Dorftreffpunkte waren mir Begrifflichkeiten wie der Dorfbrunnen geläufig, oder der Fußballplatz, doch was mochte ein solches Wohnzimmer sein? Ich war überrascht. Der Ort ist beileibe kein Dorf, die Einwohnerzahl überschreitet deutlich den fünfstelligen Bereich. Welcher Treffpunkt kann hier als Dorfwohnzimmer genutzt werden? Zu dem Zeitpunkt konnte ich es mir nicht vorstellen.
Einige Tage später sah ich die beiden Frauen wieder. Sie saßen auf der Terrasse der örtlichen Eisdiele. Die Eisdiele betrachteten sie also als ihr Dorfwohnzimmer. Die letzten Monate ging ich oft an dieser vorbei. Der Anblick der Rattanstühle auf der Terrasse, die abgesplittert und teilweise schief waren, luden mich nicht zu einem Besuch ein. Die große, hohe Dekoeiswaffeltüte vor der Eingangstür hatte ebenfalls bessere Zeiten gesehen. Die Farbe war verblasst und das Loch in der Mitte verführte einige Kinder ihren Müll dort hinein zu entsorgen.
Durch den Begriff Dorfwohnzimmer neugierig geworden, nahm ich auf der Terrasse Platz. Sicherheitshalber auf einen Stuhl, dessen Rattanstäbe mich nicht in den Rücken bohren konnten und dessen Standhaftigkeit stabil wirkte. Ein Mitarbeiter brachte die Karte. Ohne einen Blick in diese geworfen zu haben, bestellte ich mir einen Latte Macchiato und ein Glas Leitungswasser dazu. Ich erntete einen ungläubigen Blick und spürte das Gedankenkarussell rattern: „Leitungswasser, dafür kann ich ja nichts berechnen.“ Ich fühlte mich unwohl. Er ging in die Eisdiele, gab vermutlich die Bestellung auf. Anschließend sah ich ihn in die Wohnung gegenüber laufen, aus der er gefüllte Eiswannen trug. Das kam mir merkwürdig vor. Speiseeis in einer privaten Wohnung herzustellen oder zu lagern empfand ich nicht als sehr hygienisch. Ein Mann in einer kurzen Hose und mit Achselshirt bekleidet, brachte mir den Latte Macchiatto und das kleine Glas Leitungswasser. Innerlich musste ich grinsen: Das verwendete achteckige Tablett war tief zerkratzt und erinnerte mich in der Aufmachung an jene, die in den 80er Jahren verwendet wurden. Ungefragt erzählte der Mann, dass er der Cousin vom Chef ist und ihm aushelfen würde. Chef würde gerade das Eis von Gegenüber holen.
Aha.
Als ich die Eiskarte aufschlug, schmunzelte ich weniger. Inhaltlich war sie übersichtlich gestaltet. Die angebotenen Eisbecher waren der Beschreibung nach wirklich nichts Besonderes. Eisspezialitäten wurden aufgeführt, die seit 30 Jahren Standard sind. Die gedruckten Preise waren allerdings happig. Orientiert an denen, wie sie in Großstädten zu finden sind. Eher nicht in einer Kleinstadteisdiele. So verhielt es sich ebenfalls mit meiner Latte Macchiato. Die knappen 150ml, die in der Aufmachung eher einem Milchkaffee entsprachen, ähnelten preislich einer großen Latte in Stuttgart oder Berlin.
Merkwürdig oder strotzte hier jemand vor Selbstbewusstsein?
Mutig bestellte ich mir beim Cousin einen Amarenaeisbecher. Eins, zweimal im Jahr gelüstet es mich nach diesen süßen Amarenakirschen. Während ich die Bestellung aufgab, versuchte ich nicht auf die vollbewachsenen Achseln zu schauen, die sich bei jeder Bewegung bemerkbar machten und in Konkurrenz zu dem inzwischen feuchtem Achselshirt standen. Fast zwanghaft musste ich hinschauen. Ich drehte mich um. Die zwei Frauen plauderten. Vor sich eine Tasse Kaffee und in der rechten Hand hielten sie jeweils eine Zigarette. Aus irgendeinem Grund musste ich lachen. Hier würde es passen, wenn der Besitzer, bei einer Bestellung über eine Tasse Kaffee, den Gästen antworten würde: „Draußen gibt es nur Kännchen.“
An einem anderen Tisch saß ein Pärchen mit zwei Kindern. Die Kinder schleckten an einer Eistüte, die Erwachsenen tranken etwas. Eines der Kinder biss unten ein Stück der Waffeltüte ab und ich wartete auf den Moment, in dem dicke Eistropfen auf sein Shirt tropfen würden. Zwei, drei Männer saßen vereinzelt an den Tischen. Ein Bier und einer Zigarette vor sich und unterhielten sich mit dem Cousin.
Mein Amarenabecher wurde serviert. Öh, wo waren die Amarenakirschen? Auf Nachfrage wurde mir erklärt, dass hier der Eisbecher mit Amarenawackelpudding serviert wird, nicht mit eingelegten Amarenakirschen. Schön, dass ich es erfuhr, nachdem ich den Löffel bereits eingetunkt hatte. Auch dieses verwendete kleine Tablett war verkratzt und hatte deutlich bessere Zeiten gesehen. Die aufgelegte Papierserviette, auf der der Eisbesser stand, war hauchdünn. Ich bekam den Eindruck, dass mit wenig Einsatz bei hohen Preisen der größtmögliche Gewinn erzielt werden sollte. Dazu gehörte es anscheinend auch, dem Cousin keine gescheite Arbeitskleidung zu verordnen.
Meine kleine Latte hatte ich bereits ausgetrunken und den Eisbecher in Angriff genommen, Die zweieinhalb Kugeln Eis, mit ein wenig Sahne und dem bereits angesprochenen Wackelpudding versehen, ließ ich fast unberührt stehen. Das Eis schmeckte mehr als alt (ja, ich kann es beurteilen), die Sahne war fast dünnflüssig und den Wackelpudding beschreibe ich nicht weiter.
Mein Blick wanderte umher. Nun wunderte es mich nicht mehr, dass die meisten Gäste nur Getränke auf ihren Tischen stehen hatten. Vermutlich kannten sie diese Eisdiele und den Geschmack der Eissorten bereits?
Doch warum wurde sie als Dorfwohnzimmer bezeichnet?
Weil der Cousin, mit nun inzwischen verschwitztem Achselshirt und in kurzen Hosen gekleidet, in Birkenstocksandalen bediente und sich ungefragt zu den Gästen setzte? Kannte man etwa einen solchen Anblick von daheim?
Weil man eventuell Bekannte treffen würde?
Oder sich den Magen an dem alten Eis verderben konnte?
Keinen Koffeinschock aufgrund der kleinen Latte Macchiato Portionsgröße bekommen würde?
An dem Tag erhielt ich auf meine Vermutungen keine Antwort.

 

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Kolumne: Tage wie dieser …

Bei dem beschriebenen Tag handelte es sich nicht um einen Freitag, den 13. Oder einen Tag, an dem man verschlafen hatte und seinen Rhythmus im Laufe des Tages nicht fand. Nein, der besagte Tag war ein Tag wie jeder andere. Er unterschied sich nur darin, dass „viel“ Porzellan zu Bruch ging und er überhaupt nicht so rund lief wie angedacht. Ein wichtiges Utensil wurde vermisst und die Suche darauf verlief eine Zeitlang ergebnislos. Viele Stunden wurden verloren und die Frustrationstoleranzgrenze im Laufe des Tages in gewissen Zeitabständen unfreiwillig getestet.
Ein Schusseltag von Schussel für Schussel.
Der besagte Tag begann schwül und die Wechseldusche sollte meine Geister wecken. Ich hatte geplant viel zu lesen und zu schreiben. Angedacht.
Auf dem Balkon machte ich es mir mit dem Notizblock, einem Kaffee und einem Buch bequem. Ein neuer Text sollte entstehen und wenn das Hirn zu müde gewesen wäre, um weitere Buchstaben sinnvoll aneinanderzureihen, würde ich es mit einer Lesepause zu einer Pause zwingen, um neuen Buchstabensalat zu kreieren. Während ich schrieb, ließ ich mich vom Nachbarn gegenüber ablenken. Im Achselshirt und mit langen, rosafarbenen Gummihandschuhen bekleidet, ging er einem Teil seiner Kehrwoche nach. Mich irritierte der Anblick. Wenn Mann schon Gummihandschuhe trägt, würde ich für die männliche Variante in blau plädieren.Ja, ich bin eine Frau, die manchmal in Klischees denkt. Mein Blick wanderte weiter. Auf dem Boden wuselten Ameisen emsig umher. Ich hoffte, sie würden sich noch im Laufe des Sommers als nützlich erweisen. Ihre gelegentlichen Bisse an meinen Waden versuchte ich zu ignorieren.
Der Notizblock füllte sich Seite um Seite, so dass ich mir Kaffeenachschub verdient hatte. Mit meiner schönen Tasse in der Hand ging ich durch die breite Balkontür. Nun kam ein Moment, den ich manchmal gerne als „Ich stehe neben mir“ bezeichne. Nein, ich dissoziiere nicht. Oder bin in einer anderen Art gespalten. Mein Kopf erkennt die Breite der Balkontür und mein Körper ignoriert es bewusst. Weiterlesen

Stefan Krücken: Unverkäuflich

Klappentext:
Bobby Dekeyser ist fünfzehn, als er im Unterricht aufsteht und beschließt, Fußballprofi zu werden. Vier Jahre später steht er im Tor des FC Bayern München. Nachdem ihn ein Gegenspieler schwer verletzt, beginnt ein spektakuläres Abenteuer: Von einem Bauernhof in Niedersachsen aus schafft es Dekeyser, Vater von drei Kindern, ein Unternehmen mit mehreren tausend Mitarbeitern zu erschaffen. Mit Verantwortungsbewusstsein, sozialem Engagement und gegen so ziemlich jede Regel, die es in der Welt der Wirtschaft gibt.UNVERKÄUFLICH! soll ein Handbuch der Inspiration sein. Ein Mutmacher, ein intimer Blick in die Seele eines Unternehmers. Es zeigt einen Weg zum Erfolg, der sich nicht an klassischer Schulbildung, steifer Karriereplanung und am Recht des härtesten Ellbogens orientiert. Dekeyser berichtet auch von der dunklen Seite der Verantwortung, von Einsamkeit und Zweifeln. Und von der Verzweiflung nach dem tragischen Tod seiner Frau. Vor allem aber von seinem Willen, trotz Schlägen des Schicksals niemals aufzugeben. Von Familiensinn, von Freundschaft und vor allem: einem grenzenlosen Optimismus. ANKERHERZ – Das Leben ist spannend.
Auf der Rückseite wird das Buche als ein „Handbuch der Inspirationen“ beschrieben.
Es entstand über einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren. So liest es sich leider auch: Als eine Aneinanderreihung von Gesprächen, die in Kapitel unterteilt sind und dabei nicht flüssig geschrieben sind. Die an sich spannende Lebensgeschichte des Bobby Dekeyser wird ungelenk beschrieben. Der Enthusiasmus mit dem er seine Fußballkarriere und später sein Unternehmen aufbaute, wird glaubhaft transportiert. Die bisweilen eingeflochtenen „Weisheiten“ stören bisweilen. Die Anekdoten aus seinem Leben (Rikscha in New York) amüsieren, die Botschaften wie „Hinfallen und wieder aufstehen“ überzeugen anhand seiner Lebensgeschichte.
Diese Lebens- und Unternehmensgeschichte ist sicherlich einmalig und mehr als interessant. Weniger interessant ist, wie die Geschichte geschrieben wurde. Es ist schade, dass ein Buch, welches über einen solch langen Zeitraum entstand, so schlecht geschrieben ist. Teilweise sogar langweilig. Ich unterstelle Stefan Krücken, dass er ein guter Reporter ist, allerdings ein schlechter Buchautor.
Seine Zeitungsartikel und auch das Schlusswort sind gelungen. Ca. 8 Bücher schrieb er, das bekannteste vermutlich über „Kaptain Schwandt“. Auch hier wurde der Fehler begannen, dass aus einer guten Ausgangssituation ein enttäuschendes Buch entstand. Doch zurück zu „Unverkäuflich“. Wer ein Buch lesen möchte, in dem man zwischendurch immer einige Zeilen lesen möchte, ohne nach Wochen der Pause den Anschluss zu verlieren, ist hier gut bedient. Wer ein Buch in den Händen halten möchte, welches auf schönem Papier gedruckt wurde und welches sich daher  gut anfühlt, ist hier ebenfalls gut bedient. Wer die schönen Fotos geniessen kann, ist mit diesem Buch ebenfalls gut bedient.
Wer nachlesen möchte, wie aus einer interessanten Lebensgeschichte ein wirklich langweiliges Buch entstand, der ist mutig.

 

„Read what I see“: Fingerspuren

Mit einem leisen Plopp kullern die Orangen automatisch in die Saftpresse. Tropfen für Tropfen werden sie in der großen Karaffe aufgefangen. Der Kaffeeautomat röchelt und spukt den Kaffee in die Tasse aus. Ich sitze an einem Tisch in einem Café und möchte den neuen Thriller zu lesen beginnen, während ich ein Croissant in den heißen Milchkaffee stippe. Zuvor einen Schluck trinken, das aufgestäubte Kakaopulver vorsichtig abschlürfen und den Prolog lesen, der gleich mit mehreren Toten aufwartet. Ein Start in den Tag, und in das Buch, wie ich es mir wünsche.
Eigentlich.
Plötzlich steigt der Lärmpegel, der mich zwingt den Kopf in die Runde zu heben. Eine Fahrradfahrergruppe bestehend aus zwei Erwachsenen und vier Kindern betreten das Café. Die Kinder stürmen weiter auf die Terrasse, auf der sich anscheinend bereits Bekannte aufhalten. Tische werden zusammengerückt, sich herzlichst begrüßt, um dann den Weg zur Theke zu finden.
„6 Nudelgerichte und 6 Mal Apfelschorle, bitte.“
„Sonntags bieten wir keine Nudelgerichte an.“ Diesem Satz folgen Schmollschnuten und laute Diskussionen auf Seiten der Eltern, während die Kinder unisono nach Butterbrezeln rufen. Diverse Eierspeisen und viele Butterbrezeln werden kurz darauf nach draußen an die zusammengestellten Tische getragen. Die Unterhaltung wird lebhaft. Die Kinder mopsen sich untereinander die Speisen, was zu kleinen körperlichen Auseinandersetzungen mit dem einhergehenden Gebrüll führt. Die Eltern stört es nicht und die Kinder noch weniger. Zwei von ihnen tragen Brillen mit auffällig dicken Gläsern. Ein wenig Mitleid kommt in mir hoch. Ist mir aus früheren Erfahrungen noch in Erinnerung, wie Schulkinder, die solche Brillen trugen, häufig gehänselt wurden. Unabhängig davon, dass diese Brillen vermutlich die einzige Chance waren, um eine verbesserte Sehqualität und dadurch Lebensqualität zu erhalten.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder meinem Buch zu. Der Versuch scheitert kurz darauf, als sich die Tür des Cafés öffnet und aus verschiedenen Kindermündern „Ana“ in voller Lautstärke dröhnt. Eine Frau betritt mit drei Kindern das Café. In einem Buggy sitzt ein Junge, dessen Beine weit über den Rand hinausragen. Es wirkt, als würde der Buggy dadurch jeden Moment umkippen. Ein kleines Mädchen trägt über ihre Spitzenleggings ein kurzes Rüschenkleid. Die lockigen Haare sind zu einem Zopf gebunden. Ich bewundere sie für ihre dichten Haare und ihr verschmitztes Lächeln.
„Ana. Ana. Ana.“ Wer von den Kindern ruft, ist für mich noch nicht zu unterscheiden. Alle vier setzen sich an einen Tisch. Der größere Junge streicht sich über seine Haare. Seine rechte Seite am Kopf ist ausrasiert, mit einem interessanten Muster versehen. Während er ständig über diese Seite streicht, vermute ich, dass der Haarschnitt noch recht frisch sein muss. Er wirkt stolz.
Die Kinder beginnen zu essen und trinken. Stets von lauten „Ana“ Rufen unterbrochen. Mir ist nicht klar, warum sie so laut rufen, während ihnen ihre Mutter gegenübersitzt. Theoretisch in Flüsternähe. Die Butterbrezeln werden auseinandergenommen, mit der Butter gespielt und in Windeseile die Teller leer gegessen. Mit kleinen Taschenlampen versucht ein jedes Kind mich zu blenden und lachen sich bei dem Versuch schlapp. Ich muss mitlachen. Verstehen kann ich sie nicht, ich spreche ihre Sprache nicht. Irgendwann bemerken der größere Junge und das Mädchen, dass ihre Hände verklebt oder fettig sind. Mit einer wachsenden Begeisterung drücken sie nun abwechselnd ihre Hände von innen an das Fenster und schauen sich die sichtbaren Abdrücke an. Anschließend malen sie mit den Fingern Figuren auf das Fenster. Die Kinder der Radfahrergruppe, die auf der Terrasse sitzen, bemerken die Zeichnungen und fügen auf ihrer Seite des Fensters ebenfalls welche dazu. Nur durch Mimik verständigen sich alle und auf beiden Seiten wird weiter gemalt. Kindheitserinnerungen an Fingermalfarben werden in mir wach. Mein Hausfrauenherz gerät ins Stolpern. Doch was berührt es mich? Gar nicht. Zum einen sind es nicht meine Fenster, zum anderen macht es Spaß den Kindern zuzuschauen. Und ihnen macht die Verschönerungsaktion anscheinend auch Spaß.
Als ihre Finger keine Spuren mehr auf den Fenstern hinterlassen, wenden sie sich wieder ihren Taschenlampen zu. Sie versuchen sich untereinander erneut zu blenden und brüllen sich dabei etwas zu. Die Geräuschkulisse ist enorm, denn laute „Ana“ Rufe fehlen weiterhin nicht. Inzwischen kenne ich Ana in allen Lautstärken, Zwischentönen und Tonmelodien.
An Lesen ist nicht zu denken. An zuschauen schon.
Irgendwann verlassen sie das Café und ich wende mich meinem Buch zu. Versuche es, denn der laute Ausruf des Missfallens einer Mitarbeiterin, die das „bemalte“ Fenster entdeckt, ist nicht zu überhören. Wie ich bereits ähnlich erwähnte, mein Hausfrauenherz kann es nachvollziehen.
Die Radfahrergruppe stürmt das WC, um sich ihre mitgebrachten Wasserflaschen aufzufüllen und verlassen darauf ebenfalls das Café.
Es ist still. Ich bestelle einen zweiten Milchkaffee und beginne das erste Kapitel zu lesen.

 

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Kolumne: Warum selber machen?

Zum letzten Mal schüttele ich das große Glas, in dem sich viele Schnittlauchblüten in Balsamicoessig eingelegt befinden. Der inzwischen rosa gefärbte Essig sieht im Sonnenlicht sehr schön aus und funkelt. Nach dem abseihen wird er in Flaschen umgefüllt und ist bereit um verschenkt zu werden. Eine Flasche bleibt bei mir, der Rest findet den Weg in die Welt. Den scharfen Geschmack, der im Salatdressing die Zwiebel ersetzen soll, wird sicherlich auch andere erfreuen. Genau darum geht es mir: Andere erfreuen. Mit dem Spitzwegerich habe ich einen kalten Ölauszug angesetzt, der später zu einer Salbe verarbeitet wird und nicht nur bei Insektenstichen oder Husten hilft.
Die ersten neuen Rezepte habe ich bereits herausgesucht und beginne Gläser zu sammeln. Sauerkirschmarmelade mit Ingwer und Chilli wartet darauf ausprobiert zu werden und die beliebte Apfel-Birnen-Marmelade mit Estragon im Herbst wieder eingemacht zu werden. Im Sommer wird es wieder meine eingelegte Zucchinispezialität geben, deren Rezept ich selten verrate. Eher verschenke ich die gefüllten Gläser. Feigen-, Kiwi,- Pfirsichmarmelade und vieles mehr wird selbstgemacht wieder in meinem Schrank landen. Nein, das kann ich wirklich nicht alles selber verzehren. Insbesondere da ich vieles davon aufgrund einer Lebensmitteltoleranz nicht vertrage.
Ich liebe es nach neuen Rezepten zu schauen, die Zutaten zu besorgen und in der kleinen Küche am Herd zu stehen und diese Dinge zu kochen. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich mich in einer großen Landhausküche befinde und tagelang damit verbringe.
Manchmal probiere ich einen Likör aus. Der Melisselikör schmeckte wirklich gut, trotz der vielen Umdrehungen. Ich glaube, er bereicherte einige Damenrunden. Nun überlege ich einen Rhabarberlikör anzusetzen. Aufgegossen mit kühlem Sekt wird er erfrischend schmecken.
Natürlich backe ich Plätzchen in der Adventszeit. Auch hier wird vorher nach neuen Rezepten geforscht und ausreichend Keksdosen besorgt. Klassiker und neues wird gebacken. Letztendlich werden nur wenige Kekse bei mir bleiben. Der Rest wird schön verpackt und weiter verschenkt.
Die Frage steht weiter im Raum, warum Dinge selber zu machen? Oft sind sie günstiger zu kaufen. Wenn ich in mein Küchenfach greife und ein paar Gläser für eine Freundin zusammenstelle, die einfach leckere Nervennahrung benötigt und sich bei der Übergabe freut, dann freue ich mich auch. Freude beim Verschenken ist eine besondere. Wenn sich über das selbstgemachte Geschenk gefreut wird, dann ist es gleich doppelt so schön.
Wenn ich Weihnachtsdosen an Backmuffel verschenke, sie die Dose öffnen und lächeln, dann freue ich mich mit ihnen.
Wenn ich ein kleines Geschenkpäckchen mit Gläsern zusammenstelle und mein Gegenüber überrasche, dann freut es mich einfach.
Genau: Nicht mehr und nicht weniger. Es geht darum Freude zu schenken. Mit Dingen, die manch einer einfach nicht selber macht oder selber machen kann.

P.S.: Wer Sauerkirschen zu verschenken hat findet in mir eine dankbare Abnehmerin 😉

„Read what I see“: Im Wartezimmer

Warum habe ich das Gefühl, dass die Patienten im Wartezimmer eines Orthopäden fast immer eine schlechte Laune ausstrahlen. Die Münder hängen herunter, es wird geseufzt, was das Zeug hält und die Stimmung ist zum Schneiden. Niemand lacht oder führt das Gespräch mit einem anderen Patienten. Ich kam in der Praxis an und wurde durch eine nette Arzthelferin empfangen. Sie machte mich auf die Wartezeit aufmerksam, doch war mir das an dem Tag egal. Hauptsache dem Rücken würde später geholfen werden. Die Praxis verfügt über verschiedene Wartebereiche und erzeugt beim Patienten gerne das Gefühl, dass es für ihn in der Warteschleife nun nennenswert weitergeht. Er überholt die anderen wartenden Patienten in der Wartehierarchie, wenn er aus dem Wartezimmer gerufen, auf die andere Stuhlreihe platziert wird. Schon keimt die Hoffnung auf, dass man gleich im Arztzimmer sitzt. Falsch gedacht. Nach dieser Stuhlreihe folgte eine weitere und schlussendlich der einzelne Stuhl im Behandlungszimmer, auf dem man auch einige Zeit alleine verbringen kann. Wo war ich stehen geblieben? Ich kam, setzte mich ins Wartezimmer und war überrascht. Vier Patienten saßen dort und drei weitere in der Stuhlreihe vor dem Wartezimmer. In einer Schmerzsprechstunde empfand ich die Patientenanzahl als überschaubar. Allerdings nicht als geräuschlos. Ich setzte mich, legte meine kleine Handtasche neben mir auf einen Stuhl. Auf diesem lag ebenfalls eine kleine Handtasche. Die Besitzerin nahm mit einem genervten und lauten stöhnen ihre Tasche weg. Ihr Blick strafte mich, ihre herunterhängenden Mundwinkel hingen, statt ihre Aufgabe zu erfüllen und den Mund zum Sprechen zu animieren. Naiverweise versuchte ich ein Gespräch zu beginnen und dachte mir nichts dabei als ich sagte, dass wir uns den Stuhl mit unseren Handtaschen doch teilen könnten. Mir erschien meine Aussage logisch. Darauf nahm ich mein Handy in die Hand, um es auf lautlos zu stellen. Dazu muss ich alles, also Anruf, Benachrichtigungen usw. kurz manuell anklicken. Ganz leise machte es jedes Mal ein plopp. Als Reaktion stöhnte die Frau neben mir jedes Mal und verdrehte die Augen. Bei manch anderen kündigt sie sich so eine Ohnmacht an? Ich empfand ihr Verhalten als amüsant. Trotz meiner 50 Jahre ritt mich ein kleines Teufelchen. Ich entschied mich die Frau als unangenehm einzustufen. Deshalb verstellte ich im Sekundentakt über eine Minute lang meinen Benachrichtigungston. Demenentsprechend leise ertönten im Sekundentakt die dezenten Ploppgeräusche. Ein kindisches Verhalten meinerseits, doch machte es mir in dem Moment Spaß. Meine Wahrnehmung verschob, sich von der Frau links neben, mir auf Geräusche außerhalb des Wartezimmers. Wenige Meter davon entfernt war ständig ein tiefes stöhnen/artikulieren einer schwer behinderten Frau zu hören. Abwechselnd kamen diese Laute aus ihr heraus, gefolgt von einem lauten rhythmischen stampfen mit beiden Beinen. Ihre Begleitung versuchte das zu unterbinden. Es half nichts. Im Gegenteil. Sie stampfte nur lauter und gröhlte lauter. Meine Sitznachbarin kam aus dem stöhnen kaum heraus. Unentwegte schnappte sie nach Luft, dem kurz darauf ein stöhnen folgte. Unbewusst fast im Einklang mit der anderen Patientin. Die anderen Patienten gaben vor nichts zu bemerken. Das war Teil 1 der Geräuschkulisse.
Schräg rechts neben mir saß im Wartezimmer eine weitere Frau. Diese schlief ständig ein und sprach, während sie schlief. Unterbrochen von schnarchen. Zusammenfassend:
Draußen: Stöhnen/artikulieren und stampfen, innen schnarchen und sprechen, sowie stöhnen.
Mir gegenüber saß noch ein Mann, der bei jedem neuen schnarchen mit dem Kopf und den Schultern zusammenzuckte.
Ich saß zwischendrin und wusste nicht, ob ich meinen Notizblock herausholten sollte. Oder Entspannungsübungen machen sollte.
Die Entscheidung wurde mir durch den Aufruf: „Bitte zum Röntgen.“ abgenommen. Nun war ich in den Fängen der unfreundlichen Arzthelferin. Röntgen überstand ich, obwohl sie in den Pausen über meine zuckenden Beine meckerte. Wie gesagt, in den Pausen, nicht während des Röntgens. Mit dem Röntgen war ich fertig und ich nutzte schnell die Toilette und wusch mir die Hände. Das Waschbecken befand sich draußen vor einem der Behandlungszimmer. Leider tropfte der Wasserhahn. Er tropfte so richtig: Laut und schnell. Ich versuchte es zu ignorieren, saß daneben, strickte ein paar Runden, unterdrückte den durch das Geräusch hervorgerufenen Harndrang und kam dran.
Der Rest wird verschwiegen.
Eines kann ich sagen: An dem Tag erlebte ich in dieser Praxis eine große Variation an Geräuschen.

 

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Kolumne: Zivilcourage

Gestern las ich in einem älteren Text von mir das Wort „Zivilcourage“. Seitdem gehen mir zu dem Begriff einige Gedanken durch den Kopf.
Wie definiert man ihn konkret? Wo beginnt Zivilcourage im Alltag, wo endet sie?
Ein fiktives Beispiel (und vermutlich zur Zeit von vielen Menschen häufiger erlebt) ist die folgende Situation: In einem öffentlichen Verkehrsmittel beschimpft ein Fahrgast einen anderen Fahrgast aufgrund seiner Hautfarbe. Bezeichnet ihn als Neger, Asylant oder mit ähnlichen Ausdrücken.
Wenn ich eingreife, den schimpfenden Fahrgast zurechtweise: Ist das bereits Zivilcourage oder einfach ein Akt der Höflichkeit sich vor den Fahrgast mit dunkler Hautfarbe zu stellen? Es ist Zivilcourage.
Ich erlebe einen Streit zwischen einem Pärchen. Der Mann droht der Frau gegenüber handgreiflich zu werden. Ich würde einschreiten. Ist das Zivilcourage, oder? Für mich ist es das.
Oder beginnt sie erst, wenn man Mandatsträger aus der Politik wegen Volksverhetzung anzeigt. Wohlwissend, dass durch eine Anzeige die persönlichen Daten bekannt werden und Repressalien zu befürchten sind? Wo beginnt sie im Kleinen, wo beginnt sie im Großen? Können und sollen wir Unterschiede machen? Steht uns das überhaupt zu? Für mich beginnt sie dort, wo ich einschreite. Durch Worte und/oder Handlungen.
Warum sind wir oder andere trotzdem still und setzen uns/sich in einer Situation, die Mut erfordert, nicht ein? Warum gehen wir weiter, wenn ein bewusstloser Mensch auf dem Weg liegt und vermuten gleich, es wäre ein betrunkener Mensch. Gar obdachlos, der nur seinen Rausch ausschläft. Ein Anruf könnte hier vielleicht Leben oder die Gesundheit retten. Nicht zu selten fallen Diabetiker ins Zuckerkoma und wirken dabei betrunken. Warum denken wir nicht so weit? Warum akzeptieren wir Pöbeleien, Sprüche in der Art „Das darf doch noch gesagt werden.“, Zivilcourage bei anderen und fordern sie nicht von uns?
Die Antwortmöglichkeiten können vielfältig sein.
Aus Angst, aus Angst vor den Folgen. Angst um die eigene körperliche Versehrtheit. Dazu ist es viel leichter zu verdrängen statt zu handeln. „Das geht mich nichts an“ ist leicht gesagt und erfordert kein einmischen. In dem Moment, indem ich hinschaue, zwinge ich mich zum Handeln. Ich setze mich mit der Situation und eventuellen Folgen auseinander. Das kann nicht jeder. Viel bequemer ist es nichts zu machen und zu verdrängen. Vor vielen Jahren gab es einen Zwischenfall in der Düsseldorfer Altstadt. Ein Betrunkener pöbelte einen Obdachlosen Mann im Rollstuhl an. Ich ging dazwischen und bekam im wahrsten Sinne des Wortes eins auf die Nase. Ich hatte gar nicht nachgedacht, sondern bin eingeschritten. Das Hände zittern kommt danach. Ich kann einfach nicht anders. Nehme ich eine Situation wahr, in der gehandelt werden muss, handele ich. Ja, das kann bereits bei rassistischen Äußerungen im Bus oder an anderen Orten beginnen. Oben erwähnte ich die Angst. Angst bewerte ich nicht. Die Angst angegriffen oder verletzt zu werden ist menschlich. Und niemand muss sich aus falsch eingeschätztem Mut in Gefahr bringen. Insbesondere bei gewalttätigen Situationen. Hilfe kann telefonisch herbeigerufen werden. Auch das ist handeln. Ebenfalls können in einer größeren Menschenmenge Menschen gezielt angesprochen werden. Die Erfahrung zeigt, dass auf eine konkrete Ansprache reagiert wird und die Last alleine zu handeln geteilt werden kann.
Scham kann auch ein Grund sein, weg zu schauen und nichts zu tun. Stattdessen vorbei zu laufen. Die Scham kann entstehen, wenn man das Gefühl bekommt durch die eigene Aktion plötzlich beachtet zu werden. Beobachtet zu werden, ob alles richtig gemacht wird? Etwas Falsches gesagt wird? Oder man aufgrund einer falsch eingeschätzten Situation eingreift und ein solches nicht nötig gewesen wäre. Ja, das kann passieren. Doch lieber einmal zu viel reagieren als einmal zu wenig? Nichtstun verurteile ich. Ebenso die Situation zu filmen oder zu fotografieren.
Weghören, weg sehen kann ich für mich nicht akzeptieren.
Wie denkt Ihr darüber?

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Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Klappentext:
Ist das normal? Zwischen Hunderten von körperlich und geistig Behinderten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufzuwachsen? Der junge Held in Joachim Meyerhoffs zweitem Roman kennt es nicht anders – und mag es sogar sehr. Sein Vater leitet eine Anstalt mit über 1.200 Patienten, verschwindet zu Hause aber in seinem Lesesessel. Seine Mutter organisiert den Alltag, hadert aber mit ihrer Rolle. Seine Brüder widmen sich hingebungsvoll ihren Hobbys, haben für ihn aber nur Häme übrig. Und er selbst tut sich schwer mit den Buchstaben und wird immer wieder von diesem großen Zorn gepackt. Glücklich ist er, wenn er auf den Schultern eines glockenschwingenden, riesenhaften Insas­sen übers Anstalts­gelände reitet. Joachim Meyerhoff erzählt liebevoll und komisch von einer außergewöhnlichen Familie an einem außergewöhnlichen Ort, die aneinander hängt, aber auseinandergerissen wird. Und von einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz zum 40. Geburtstag, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen? Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschich­ten produziert.
Das Buch fand ich eher zufällig und dachte mir: Auf dem Psychiatriegelände aufzuwachsen und darüber zu schreiben kann im Ergebnis nur ein gutes Buch werden.
Erst dann las ich ein wenig über den Autor nach und erfuhr, dass er Schauspieler, Regisseur, und Autor ist.
Als Schauspieler spielte er erfolgreich sein Programm: Alle Toten fliegen hoch ( in 6 Teile unterteilt). Hier wird seine eigene Geschichte bzw. die Geschichte seiner Eltern und Großeltern erzählt. Aus dem Programm entstand der (preisgekrönte) Roman „Amerika“ als Band 1 der Romanserie:
Band 1: Amerika
Band 2: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie wieder war
Band 3: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Band 4: Die Zweisamkeit der Einzelgänger
Mich zog das Buch von der ersten Seite in den Bann und ich schämte mich fast darüber, dass ich eine so geringe Erwartungshaltung hatte, sondern das Buch nur auf den „Wohnort“ des Ich-Erzählers reduzieren wollte.
Ganz schnell ist es während der Besprechung geschehen, dass ich eine mehrseitige Inhaltsangabe schrieb. Ja, wie ein Schüler, der einen Aufsatz schreibt.
Beschreibe ich das Buch, müsste ich eigentlich eine Zusammenfassung des gesamten Buches schreiben. Eigentlich….. Die Erlebnisse, die Beschreibungen: Sie sind anrührend, teilweise witzig, nie beleidigend, sehr lebendig, amüsant, liebevoll.
Dieses liebevoll möchte ich an einer Szene festmachen: Der Ich-Erzähler geht gerne mit seinem Vater an den Strand. Wenn es heimgehen soll, schlägt er dem Vater immer noch vor: „Noch einen Bauchnabel voll bleiben“. Der Vater stimmt dem zu und widmet sich wieder seinem Buch. Sohnemann geht ans Meer, füllt seine Hände mit Wasser und kippt sie dem Vater in den Bauchnabel. Wenn das Wasser verdunstet ist, geht es heim.
Dementsprechend groß ist seine Angst, als sein Vater plötzlich von Plänen erzählt, um abzunehmen: Was geschieht dann mit dem Bauchnabel? Wird dieser kleiner? Verkürzt es zukünftig die Badezeit?
Auf den ersten Blick ein sehr heiteres Buch, aber nicht nur. Es ist tragisch, es ist komisch, es ist traurig. Denn auch vor dem Tod wird in dem Buch nicht halt gemacht.
In„Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals war“ wird nicht chronologisch erzählt. Es ist ein Buch über eine Kindheit, die voller toller und komischer Geschichten steckt. Nicht nur durch das Aufwachsen neben einer Kinder- und Jugendpsychiatrie wird plastisch dargestellt, auch die Hauptfigur in dem Buch, der Vater. Ein Vater, der eine Anstalt leitet, im Leben aber herrlich versagt. Auf dem ersten Joggingversuch nach seinem 40. Geburtstag verletzt er sich mit einem Bänderriss. Oder schafft es bei Windstille in Seenot zu geraten und währenddessen versehentlich seinen Sohn von Bord zu schlagen. Oder lädt an seinen Geburtstag nur Patienten zu sich ein. Nie geht er unter Leute, arbeitet oder ist daheim. Während der „Daheim Zeit“ sitzt er in seinem Sessel und liest und liest. Es gibt nichts, was er sich nicht erlesen hat. Macht sein Sohn eine Reise, so hielt er sich durch seine gelesenen Bücher dort bereits auf.
Der größte Teil des Buches ist von diesen lustigen, drolligen Geschichten geprägt. Man lacht mit, amüsiert sich und denkt manchmal, dass es in dieser Form nicht geschehen sein kann. Wie kann es sein, dass der Erzähler am besten bei dem aus der Anstalt herüberwehendem Gebrüll einschlafen kann?
Es wird auch über ernste Momente geschrieben. Der Tod kommt ins Spiel, der Erzähler wird älter, und die Familie entwickelt sich in eine Richtung, die man vorher nicht erwartet hat.
Mir kam das ein wenig zu plötzlich, da ich weiter auf heitere, wenn auch manchmal nachdenkliche, Erzählmomente eingestellt war. Aber Eltern und somit auch sein von Lebensfreude und Übergewicht geprägter Vater werden älter. Und krank.Dem Buch tut es keinen Abbruch, beschreibt er den Tod des Vaters ernst, betroffen, ehrlich und liebevoll zugleich.
Ist es eine Hommage an den Vater? Ein „liebevolles“ Vaterbuch? Oder doch nur ein erinnern?
Wurde wirklich alles so erlebt oder doch ein wenig erdichtet? Man darf nicht vergessen: Joachim Meyerhoff ist Schauspieler, führt eigene Programme auf und er scheint ein kleiner Selbstdarsteller zu sein.
Mir ist es egal, denn das Buch hat mich über viele Stunden gut unterhalten.

„Read what I see“: Im Pub

In der Nähe des Eingangs sitzen wir an einem Tisch. Die Theke habe ich im Blickfeld, den Zigarettenduft in der Nase und die Musik in den Ohren. Ich sitze in einem Pub, einem urigen kleinen Irish Pub. Ein Teil der Wände ist in einem dunklem grün gestrichen, Werbeplakate zum St. Patrick´s Day zieren die Wände und grüne Lamellen hängen vereinzelt von der Decke herab. Kleeblätter als Dekoration erfüllen für manch einen Klischees. Die Stimmung ist gut. Liegt es an der reichlichen Whiskeyauswahl oder an der Live-Musik oder an der Wirtin? Ein jeder wirkt entspannt. An der Theke sitzen Frauen mit der Zigarette in der Hand, ihre Handtaschen haben sie an den kleinen Haken unter dem Tresen aufgehängt. Sie schauen in die Richtung des Musikers, der gerade „Nothing else matters“ covered. Nicht nur sie singen die Zeilen, die sie kennen, mit. Ich nippe an meinem Guiness. Dem Wunsch nach einem kleinen Bier wurde entsprochen und ein Glas mit 0,4l serviert. Innerlich schmunzele ich über die hier eingesetzte Definition von klein. Es stört  mich nicht. Im Gegenteil, es passt hierher. Der Baileys im kleinen Cognacschwenker schwimmt über einem Eiswürfel und schmeckt in der Kombination mit dem leicht bitteren Guiness extra lecker. Meine Tischnachbarn singen ebenfalls mit. Es geht weniger darum den Ton zu treffen, als sein sich wohl fühlen über die Lautstärke des Gesangs und dem sich mitwiegen zur Musik öffentlich zu zeigen.
Links in den Nischen sitzen, auf den alten Sitzbänken mit aufgeschlagenen Kissen, junge und alte Gäste nebeneinander. Auch hier wird mitgesungen und geraucht. Rechts von uns tanzen ein Mann und eine Frau. Sie scheint nicht mehr ganz nüchtern zu sein und den Tanz umso mehr zu genießen. Ihre Augen leuchten und die Asche ihrer Zigarette fällt zu Boden, während sie die Hüften wiegt. In der Nähe der Theke ist die Stimmung nicht leiser. Es wird mitgesungen, getrunken und geraucht. Ein Gefühl von Gemeinsamkeit und Toleranz herrscht vor. Nur ein Open Fire Place und der Duft nach Torf fehlen, um sich wie in einem Pub an der irischen Küste zu fühlen. Hier redet jeder mit jedem, es wird geduzt und die aufmerksame Wirtin kümmert sich um alle. Die eine oder andere Runde wird spendiert. Die von ihr und dem Kellner getragenen Guiness T-Shirts benötigen sie nicht, um sich als „Mitarbeiter“ zu erkennen zu geben. Sie sind Gastgeber und vermitteln dieses Gefühl durch und durch. Sie sind Gastgeber in ihrem Wohnzimmer.
Schaue ich mich um, sehe ich Menschen, die Zufriedenheit ausstrahlen. Es gibt niemanden, der nicht lächelt oder gar schweigsam ist. Sie scheinen sich über den gelungenen Abend, der allmählich in die Nacht übergeht zu freuen.
Und fühlen sich, mit mir zusammen, angenommen und sauwohl im WohnzimmerPub.